Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit plutokratischen Wahlsystems kam es ebensowenig wie zu einer ersprießlichen In Italien füllten ähnlich wie in Deutschland die Einheitskämpfe den Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit plutokratischen Wahlsystems kam es ebensowenig wie zu einer ersprießlichen In Italien füllten ähnlich wie in Deutschland die Einheitskämpfe den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0033" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329699"/> <fw type="header" place="top"> Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit</fw><lb/> <p xml:id="ID_73" prev="#ID_72"> plutokratischen Wahlsystems kam es ebensowenig wie zu einer ersprießlichen<lb/> Regelung des Verhältnisses von Irland zum Reich. Am Ende der Epoche<lb/> sah sich England, wie so oft schon, wieder offener Empörung in Irland gegen¬<lb/> über. Am bemerkenswertesten ist die ebenfalls gegen Ende des Zeitabschnitts<lb/> beginnende Bewegung gegen den lang gehegten Freihandel, die mit dem Aus¬<lb/> bau des Kolonialreichs im Zusammenhang steht, und die gleichfalls hiermit zu¬<lb/> sammenhängenden Verschiebungen in dem Jahrhunderte alten Parlamentarismus.<lb/> Innerhalb der alten Parteien der Whigs und Tories vollzogen sich Spaltungen,<lb/> aus denen die Unionistenpartei hervorgegangen ist. Neben dieser begann die<lb/> Arbeiterpartei ihr Haupt zu erheben, sodaß auch eines ihrer Mitglieder in das<lb/> Whigministerium aufgenommen wurde. Und 1909 verlor das Oberhaus unter<lb/> bestimmten Bedingungen sein Vetorecht. Diese Neuerungen mögen den Beginn<lb/> weitgehender Wandlungen des altüberlieferten, parlamentarischen Regierungs¬<lb/> systems im Gefolge haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_74" next="#ID_75"> In Italien füllten ähnlich wie in Deutschland die Einheitskämpfe den<lb/> ersten Teil der Epoche aus. Doch unterscheiden sie sich sehr merkbar dadurch<lb/> von den unseren, daß Piemont-Savoyen, welches dort dieselbe Rolle spielte,<lb/> wie für uns Preußen, nur mit fremder Hilfe sein Ziel erreichen konnte und es<lb/> mit dem Verlust seines Stammlandes Savoyen an Frankreich bezahlen mußte.<lb/> Hierbei ist den italienischen Freiheitskämpfern zugute zu halten, daß sie Öster¬<lb/> reich mit zahlenmäßig weit schwächeren Kräften entgegentreten mußten als<lb/> Preußen. Aber auch der italienische Einheitsstaat ist nicht imstande gewesen,<lb/> selbständig politisch oder militärisch etwas durchzusetzen. Die Geschichte des<lb/> neuen Italiens weist die Eigentümlichkeit auf. daß sein Heer in allen Kriegen<lb/> geschlagen wurde, das Land aber infolge der Siege seiner Verbündeten oder<lb/> der allgemeinen politischen Lage demi Friedensschluß stets den gewünschten<lb/> Landzuwachs bekam, als ob es gesiegt hätte. So wurden die Italiener 1859<lb/> und 1866 von den Österreichern geschlagen, dank der Siege der Franzosen bezw.<lb/> der Preußen erhielt es 1859 die Lombardei, 1866 Venetien. 1870 räumten die<lb/> Franzosen Rom infolge der deutschen Siege, und endlich 1912 trat die Türkei<lb/> Tripolitanien infolge des Ausbruchs des ersten Balkankriegs an Italien ab,<lb/> obwohl die militärische Eroberung aussichtslos schien und bis auf den heutigen<lb/> Tag noch nicht gelungen ist. Das einzige von den Italienern allein begonnene<lb/> Unternehmen, der Kampf gegen Abessinien, endete 1896 mit einem kläglichen<lb/> Mißerfolg. Der Grund für diese Unselbständigkeit liegt offenbar in einem<lb/> starken Expansionsdrang, dem keine entsprechende innere Entwicklung und Organi-<lb/> sationssähigkeit gegenübersteht. Nach Rußland weist Italien mit die größte<lb/> Zahl der Analphabeten und die größte Auswanderungsziffer auf; ein Zeichen<lb/> rückständiger Kultur in jeder Beziehung! Aus dieser Schwäche erklärt sich die<lb/> schwankende Politik des jungen Italiens, welche Salandra mit den Worten vom<lb/> >,8aero eZolsmo" trefflich charakterisiert hat. Obwohl die tief eingewurzelte<lb/> und aus seiner früheren Geschichte begreifliche Abneigung gegen Österreich in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0033]
Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit
plutokratischen Wahlsystems kam es ebensowenig wie zu einer ersprießlichen
Regelung des Verhältnisses von Irland zum Reich. Am Ende der Epoche
sah sich England, wie so oft schon, wieder offener Empörung in Irland gegen¬
über. Am bemerkenswertesten ist die ebenfalls gegen Ende des Zeitabschnitts
beginnende Bewegung gegen den lang gehegten Freihandel, die mit dem Aus¬
bau des Kolonialreichs im Zusammenhang steht, und die gleichfalls hiermit zu¬
sammenhängenden Verschiebungen in dem Jahrhunderte alten Parlamentarismus.
