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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

sie durch ihre Bündnispolitik im Krieg genötigt worden sind, im Widerspruch
mit ihrer jahrzehntelang betriebenen Orientpolitik, Rußland die stets versagte
Öffnung der Dardanellen nicht nur zu gestatten, sondern sogar unter ungeheuren
Opfern selbst zu versuchen, ihm den Weg ins Mittelmeer zu bahnen. Im
übrigen ist es England gelungen, seine Übermacht zur See so stark zu halten,
daß es uns von unseren Kolonien abschneiden und sie größtenteils, unterstützt
von Japan, besetzen und unseren Seehandel dank seiner willkürlichen Auslegung
des Kaperrechts abgesehen von der Ostsee überall lahmlegen konnte. Die Neu¬
tralen haben sich als machtlos erwiesen, ihre Rechte zu schützen. Dagegen hat
England für die im Fall eines militärischen Zusammenstoßes jedenfalls ursprüng¬
lich in Aussicht genommene sofortige Zerstörung unserer Flotte den Krieg zu
spät begonnen. Es mußte Verluste fürchten, die auch im Falle eines Sieges
sein Übergewicht zur See dauernd beeinträchtigt hätten. In Englands innerer
Politik führte der Krieg mit der Bildung eines Koalitionsministeriums eine
weitere einschneidende Änderung seines Regierungssystems herbei, das sich immer
mehr dem der jüngeren parlamentarisch regierten Länder nähert. Frankreichs
Kriegsziel war zugestandenermaßen in erster Linie die Wiedereroberung von
Elsaß und Lothringen. Erreicht hat es bisher den Gewinn des zehnten Teiles
dieser Provinzen, dafür aber den zehnten Teil seines gesamten Landes verloren.
Eine so lang dauernde und umfangreiche Besetzung französischer Landesteile hat
seit den englisch-französischen Kämpfen im 14. und 15. Jahrhundert nicht mehr
stattgefunden. Von den besetzten Provinzen gehört Artois mit Lille und Courtai
seit 1669 zu Frankreich; das übrige Gebiet ist von jeher französisch gewesen.
Weit früher als in England ist in Frankreich versucht wurden, durch ein Koa¬
litionsministerium den Parteihader auszuschalten. Persönlichkeiten aller Parteien,
sogar die Feinde der bestehenden Staatsform, die Monarchisten, haben sofort
nach Ausbruch des Krieges durch den Eintritt in das Ministerium die Verant-
wortung mit übernommen, und so ist von den Staatslenkern geschickt dem vor¬
gebeugt worden, daß ihnen im Falle eines unglücklichen Verlaufs des Krieges
ein ähnliches Schicksal wie der Regierung von 1870 bereitet werden könnte.
Rußland ist nach anfänglichem Erfolg gegen Österreich-Ungarn fast genau auf
die Landesgrenzen von 1793 (nach der zweiten polnischen Teilung) zurück-
gedrängt worden. Bei der Erreichung seines zweiten Hauptzieles, der Erobe¬
rung Konstantinopels und der Dardanellen mit wesentlichen Kräften mitzuwirken,
ist es bis jetzt außerstande gewesen. Ähnlich vermochte Italien slay bisher nur
gegen einen Gegner zu wenden; den Kriegserklärungen gegen die Türkei und
Bulgarien konnte es bis jetzt -- zwei bezw. vier Monate nach Erlaß derselben
-- keine Taten folgen lassen. Seine Kriegsziele vermochte es bisher nirgends
zu erreichen. Belgien verlor im Kriege die allerdings nur 84 Jahre -- eine
im Lauf der Weltgeschichte verschwindend kurze Zeit -- innegehabte Selbst-
ständigkeit. Sein Schicksal erinnert daran, welche Bedenken und Schwierig¬
keiten schon bei seiner Begründung als Königreich auftauchten. Es wurde jetzt


Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

sie durch ihre Bündnispolitik im Krieg genötigt worden sind, im Widerspruch
mit ihrer jahrzehntelang betriebenen Orientpolitik, Rußland die stets versagte
Öffnung der Dardanellen nicht nur zu gestatten, sondern sogar unter ungeheuren
Opfern selbst zu versuchen, ihm den Weg ins Mittelmeer zu bahnen. Im
übrigen ist es England gelungen, seine Übermacht zur See so stark zu halten,
daß es uns von unseren Kolonien abschneiden und sie größtenteils, unterstützt
von Japan, besetzen und unseren Seehandel dank seiner willkürlichen Auslegung
des Kaperrechts abgesehen von der Ostsee überall lahmlegen konnte. Die Neu¬
tralen haben sich als machtlos erwiesen, ihre Rechte zu schützen. Dagegen hat
England für die im Fall eines militärischen Zusammenstoßes jedenfalls ursprüng¬
lich in Aussicht genommene sofortige Zerstörung unserer Flotte den Krieg zu
spät begonnen. Es mußte Verluste fürchten, die auch im Falle eines Sieges
sein Übergewicht zur See dauernd beeinträchtigt hätten. In Englands innerer
Politik führte der Krieg mit der Bildung eines Koalitionsministeriums eine
weitere einschneidende Änderung seines Regierungssystems herbei, das sich immer
mehr dem der jüngeren parlamentarisch regierten Länder nähert. Frankreichs
Kriegsziel war zugestandenermaßen in erster Linie die Wiedereroberung von
Elsaß und Lothringen. Erreicht hat es bisher den Gewinn des zehnten Teiles
dieser Provinzen, dafür aber den zehnten Teil seines gesamten Landes verloren.
Eine so lang dauernde und umfangreiche Besetzung französischer Landesteile hat
seit den englisch-französischen Kämpfen im 14. und 15. Jahrhundert nicht mehr
stattgefunden. Von den besetzten Provinzen gehört Artois mit Lille und Courtai
seit 1669 zu Frankreich; das übrige Gebiet ist von jeher französisch gewesen.
Weit früher als in England ist in Frankreich versucht wurden, durch ein Koa¬
litionsministerium den Parteihader auszuschalten. Persönlichkeiten aller Parteien,
sogar die Feinde der bestehenden Staatsform, die Monarchisten, haben sofort
nach Ausbruch des Krieges durch den Eintritt in das Ministerium die Verant-
wortung mit übernommen, und so ist von den Staatslenkern geschickt dem vor¬
gebeugt worden, daß ihnen im Falle eines unglücklichen Verlaufs des Krieges
ein ähnliches Schicksal wie der Regierung von 1870 bereitet werden könnte.
Rußland ist nach anfänglichem Erfolg gegen Österreich-Ungarn fast genau auf
die Landesgrenzen von 1793 (nach der zweiten polnischen Teilung) zurück-
gedrängt worden. Bei der Erreichung seines zweiten Hauptzieles, der Erobe¬
rung Konstantinopels und der Dardanellen mit wesentlichen Kräften mitzuwirken,
ist es bis jetzt außerstande gewesen. Ähnlich vermochte Italien slay bisher nur
gegen einen Gegner zu wenden; den Kriegserklärungen gegen die Türkei und
Bulgarien konnte es bis jetzt — zwei bezw. vier Monate nach Erlaß derselben
— keine Taten folgen lassen. Seine Kriegsziele vermochte es bisher nirgends
zu erreichen. Belgien verlor im Kriege die allerdings nur 84 Jahre — eine
im Lauf der Weltgeschichte verschwindend kurze Zeit — innegehabte Selbst-
ständigkeit. Sein Schicksal erinnert daran, welche Bedenken und Schwierig¬
keiten schon bei seiner Begründung als Königreich auftauchten. Es wurde jetzt


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[0035] Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit sie durch ihre Bündnispolitik im Krieg genötigt worden sind, im Widerspruch mit ihrer jahrzehntelang betriebenen Orientpolitik, Rußland die stets versagte Öffnung der Dardanellen nicht nur zu gestatten, sondern sogar unter ungeheuren Opfern selbst zu versuchen, ihm den Weg ins Mittelmeer zu bahnen. Im übrigen ist es England gelungen, seine Übermacht zur See so stark zu halten, daß es uns von unseren Kolonien abschneiden und sie größtenteils, unterstützt von Japan, besetzen und unseren Seehandel dank seiner willkürlichen Auslegung des Kaperrechts abgesehen von der Ostsee überall lahmlegen konnte. Die Neu¬ tralen haben sich als machtlos erwiesen, ihre Rechte zu schützen. Dagegen hat England für die im Fall eines militärischen Zusammenstoßes jedenfalls ursprüng¬ lich in Aussicht genommene sofortige Zerstörung unserer Flotte den Krieg zu spät begonnen. Es mußte Verluste fürchten, die auch im Falle eines Sieges sein Übergewicht zur See dauernd beeinträchtigt hätten. In Englands innerer Politik führte der Krieg mit der Bildung eines Koalitionsministeriums eine weitere einschneidende Änderung seines Regierungssystems herbei, das sich immer mehr dem der jüngeren parlamentarisch regierten Länder nähert. Frankreichs Kriegsziel war zugestandenermaßen in erster Linie die Wiedereroberung von Elsaß und Lothringen. Erreicht hat es bisher den Gewinn des zehnten Teiles dieser Provinzen, dafür aber den zehnten Teil seines gesamten Landes verloren. Eine so lang dauernde und umfangreiche Besetzung französischer Landesteile hat seit den englisch-französischen Kämpfen im 14. und 15. Jahrhundert nicht mehr stattgefunden. Von den besetzten Provinzen gehört Artois mit Lille und Courtai seit 1669 zu Frankreich; das übrige Gebiet ist von jeher französisch gewesen. Weit früher als in England ist in Frankreich versucht wurden, durch ein Koa¬ litionsministerium den Parteihader auszuschalten. Persönlichkeiten aller Parteien, sogar die Feinde der bestehenden Staatsform, die Monarchisten, haben sofort nach Ausbruch des Krieges durch den Eintritt in das Ministerium die Verant- wortung mit übernommen, und so ist von den Staatslenkern geschickt dem vor¬ gebeugt worden, daß ihnen im Falle eines unglücklichen Verlaufs des Krieges ein ähnliches Schicksal wie der Regierung von 1870 bereitet werden könnte. Rußland ist nach anfänglichem Erfolg gegen Österreich-Ungarn fast genau auf die Landesgrenzen von 1793 (nach der zweiten polnischen Teilung) zurück- gedrängt worden. Bei der Erreichung seines zweiten Hauptzieles, der Erobe¬ rung Konstantinopels und der Dardanellen mit wesentlichen Kräften mitzuwirken, ist es bis jetzt außerstande gewesen. Ähnlich vermochte Italien slay bisher nur gegen einen Gegner zu wenden; den Kriegserklärungen gegen die Türkei und Bulgarien konnte es bis jetzt — zwei bezw. vier Monate nach Erlaß derselben — keine Taten folgen lassen. Seine Kriegsziele vermochte es bisher nirgends zu erreichen. Belgien verlor im Kriege die allerdings nur 84 Jahre — eine im Lauf der Weltgeschichte verschwindend kurze Zeit — innegehabte Selbst- ständigkeit. Sein Schicksal erinnert daran, welche Bedenken und Schwierig¬ keiten schon bei seiner Begründung als Königreich auftauchten. Es wurde jetzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/35>, abgerufen am 15.01.2025.