Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Richtungen der Psychologie künstlerisch-intuitiver als wissenschaftlichen Begabung, in gleichem Maße aber Was die wissenschaftliche Psychologie davon unterscheidet, ist erstens, Die strengsten Vertreter dieser Richtung haben das Ziel, gleich den Natur¬ Und doch wurde schon von Lotze und vor ihm von Kant überzeugend Richtungen der Psychologie künstlerisch-intuitiver als wissenschaftlichen Begabung, in gleichem Maße aber Was die wissenschaftliche Psychologie davon unterscheidet, ist erstens, Die strengsten Vertreter dieser Richtung haben das Ziel, gleich den Natur¬ Und doch wurde schon von Lotze und vor ihm von Kant überzeugend <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0263" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329931"/> <fw type="header" place="top"> Richtungen der Psychologie</fw><lb/> <p xml:id="ID_880" prev="#ID_879"> künstlerisch-intuitiver als wissenschaftlichen Begabung, in gleichem Maße aber<lb/> auch auf beruflicher Übung und Erfahrung. Sie können ohne jedes psychologische<lb/> Wissen bestehen und umgekehrt kann ein mit der experimentellen Psychologie<lb/> vertrauter Gelehrter durchaus weltfremd und in allgemeiner Menschenkenntnis<lb/> jedem Oberkellner unterlegen sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_881"> Was die wissenschaftliche Psychologie davon unterscheidet, ist erstens,<lb/> daß ihr nächstes Ziel nicht auf das Erforschen individueller Seelen¬<lb/> zustände gerichtet ist, sondern, daß sie allgemein geltende Regeln und<lb/> Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens aufzufinden sucht; zweitens, daß ihre<lb/> Untersuchung nicht auf persönliche oder praktische Ziele gerichtet ist, sondern<lb/> zunächst lediglich reine Erkenntniszwecke verfolgt; drittens, daß sie nicht mehr<lb/> oder weniger zufälligen Einzelerfahrungen ihr Wissen entnimmt, fondern methodisch,<lb/> d. h. von bestimmten Forschungsprinzipien geleitet, ihre Beobachtungen anstellt<lb/> und deren Ergebnisse ordnet. Die Subjektivität, die zum Begriff des Seelen¬<lb/> lebens gehört, bedingt es, daß sich als Forschungsmethode der Psychologie in<lb/> erster Linie die Selbstbeobachtung des Innenlebens darbietet oder in erweitertem<lb/> Sinne: „Die Selbstbeobachtung und durch Einfühlung vermittelte Beobachtung<lb/> fremden Seelenlebens", wie es v. Aster ausdrückt. Sie galt der Philosophie<lb/> als die einzige und natürlich gegebene Methode, und bildet auch für die strenge<lb/> philosophische Richtung der heutigen Psychologie bei weitem den wesentlichsten<lb/> Teil der Forschung. Demgegenüber mußte jedem, der die außerordentlichen<lb/> Erfolge der experimentellen Forschungsmethode in Naturwissenschaft und Technik<lb/> gesehen, der Versuch, das Experiment auch in die Psychologie einzuführen, wie<lb/> es Weber und Fechner vor etwa 60 Jahren unternahmen, überaus verheißungs¬<lb/> voll erscheinen. Obwohl die von jenen Forschern gefundenen Zahlenverhältnisse<lb/> zwischen Reizstärke und Empfindung sich nicht als ein wirkliches Gesetz des-<lb/> menschlichen Seelenlebens erwiesen, so haben doch ihre zum ersten Male an¬<lb/> gestellten Versuche die Entstehung der heute so weit fortgeschrittenen Wissenschaft<lb/> der experimentellen Psychologie herbeigeführt.</p><lb/> <p xml:id="ID_882"> Die strengsten Vertreter dieser Richtung haben das Ziel, gleich den Natur¬<lb/> wissenschaften, lediglich durch das Experiment die Gesetze des Seelenlebens zu<lb/> finden, die unsicheren Faktoren, die mit der Methode der Selbstbeobachtung<lb/> stets verknüpft sind, auszuschalten, und damit jegliche philosophische und meta¬<lb/> physische Spekulation in der Betrachtung der Seelenvorgänge zu beseitigen.<lb/> Die Psychologie soll eine medizinisch-naturwissenschaftliche Disziplin sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_883" next="#ID_884"> Und doch wurde schon von Lotze und vor ihm von Kant überzeugend<lb/> dargelegt, daß die unendliche Mannigfaltigkeit der seelischen Zustände, ihr Wechsel<lb/> von Person zu Person, von Sekunde zu Sekunde, das Auffinden von Gesetzen<lb/> in naturwissenschaftlichem Sinne, d. h. mathematisch anwendbarer, unmöglich<lb/> macht. Es kann nicht gelingen, einen gegebenen Seelenzustand irgendwie<lb/> rechnerisch zu erfassen, und durch Anwendung von Gesetzen die künftigen Zu¬<lb/> stände vorauszuberechnen, so wie wir etwa mittels des Gravitationsgesetzes den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0263]
Richtungen der Psychologie
künstlerisch-intuitiver als wissenschaftlichen Begabung, in gleichem Maße aber
auch auf beruflicher Übung und Erfahrung. Sie können ohne jedes psychologische
Wissen bestehen und umgekehrt kann ein mit der experimentellen Psychologie
vertrauter Gelehrter durchaus weltfremd und in allgemeiner Menschenkenntnis
jedem Oberkellner unterlegen sein.
