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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der internationale Gedanke

Sichtbar stand sie über den Völkern. Zur Vollendung gelangte die antike
Reichskultur dadurch, daß sie im Christentum einen religiösen Ausdruck fand.

Für die Geschichte des internationalen Gedankens und seinen eigentlichen
Sinn ist die Tatsache wichtig, daß er nicht durch nationales Denken zuerst zu
einer geistigen Macht geworden ist, sondern durch die historische Tatsache der
Existenz des Römischen Reiches. Dieses war als höheres soziales Gebilde über
den Nationen gegeben. Und weil die meisten Völker, die den antiken geogra¬
phischen Vorstellungen geläufig waren, dem Reiche angehörten, so wurde dieses
Gebilde praktisch als "Menschheit" schlechthin empfunden.

Im Mittelalter blieb dieses Stück der antiken Vorstellungswelt im wesent¬
lichen bestehen. Wenn auch das Römische Reich als Staat zerfiel, so blieb es
doch als Idee im Bewußtsein der Völker lebendig. Die geographische Grund¬
lage des Reichsgedankens verschob sich dadurch, daß auf der einen Seite die
Germanen für die römische Kultur gewonnen wurden und auf der anderen der
griechisch-slawische Osten seine eigenen Wege ging. Das Reich erfuhr eine
gründliche Wandlung und blieb doch: wahrhaftig einer der wunderbarsten Vor¬
gänge in der uns zugänglichen Menschengeschichte! Es bekam einen anderen
Raum, eine neue nationale Zusammensetzung, ja sogar einen veränderten Inhalt.
Es wurde mehr Idee als Tatsache, mehr Erinnerung als Gegenwart und blieb
doch da. Die germanischen Kaiser des Mittelalters sind etwas anderes als die
Cäsaren und fühlten sich doch als ihre legitimen Nachfolger.

Das, was man im Mittelalter Loncoräantia catkoliea, nannte, ist der
römische Reichsgedanke zwar in neuer Form, aber doch der alte Gedanke. Weil
die Reichskultur sich im katholischen Christentum bis zu einem religiösen Aus¬
druck hatte ausreifen können, bestand sie als geistiges Wesen weiter, als die
politische Schale zerbrach. Der Reichsgedanke wurde zum katholischen Gedanken,
und der katholische Gedanke damit zur zeitgemäßen Form des internationalen
Gedankens überhaupt. Wie schon hervorgehoben, hatte es keinen praktisch wirk¬
samen Menschheitsbegriff gegeben, der Chinesen oder Indianer einschloß. "Mensch¬
heit" waren die Völker des Imperium Komanum gewesen, demzufolge hieß
es jetzt im Mittelalter: die Bekenner des römischen Christentums. Die griechische
Kirche ging ihre eigenen Wege, und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit
(Rückbildung zur Naturalwirtschaft, infolgedessen starke Einschränkung des Ver¬
kehrs) machten eine derartige Verengerung des geographischen Horizonts möglich,
daß eine wirkliche Kluft zwischen Ost und West die Kirchenscheidung zu einem
Kulturbedürfnis der Zeit machte. Abendland und Morgenland wurden jedes
abgeschlossene Welten für sich, und erst in der Kreuzzugszeit gab es Veranlassung,
darüber nachzudenken, daß auch jenseits des Bereichs der katholischen Kirche
Menschen da wären, neben denen man unter Umständen leben lernen müsse.

Damit bereitete sich schon die Zeit vor, wo die abendländische Kultur aus
dem kirchlichen Gehege hinausdrängte. Die seit der Kreuzzugszeit einsetzende
Entdeckung der Erde durchbrach die Schranken des bisherigen Gesichtskreises,


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Der internationale Gedanke

Sichtbar stand sie über den Völkern. Zur Vollendung gelangte die antike
Reichskultur dadurch, daß sie im Christentum einen religiösen Ausdruck fand.

Für die Geschichte des internationalen Gedankens und seinen eigentlichen
Sinn ist die Tatsache wichtig, daß er nicht durch nationales Denken zuerst zu
einer geistigen Macht geworden ist, sondern durch die historische Tatsache der
Existenz des Römischen Reiches. Dieses war als höheres soziales Gebilde über
den Nationen gegeben. Und weil die meisten Völker, die den antiken geogra¬
phischen Vorstellungen geläufig waren, dem Reiche angehörten, so wurde dieses
Gebilde praktisch als „Menschheit" schlechthin empfunden.

Im Mittelalter blieb dieses Stück der antiken Vorstellungswelt im wesent¬
lichen bestehen. Wenn auch das Römische Reich als Staat zerfiel, so blieb es
doch als Idee im Bewußtsein der Völker lebendig. Die geographische Grund¬
lage des Reichsgedankens verschob sich dadurch, daß auf der einen Seite die
Germanen für die römische Kultur gewonnen wurden und auf der anderen der
griechisch-slawische Osten seine eigenen Wege ging. Das Reich erfuhr eine
gründliche Wandlung und blieb doch: wahrhaftig einer der wunderbarsten Vor¬
gänge in der uns zugänglichen Menschengeschichte! Es bekam einen anderen
Raum, eine neue nationale Zusammensetzung, ja sogar einen veränderten Inhalt.
Es wurde mehr Idee als Tatsache, mehr Erinnerung als Gegenwart und blieb
doch da. Die germanischen Kaiser des Mittelalters sind etwas anderes als die
Cäsaren und fühlten sich doch als ihre legitimen Nachfolger.

