Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Schleiermacher als Patriot

und will auf einer Reise sich ein Stück Deutschland darauf ansehen, ob man
da wohl leben könne, für den Fall, daß es schief gehe*).

Schleiermacher war kein eigentlicher Volksredner. Nicht die gewaltig dahin
rauschenden Worte, mit denen Fichte seine Hörer zur Begeisterung fortriß, waren
seine Gabe. Vielmehr in wohlgebauten aber langen Sätzen, die uns heute
fremd anmuten und die wir oft zweimal lesen müssen, ehe wir ihren Zusammen¬
hang fassen, im nüchternen Stil, der das Gepräge ernsten Denkens trug, sprach
er zu seinen Hörern, nicht bloß im Kolleg, sondern auch von der Kanzel. Aber
wir müssen bedenken, die Dinge, die er hier ausspricht, und die wir in kühler,
historischer Objektivität betrachen, wogten damals in den Herzen und Köpfen,
und auf die zu sonntäglicher Sammlung in das Gotteshaus gekommenen
Hörer mußte diese ruhige, alles in das Licht des Gedankens rückende Art der
Predigt klärend und beruhigend wirken. War es auch nicht die Volksmenge,
welche er hierdurch erreichte, so sammelte sich doch eine auserwählte Gemeinde
der Besten aus allen Ständen um feine Kanzel. Humoristisch schildert Schleier¬
macher sein Predigtpublikum: "Bunter ist wohl kein Auditorium: Herrenhuter.
Juden, getaufte und umgetaufte, junge Philologen und Philosophen, elegante
Damen, und das schöne Bild vom heiligen Antonius muß mir immer vor¬
schweben." So erzählt sein Freund Steffens von seiner Kanzelwirksamkeit: "Es
gibt keinen, der wie er die Gesinnungen der Einwohner hob und regierte;
Berlin ward durch ihn ein ganz andres. Sein mächtiger, frischer, stets reger
Geist war einem kühnen Heere gleich in dieser trüben Zeit." Als Preußens
größter Staatsmann geächtet im Schlitten über die Grenze fliehen mußte, da
dachte er an die Neujahrspredigt Schleiermachers über das Thema: "Was der
Mensch zu fürchten habe, und was nicht zu fürchten sei", die er am letzten
Neujahrstage noch mit den Semen gelesen hatte, und "Stein sah die Sterne
wieder."

Uns, die wir im Stolze auf das deutsche Vaterland aufgewachsen sind,
und denen es nun, in der Stunde der Gefahr doppelt zum Bewußtsein kommt,
welche hohen Güter wir verteidigen, uns wollen die Gedanken Schleiermachers
leicht als etwas Selbstverständliches vorkommen. So würde heute ein jeder
reden müssen, der zu den Edlen seiner Nation zu gehören, Anspruch machte.
So war es aber durchaus nicht in jener Zeit. Die großen Patrioten, die wir
heute feiern, waren vielfach die Prediger in der Wüste. Wie wenig der vater¬
ländische Gedanke zu dem selbstverständlichen idealistischen Höhenflug der da¬
maligen Zeit gehörte, das sehen wir an Geistesheroen, wie Hegel, der Napoleon
als die "Weltseele" begrüßte, und an Goethes Verhalten zu Napoleon und zu
nationalen Fragen. Wie ganz anders hat Schleiermacher die Hohlheit dieses
Günstlings des Zufalls durchschaut, wenn er in einem Briefe aus dem Jahre 1807



*) Vgl. den Aufsatz "Schleiermacher in politischer Verfolgung" von Prof. Wendland in
Heft 19 des Jahres 1912 der Grenzboten.
Schleiermacher als Patriot

und will auf einer Reise sich ein Stück Deutschland darauf ansehen, ob man
da wohl leben könne, für den Fall, daß es schief gehe*).

Schleiermacher war kein eigentlicher Volksredner. Nicht die gewaltig dahin
rauschenden Worte, mit denen Fichte seine Hörer zur Begeisterung fortriß, waren
seine Gabe. Vielmehr in wohlgebauten aber langen Sätzen, die uns heute
fremd anmuten und die wir oft zweimal lesen müssen, ehe wir ihren Zusammen¬
hang fassen, im nüchternen Stil, der das Gepräge ernsten Denkens trug, sprach
er zu seinen Hörern, nicht bloß im Kolleg, sondern auch von der Kanzel. Aber
wir müssen bedenken, die Dinge, die er hier ausspricht, und die wir in kühler,
historischer Objektivität betrachen, wogten damals in den Herzen und Köpfen,
und auf die zu sonntäglicher Sammlung in das Gotteshaus gekommenen
Hörer mußte diese ruhige, alles in das Licht des Gedankens rückende Art der
Predigt klärend und beruhigend wirken. War es auch nicht die Volksmenge,
welche er hierdurch erreichte, so sammelte sich doch eine auserwählte Gemeinde
der Besten aus allen Ständen um feine Kanzel. Humoristisch schildert Schleier¬
macher sein Predigtpublikum: „Bunter ist wohl kein Auditorium: Herrenhuter.
Juden, getaufte und umgetaufte, junge Philologen und Philosophen, elegante
Damen, und das schöne Bild vom heiligen Antonius muß mir immer vor¬
schweben." So erzählt sein Freund Steffens von seiner Kanzelwirksamkeit: „Es
gibt keinen, der wie er die Gesinnungen der Einwohner hob und regierte;
Berlin ward durch ihn ein ganz andres. Sein mächtiger, frischer, stets reger
Geist war einem kühnen Heere gleich in dieser trüben Zeit." Als Preußens
größter Staatsmann geächtet im Schlitten über die Grenze fliehen mußte, da
dachte er an die Neujahrspredigt Schleiermachers über das Thema: „Was der
Mensch zu fürchten habe, und was nicht zu fürchten sei", die er am letzten
Neujahrstage noch mit den Semen gelesen hatte, und „Stein sah die Sterne
wieder."