Was die wissenschaftliche Psychologie davon unterscheidet, ist erstens,
daß ihr nächstes Ziel nicht auf das Erforschen individueller Seelen¬
zustände gerichtet ist, sondern, daß sie allgemein geltende Regeln und
Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens aufzufinden sucht; zweitens, daß ihre
Untersuchung nicht auf persönliche oder praktische Ziele gerichtet ist, sondern
zunächst lediglich reine Erkenntniszwecke verfolgt; drittens, daß sie nicht mehr
oder weniger zufälligen Einzelerfahrungen ihr Wissen entnimmt, fondern methodisch,
d. h. von bestimmten Forschungsprinzipien geleitet, ihre Beobachtungen anstellt
und deren Ergebnisse ordnet. Die Subjektivität, die zum Begriff des Seelen¬
lebens gehört, bedingt es, daß sich als Forschungsmethode der Psychologie in
erster Linie die Selbstbeobachtung des Innenlebens darbietet oder in erweitertem
Sinne: „Die Selbstbeobachtung und durch Einfühlung vermittelte Beobachtung
fremden Seelenlebens", wie es v. Aster ausdrückt. Sie galt der Philosophie
als die einzige und natürlich gegebene Methode, und bildet auch für die strenge
philosophische Richtung der heutigen Psychologie bei weitem den wesentlichsten
Teil der Forschung. Demgegenüber mußte jedem, der die außerordentlichen
Erfolge der experimentellen Forschungsmethode in Naturwissenschaft und Technik
gesehen, der Versuch, das Experiment auch in die Psychologie einzuführen, wie
es Weber und Fechner vor etwa 60 Jahren unternahmen, überaus verheißungs¬
voll erscheinen. Obwohl die von jenen Forschern gefundenen Zahlenverhältnisse
zwischen Reizstärke und Empfindung sich nicht als ein wirkliches Gesetz des-
menschlichen Seelenlebens erwiesen, so haben doch ihre zum ersten Male an¬
gestellten Versuche die Entstehung der heute so weit fortgeschrittenen Wissenschaft
der experimentellen Psychologie herbeigeführt.
Die strengsten Vertreter dieser Richtung haben das Ziel, gleich den Natur¬
wissenschaften, lediglich durch das Experiment die Gesetze des Seelenlebens zu
finden, die unsicheren Faktoren, die mit der Methode der Selbstbeobachtung
stets verknüpft sind, auszuschalten, und damit jegliche philosophische und meta¬
physische Spekulation in der Betrachtung der Seelenvorgänge zu beseitigen.
Die Psychologie soll eine medizinisch-naturwissenschaftliche Disziplin sein.
Und doch wurde schon von Lotze und vor ihm von Kant überzeugend
dargelegt, daß die unendliche Mannigfaltigkeit der seelischen Zustände, ihr Wechsel
von Person zu Person, von Sekunde zu Sekunde, das Auffinden von Gesetzen
in naturwissenschaftlichem Sinne, d. h. mathematisch anwendbarer, unmöglich
macht. Es kann nicht gelingen, einen gegebenen Seelenzustand irgendwie
rechnerisch zu erfassen, und durch Anwendung von Gesetzen die künftigen Zu¬
stände vorauszuberechnen, so wie wir etwa mittels des Gravitationsgesetzes den
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