Das, was man im Mittelalter Loncoräantia catkoliea, nannte, ist der
römische Reichsgedanke zwar in neuer Form, aber doch der alte Gedanke. Weil
die Reichskultur sich im katholischen Christentum bis zu einem religiösen Aus¬
druck hatte ausreifen können, bestand sie als geistiges Wesen weiter, als die
politische Schale zerbrach. Der Reichsgedanke wurde zum katholischen Gedanken,
und der katholische Gedanke damit zur zeitgemäßen Form des internationalen
Gedankens überhaupt. Wie schon hervorgehoben, hatte es keinen praktisch wirk¬
samen Menschheitsbegriff gegeben, der Chinesen oder Indianer einschloß. „Mensch¬
heit" waren die Völker des Imperium Komanum gewesen, demzufolge hieß
es jetzt im Mittelalter: die Bekenner des römischen Christentums. Die griechische
Kirche ging ihre eigenen Wege, und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit
(Rückbildung zur Naturalwirtschaft, infolgedessen starke Einschränkung des Ver¬
kehrs) machten eine derartige Verengerung des geographischen Horizonts möglich,
daß eine wirkliche Kluft zwischen Ost und West die Kirchenscheidung zu einem
Kulturbedürfnis der Zeit machte. Abendland und Morgenland wurden jedes
abgeschlossene Welten für sich, und erst in der Kreuzzugszeit gab es Veranlassung,
darüber nachzudenken, daß auch jenseits des Bereichs der katholischen Kirche
Menschen da wären, neben denen man unter Umständen leben lernen müsse.

Damit bereitete sich schon die Zeit vor, wo die abendländische Kultur aus
dem kirchlichen Gehege hinausdrängte. Die seit der Kreuzzugszeit einsetzende
Entdeckung der Erde durchbrach die Schranken des bisherigen Gesichtskreises,


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[0303] Der internationale Gedanke Sichtbar stand sie über den Völkern. Zur Vollendung gelangte die antike Reichskultur dadurch, daß sie im Christentum einen religiösen Ausdruck fand. Für die Geschichte des internationalen Gedankens und seinen eigentlichen Sinn ist die Tatsache wichtig, daß er nicht durch nationales Denken zuerst zu einer geistigen Macht geworden ist, sondern durch die historische Tatsache der Existenz des Römischen Reiches. Dieses war als höheres soziales Gebilde über den Nationen gegeben. Und weil die meisten Völker, die den antiken geogra¬ phischen Vorstellungen geläufig waren, dem Reiche angehörten, so wurde dieses Gebilde praktisch als „Menschheit" schlechthin empfunden. Im Mittelalter blieb dieses Stück der antiken Vorstellungswelt im wesent¬ lichen bestehen. Wenn auch das Römische Reich als Staat zerfiel, so blieb es doch als Idee im Bewußtsein der Völker lebendig. Die geographische Grund¬ lage des Reichsgedankens verschob sich dadurch, daß auf der einen Seite die Germanen für die römische Kultur gewonnen wurden und auf der anderen der griechisch-slawische Osten seine eigenen Wege ging. Das Reich erfuhr eine gründliche Wandlung und blieb doch: wahrhaftig einer der wunderbarsten Vor¬ gänge in der uns zugänglichen Menschengeschichte! Es bekam einen anderen Raum, eine neue nationale Zusammensetzung, ja sogar einen veränderten Inhalt. Es wurde mehr Idee als Tatsache, mehr Erinnerung als Gegenwart und blieb doch da. Die germanischen Kaiser des Mittelalters sind etwas anderes als die Cäsaren und fühlten sich doch als ihre legitimen Nachfolger. Das, was man im Mittelalter Loncoräantia catkoliea, nannte, ist der römische Reichsgedanke zwar in neuer Form, aber doch der alte Gedanke. Weil die Reichskultur sich im katholischen Christentum bis zu einem religiösen Aus¬ druck hatte ausreifen können, bestand sie als geistiges Wesen weiter, als die politische Schale zerbrach. Der Reichsgedanke wurde zum katholischen Gedanken, und der katholische Gedanke damit zur zeitgemäßen Form des internationalen Gedankens überhaupt. Wie schon hervorgehoben, hatte es keinen praktisch wirk¬ samen Menschheitsbegriff gegeben, der Chinesen oder Indianer einschloß. „Mensch¬ heit" waren die Völker des Imperium Komanum gewesen, demzufolge hieß es jetzt im Mittelalter: die Bekenner des römischen Christentums. Die griechische Kirche ging ihre eigenen Wege, und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit (Rückbildung zur Naturalwirtschaft, infolgedessen starke Einschränkung des Ver¬ kehrs) machten eine derartige Verengerung des geographischen Horizonts möglich, daß eine wirkliche Kluft zwischen Ost und West die Kirchenscheidung zu einem Kulturbedürfnis der Zeit machte. Abendland und Morgenland wurden jedes abgeschlossene Welten für sich, und erst in der Kreuzzugszeit gab es Veranlassung, darüber nachzudenken, daß auch jenseits des Bereichs der katholischen Kirche Menschen da wären, neben denen man unter Umständen leben lernen müsse. Damit bereitete sich schon die Zeit vor, wo die abendländische Kultur aus dem kirchlichen Gehege hinausdrängte. Die seit der Kreuzzugszeit einsetzende Entdeckung der Erde durchbrach die Schranken des bisherigen Gesichtskreises, 10*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/303>, abgerufen am 15.01.2025.