Innerhalb der alten Parteien der Whigs und Tories vollzogen sich Spaltungen,
aus denen die Unionistenpartei hervorgegangen ist. Neben dieser begann die
Arbeiterpartei ihr Haupt zu erheben, sodaß auch eines ihrer Mitglieder in das
Whigministerium aufgenommen wurde. Und 1909 verlor das Oberhaus unter
bestimmten Bedingungen sein Vetorecht. Diese Neuerungen mögen den Beginn
weitgehender Wandlungen des altüberlieferten, parlamentarischen Regierungs¬
systems im Gefolge haben.
In Italien füllten ähnlich wie in Deutschland die Einheitskämpfe den
ersten Teil der Epoche aus. Doch unterscheiden sie sich sehr merkbar dadurch
von den unseren, daß Piemont-Savoyen, welches dort dieselbe Rolle spielte,
wie für uns Preußen, nur mit fremder Hilfe sein Ziel erreichen konnte und es
mit dem Verlust seines Stammlandes Savoyen an Frankreich bezahlen mußte.
Hierbei ist den italienischen Freiheitskämpfern zugute zu halten, daß sie Öster¬
reich mit zahlenmäßig weit schwächeren Kräften entgegentreten mußten als
Preußen. Aber auch der italienische Einheitsstaat ist nicht imstande gewesen,
selbständig politisch oder militärisch etwas durchzusetzen. Die Geschichte des
neuen Italiens weist die Eigentümlichkeit auf. daß sein Heer in allen Kriegen
geschlagen wurde, das Land aber infolge der Siege seiner Verbündeten oder
der allgemeinen politischen Lage demi Friedensschluß stets den gewünschten
Landzuwachs bekam, als ob es gesiegt hätte. So wurden die Italiener 1859
und 1866 von den Österreichern geschlagen, dank der Siege der Franzosen bezw.
der Preußen erhielt es 1859 die Lombardei, 1866 Venetien. 1870 räumten die
Franzosen Rom infolge der deutschen Siege, und endlich 1912 trat die Türkei
Tripolitanien infolge des Ausbruchs des ersten Balkankriegs an Italien ab,
obwohl die militärische Eroberung aussichtslos schien und bis auf den heutigen
Tag noch nicht gelungen ist. Das einzige von den Italienern allein begonnene
Unternehmen, der Kampf gegen Abessinien, endete 1896 mit einem kläglichen
Mißerfolg. Der Grund für diese Unselbständigkeit liegt offenbar in einem
starken Expansionsdrang, dem keine entsprechende innere Entwicklung und Organi-
sationssähigkeit gegenübersteht. Nach Rußland weist Italien mit die größte
Zahl der Analphabeten und die größte Auswanderungsziffer auf; ein Zeichen
rückständiger Kultur in jeder Beziehung! Aus dieser Schwäche erklärt sich die
schwankende Politik des jungen Italiens, welche Salandra mit den Worten vom
>,8aero eZolsmo" trefflich charakterisiert hat. Obwohl die tief eingewurzelte
und aus seiner früheren Geschichte begreifliche Abneigung gegen Österreich in
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