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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Richtungen der Psychologie

Willensprozessen zugewandt, die, wie wir früher sahen, ihr ganz verschlossen zu
sein schienen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß hier nichts
anderes als eine geordnete Selbstbeobachtung vorliegt, mit der Ergänzung, daß
ein psychologisch geschulter Versuchsleiter bestimmte Anordnungen dazu erteilt,
zeitliche Messungen ausführt und die Berichte des Selbstbeobachters protokolliert.
Will man die so gewonnenen Angaben der "Denk- und Willenspsychologie" zur
experimentellen Wissenschaft rechnen, so kann dies wohl in sehr erweitertem
Sinne geschehen; man darf sich aber nicht verschweigen, daß damit der Unter¬
schied zwischen der experimentellen und der bekämpften Psychologie der Selbst¬
beobachtung zusammengeschrumpft ist auf ein äußerlich exakteres Jnswerksetzen
und ein genaueres, keineswegs aber gegen Fehlangaben geschütztes Protokollieren.

Nur flüchtig kann der mit den Fortschritten der psychologischen Forschung
vielseitig verbundenen psychologischen Hilfswissenschaften Erwähnung getan werden.
Auch für sie ergibt sich bei der Gesamtbetrachtung, daß die objektive, experimentelle
Richtung der analysierenden Selbstbeobachtung und Einfühlung nicht entbehren
kann, und sie, sei es bewußt, sei es unbewußt, zu Hilfe nimmt.

Als solche Hilfszweige gelten die Völkerpsychologie, die Psychopathologie,
die hypnotische Wissenschaft, die Tierpsychologie, die Kriminalpsychologie, ferner
die differentielle und die Kinderpsychologie, von denen die beiden letzten, wie
übrigens auch die Psychologie der Aussage, mit dem Namen W. Sterns eng
verknüpft sind. Während die Psychologie von den individuellen Besonderheiten
noch ein unabsehbares Arbeitsgebiet vor sich hat, vermochte Stern, der nach
Preyers Vorbild an seinen eigenen Kindern sorgfältige Beobachtungen, gemeinsam
mit seiner Frau systematisch durchführte, in einem 1914 erschienenen Werk "Psycho¬
logie der frühen Kindheit" (Quelle u. Meyer, Leipzig), eine zusammenfassende,
treffliche Übersicht der Psychologie des Kindes bis zum sechsten Lebensjahr zu
geben, und darin auch weiteren Kreisen den praktischen Nutzen der Forschung für
eine auf gerechten Grundlagen aufgebaute intellektuelle und sittliche Erziehung
zu zeigen.




Richtungen der Psychologie

Willensprozessen zugewandt, die, wie wir früher sahen, ihr ganz verschlossen zu
sein schienen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß hier nichts
anderes als eine geordnete Selbstbeobachtung vorliegt, mit der Ergänzung, daß
ein psychologisch geschulter Versuchsleiter bestimmte Anordnungen dazu erteilt,
zeitliche Messungen ausführt und die Berichte des Selbstbeobachters protokolliert.
Will man die so gewonnenen Angaben der „Denk- und Willenspsychologie" zur
experimentellen Wissenschaft rechnen, so kann dies wohl in sehr erweitertem
Sinne geschehen; man darf sich aber nicht verschweigen, daß damit der Unter¬
schied zwischen der experimentellen und der bekämpften Psychologie der Selbst¬
beobachtung zusammengeschrumpft ist auf ein äußerlich exakteres Jnswerksetzen
und ein genaueres, keineswegs aber gegen Fehlangaben geschütztes Protokollieren.

Nur flüchtig kann der mit den Fortschritten der psychologischen Forschung
vielseitig verbundenen psychologischen Hilfswissenschaften Erwähnung getan werden.
Auch für sie ergibt sich bei der Gesamtbetrachtung, daß die objektive, experimentelle
Richtung der analysierenden Selbstbeobachtung und Einfühlung nicht entbehren
kann, und sie, sei es bewußt, sei es unbewußt, zu Hilfe nimmt.

Als solche Hilfszweige gelten die Völkerpsychologie, die Psychopathologie,
die hypnotische Wissenschaft, die Tierpsychologie, die Kriminalpsychologie, ferner
die differentielle und die Kinderpsychologie, von denen die beiden letzten, wie
übrigens auch die Psychologie der Aussage, mit dem Namen W. Sterns eng
verknüpft sind. Während die Psychologie von den individuellen Besonderheiten
noch ein unabsehbares Arbeitsgebiet vor sich hat, vermochte Stern, der nach
Preyers Vorbild an seinen eigenen Kindern sorgfältige Beobachtungen, gemeinsam
mit seiner Frau systematisch durchführte, in einem 1914 erschienenen Werk „Psycho¬
logie der frühen Kindheit" (Quelle u. Meyer, Leipzig), eine zusammenfassende,
treffliche Übersicht der Psychologie des Kindes bis zum sechsten Lebensjahr zu
geben, und darin auch weiteren Kreisen den praktischen Nutzen der Forschung für
eine auf gerechten Grundlagen aufgebaute intellektuelle und sittliche Erziehung
zu zeigen.




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[0266] Richtungen der Psychologie Willensprozessen zugewandt, die, wie wir früher sahen, ihr ganz verschlossen zu sein schienen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß hier nichts anderes als eine geordnete Selbstbeobachtung vorliegt, mit der Ergänzung, daß ein psychologisch geschulter Versuchsleiter bestimmte Anordnungen dazu erteilt, zeitliche Messungen ausführt und die Berichte des Selbstbeobachters protokolliert. Will man die so gewonnenen Angaben der „Denk- und Willenspsychologie" zur experimentellen Wissenschaft rechnen, so kann dies wohl in sehr erweitertem Sinne geschehen; man darf sich aber nicht verschweigen, daß damit der Unter¬ schied zwischen der experimentellen und der bekämpften Psychologie der Selbst¬ beobachtung zusammengeschrumpft ist auf ein äußerlich exakteres Jnswerksetzen und ein genaueres, keineswegs aber gegen Fehlangaben geschütztes Protokollieren. Nur flüchtig kann der mit den Fortschritten der psychologischen Forschung vielseitig verbundenen psychologischen Hilfswissenschaften Erwähnung getan werden. Auch für sie ergibt sich bei der Gesamtbetrachtung, daß die objektive, experimentelle Richtung der analysierenden Selbstbeobachtung und Einfühlung nicht entbehren kann, und sie, sei es bewußt, sei es unbewußt, zu Hilfe nimmt. Als solche Hilfszweige gelten die Völkerpsychologie, die Psychopathologie, die hypnotische Wissenschaft, die Tierpsychologie, die Kriminalpsychologie, ferner die differentielle und die Kinderpsychologie, von denen die beiden letzten, wie übrigens auch die Psychologie der Aussage, mit dem Namen W. Sterns eng verknüpft sind. Während die Psychologie von den individuellen Besonderheiten noch ein unabsehbares Arbeitsgebiet vor sich hat, vermochte Stern, der nach Preyers Vorbild an seinen eigenen Kindern sorgfältige Beobachtungen, gemeinsam mit seiner Frau systematisch durchführte, in einem 1914 erschienenen Werk „Psycho¬ logie der frühen Kindheit" (Quelle u. Meyer, Leipzig), eine zusammenfassende, treffliche Übersicht der Psychologie des Kindes bis zum sechsten Lebensjahr zu geben, und darin auch weiteren Kreisen den praktischen Nutzen der Forschung für eine auf gerechten Grundlagen aufgebaute intellektuelle und sittliche Erziehung zu zeigen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/266>, abgerufen am 15.01.2025.