Uns, die wir im Stolze auf das deutsche Vaterland aufgewachsen sind,
und denen es nun, in der Stunde der Gefahr doppelt zum Bewußtsein kommt,
welche hohen Güter wir verteidigen, uns wollen die Gedanken Schleiermachers
leicht als etwas Selbstverständliches vorkommen. So würde heute ein jeder
reden müssen, der zu den Edlen seiner Nation zu gehören, Anspruch machte.
So war es aber durchaus nicht in jener Zeit. Die großen Patrioten, die wir
heute feiern, waren vielfach die Prediger in der Wüste. Wie wenig der vater¬
ländische Gedanke zu dem selbstverständlichen idealistischen Höhenflug der da¬
maligen Zeit gehörte, das sehen wir an Geistesheroen, wie Hegel, der Napoleon
als die „Weltseele" begrüßte, und an Goethes Verhalten zu Napoleon und zu
nationalen Fragen. Wie ganz anders hat Schleiermacher die Hohlheit dieses
Günstlings des Zufalls durchschaut, wenn er in einem Briefe aus dem Jahre 1807



*) Vgl. den Aufsatz „Schleiermacher in politischer Verfolgung" von Prof. Wendland in
Heft 19 des Jahres 1912 der Grenzboten.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0330" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329998"/>
          <fw type="header" place="top"> Schleiermacher als Patriot</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1076" prev="#ID_1075"> und will auf einer Reise sich ein Stück Deutschland darauf ansehen, ob man<lb/>
da wohl leben könne, für den Fall, daß es schief gehe*).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1077"> Schleiermacher war kein eigentlicher Volksredner.  Nicht die gewaltig dahin<lb/>
rauschenden Worte, mit denen Fichte seine Hörer zur Begeisterung fortriß, waren<lb/>
seine Gabe.  Vielmehr in wohlgebauten aber langen Sätzen, die uns heute<lb/>
fremd anmuten und die wir oft zweimal lesen müssen, ehe wir ihren Zusammen¬<lb/>
hang fassen, im nüchternen Stil, der das Gepräge ernsten Denkens trug, sprach<lb/>
er zu seinen Hörern, nicht bloß im Kolleg, sondern auch von der Kanzel. Aber<lb/>
wir müssen bedenken, die Dinge, die er hier ausspricht, und die wir in kühler,<lb/>
historischer Objektivität betrachen, wogten damals in den Herzen und Köpfen,<lb/>
und auf die zu sonntäglicher Sammlung in das Gotteshaus gekommenen<lb/>
Hörer mußte diese ruhige, alles in das Licht des Gedankens rückende Art der<lb/>
Predigt klärend und beruhigend wirken.  War es auch nicht die Volksmenge,<lb/>
welche er hierdurch erreichte, so sammelte sich doch eine auserwählte Gemeinde<lb/>
der Besten aus allen Ständen um feine Kanzel. Humoristisch schildert Schleier¬<lb/>
macher sein Predigtpublikum: &#x201E;Bunter ist wohl kein Auditorium: Herrenhuter.<lb/>
Juden, getaufte und umgetaufte, junge Philologen und Philosophen, elegante<lb/>
Damen, und das schöne Bild vom heiligen Antonius muß mir immer vor¬<lb/>
schweben."  So erzählt sein Freund Steffens von seiner Kanzelwirksamkeit: &#x201E;Es<lb/>
gibt keinen, der wie er die Gesinnungen der Einwohner hob und regierte;<lb/>
Berlin ward durch ihn ein ganz andres.  Sein mächtiger, frischer, stets reger<lb/>
Geist war einem kühnen Heere gleich in dieser trüben Zeit." Als Preußens<lb/>
größter Staatsmann geächtet im Schlitten über die Grenze fliehen mußte, da<lb/>
dachte er an die Neujahrspredigt Schleiermachers über das Thema: &#x201E;Was der<lb/>
Mensch zu fürchten habe, und was nicht zu fürchten sei", die er am letzten<lb/>
Neujahrstage noch mit den Semen gelesen hatte, und &#x201E;Stein sah die Sterne<lb/>
wieder."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1078" next="#ID_1079"> Uns, die wir im Stolze auf das deutsche Vaterland aufgewachsen sind,<lb/>
und denen es nun, in der Stunde der Gefahr doppelt zum Bewußtsein kommt,<lb/>
welche hohen Güter wir verteidigen, uns wollen die Gedanken Schleiermachers<lb/>
leicht als etwas Selbstverständliches vorkommen. So würde heute ein jeder<lb/>
reden müssen, der zu den Edlen seiner Nation zu gehören, Anspruch machte.<lb/>
So war es aber durchaus nicht in jener Zeit. Die großen Patrioten, die wir<lb/>
heute feiern, waren vielfach die Prediger in der Wüste. Wie wenig der vater¬<lb/>
ländische Gedanke zu dem selbstverständlichen idealistischen Höhenflug der da¬<lb/>
maligen Zeit gehörte, das sehen wir an Geistesheroen, wie Hegel, der Napoleon<lb/>
als die &#x201E;Weltseele" begrüßte, und an Goethes Verhalten zu Napoleon und zu<lb/>
nationalen Fragen. Wie ganz anders hat Schleiermacher die Hohlheit dieses<lb/>
Günstlings des Zufalls durchschaut, wenn er in einem Briefe aus dem Jahre 1807</p><lb/>
          <note xml:id="FID_24" place="foot"> *) Vgl. den Aufsatz &#x201E;Schleiermacher in politischer Verfolgung" von Prof. Wendland in<lb/>
Heft 19 des Jahres 1912 der Grenzboten.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0330] Schleiermacher als Patriot und will auf einer Reise sich ein Stück Deutschland darauf ansehen, ob man da wohl leben könne, für den Fall, daß es schief gehe*). Schleiermacher war kein eigentlicher Volksredner. Nicht die gewaltig dahin rauschenden Worte, mit denen Fichte seine Hörer zur Begeisterung fortriß, waren seine Gabe. Vielmehr in wohlgebauten aber langen Sätzen, die uns heute fremd anmuten und die wir oft zweimal lesen müssen, ehe wir ihren Zusammen¬ hang fassen, im nüchternen Stil, der das Gepräge ernsten Denkens trug, sprach er zu seinen Hörern, nicht bloß im Kolleg, sondern auch von der Kanzel. Aber wir müssen bedenken, die Dinge, die er hier ausspricht, und die wir in kühler, historischer Objektivität betrachen, wogten damals in den Herzen und Köpfen, und auf die zu sonntäglicher Sammlung in das Gotteshaus gekommenen Hörer mußte diese ruhige, alles in das Licht des Gedankens rückende Art der Predigt klärend und beruhigend wirken. War es auch nicht die Volksmenge, welche er hierdurch erreichte, so sammelte sich doch eine auserwählte Gemeinde der Besten aus allen Ständen um feine Kanzel. Humoristisch schildert Schleier¬ macher sein Predigtpublikum: „Bunter ist wohl kein Auditorium: Herrenhuter. Juden, getaufte und umgetaufte, junge Philologen und Philosophen, elegante Damen, und das schöne Bild vom heiligen Antonius muß mir immer vor¬ schweben." So erzählt sein Freund Steffens von seiner Kanzelwirksamkeit: „Es gibt keinen, der wie er die Gesinnungen der Einwohner hob und regierte; Berlin ward durch ihn ein ganz andres. Sein mächtiger, frischer, stets reger Geist war einem kühnen Heere gleich in dieser trüben Zeit." Als Preußens größter Staatsmann geächtet im Schlitten über die Grenze fliehen mußte, da dachte er an die Neujahrspredigt Schleiermachers über das Thema: „Was der Mensch zu fürchten habe, und was nicht zu fürchten sei", die er am letzten Neujahrstage noch mit den Semen gelesen hatte, und „Stein sah die Sterne wieder." Uns, die wir im Stolze auf das deutsche Vaterland aufgewachsen sind, und denen es nun, in der Stunde der Gefahr doppelt zum Bewußtsein kommt, welche hohen Güter wir verteidigen, uns wollen die Gedanken Schleiermachers leicht als etwas Selbstverständliches vorkommen. So würde heute ein jeder reden müssen, der zu den Edlen seiner Nation zu gehören, Anspruch machte. So war es aber durchaus nicht in jener Zeit. Die großen Patrioten, die wir heute feiern, waren vielfach die Prediger in der Wüste. Wie wenig der vater¬ ländische Gedanke zu dem selbstverständlichen idealistischen Höhenflug der da¬ maligen Zeit gehörte, das sehen wir an Geistesheroen, wie Hegel, der Napoleon als die „Weltseele" begrüßte, und an Goethes Verhalten zu Napoleon und zu nationalen Fragen. Wie ganz anders hat Schleiermacher die Hohlheit dieses Günstlings des Zufalls durchschaut, wenn er in einem Briefe aus dem Jahre 1807 *) Vgl. den Aufsatz „Schleiermacher in politischer Verfolgung" von Prof. Wendland in Heft 19 des Jahres 1912 der Grenzboten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/330
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/330>, abgerufen am 15.01.2025.