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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Gewerbliche Kinderarbeit

Körper des Säuglings muß geschützt werden, darüber ist sich der Pessimist
genau so einig, wie der Skeptiker und der Philister, dessen Horizont
nur zwölf Stunden reicht. -- Einem ganz anderen Bilde stehen wir
indessen gegenüber, wenn es sich um die Fragen des Staatsschutzes sür das
Kind handelt. Wir stehen zwar heute weder in der Sozialpolitik noch in
der Allgemeinheit auf dem Standpunkt jenes Pseudoökonomen Arc, der die
Kindertätigkeit "entzückend" fand und die gesetzliche Beschränkung der Kinder¬
beschäftigung als ein Mittel ansah, "den unglücklichen Objekten mißverstandener
Humanität ein Mittagbrot oder Abendessen zu nehmen", dennoch ist es seltsam,
daß, obgleich wir unsere Staatssozialpolitik im wesentlichen mit dem Schutze
des Kindes begonnen haben, noch so vielfach krasses Unverständnis gegenüber
der Notwendigkeit der Staatssorge für das Kind besteht. Wir stehen auf
diesem Gebiete noch immer einer Unsumme sehr trüber Mißverhältnisse gegen¬
über; jeder Gewerbebericht, jede Erhebung, jede Enquete beweist uns das.
Die breite Allgemeinheit aber überrascht uns nur zu oft durch eine völlige
Verständnislosigkeit gegenüber den Werten, die hier gefährdet sind. Statt einer
Unterstützung begegnet man nicht selten einer Abwehr. Es ist erstaunlich, daß
man sich in einer Epoche, in der für den Mutterschutz, für Säuglingspflege,
Krippen und Kinderhorten eine so dankenswert rege und erfolgreiche Tätigkeit
entwickelt wird, immer noch nicht im Klaren darüber ist, daß ein Kind auch
über die ersten Lebensjahre hinaus des Schutzes bedarf, der in minder be¬
mittelten Kreisen eben nur durch einen staatlichen Eingriff zu erlangen ist. --
Ist das Kind glücklich bis an das Schulalter herangewachsen, so erachtet man
es für unschädlich, nunmehr das junge Leben sich selbst zu überlassen und gibt
sich der irrigen Annahme hin, durch Schulspeisungen und die Errichtung kom¬
munaler Spielplätze und Badeanstalten, den jungen Nachwuchs volkswirtschaft¬
lich ausreichend gesichert zu haben. Am bedauerlichsten aber ist, daß einer
Agitation sür eine Erweiterung der staatlichen Machtbefugnis dem Kinde gegen¬
über noch vielfach die These von dem unberechtigten Staatseingriffe in die
Elternrechte entgegensteht. Die Familie ist, staatsrechtlich betrachtet, heute keine
Einheit mehr, sondern stellt einen Verband von Einzelteilen dar. sozialpolitische
Maßnahmen, Gesetzesnormen und Verordnungen ergreifen mit ihren Bestim¬
mungen nicht mehr die Familie als Komplex, sondern wenden sich je nach der
Lage des Falles, nach Bedarf und Notwendigkeit, dem Einzelobjekte innerhalb
des Familienverbandes zu. Wir stehen bezüglich der Warnung vor der Weiter¬
entrechtung der Familie durch neue Staatseingriffe, einem völligen Mangel an Logik
gegenüber: gegen die Vorkehrungen der Neichsversicherungsordnung mit ihren
elementaren Rechtsangriffen in die Familie erhebt man keine Einwendungen
und plädiert für verstärkte Maßnahmen, im gleichen Atemzuge aber warnt man
dem Kinderschutze gegenüber vor der Familienentrechtung. Der Unterschied in
der verschiedenen Behandlung dieser ähnlichen Fragen ist vom Standpunkte des
menschlichen Egoismus aus betrachtet, nicht unschwer zu begreifen. Die meisten


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Gewerbliche Kinderarbeit

Körper des Säuglings muß geschützt werden, darüber ist sich der Pessimist
genau so einig, wie der Skeptiker und der Philister, dessen Horizont
nur zwölf Stunden reicht. — Einem ganz anderen Bilde stehen wir
indessen gegenüber, wenn es sich um die Fragen des Staatsschutzes sür das
Kind handelt. Wir stehen zwar heute weder in der Sozialpolitik noch in
der Allgemeinheit auf dem Standpunkt jenes Pseudoökonomen Arc, der die
Kindertätigkeit „entzückend" fand und die gesetzliche Beschränkung der Kinder¬
beschäftigung als ein Mittel ansah, „den unglücklichen Objekten mißverstandener
Humanität ein Mittagbrot oder Abendessen zu nehmen", dennoch ist es seltsam,
daß, obgleich wir unsere Staatssozialpolitik im wesentlichen mit dem Schutze
des Kindes begonnen haben, noch so vielfach krasses Unverständnis gegenüber
der Notwendigkeit der Staatssorge für das Kind besteht. Wir stehen auf
diesem Gebiete noch immer einer Unsumme sehr trüber Mißverhältnisse gegen¬
über; jeder Gewerbebericht, jede Erhebung, jede Enquete beweist uns das.
Die breite Allgemeinheit aber überrascht uns nur zu oft durch eine völlige
Verständnislosigkeit gegenüber den Werten, die hier gefährdet sind. Statt einer
Unterstützung begegnet man nicht selten einer Abwehr. Es ist erstaunlich, daß
man sich in einer Epoche, in der für den Mutterschutz, für Säuglingspflege,
Krippen und Kinderhorten eine so dankenswert rege und erfolgreiche Tätigkeit
entwickelt wird, immer noch nicht im Klaren darüber ist, daß ein Kind auch
über die ersten Lebensjahre hinaus des Schutzes bedarf, der in minder be¬
mittelten Kreisen eben nur durch einen staatlichen Eingriff zu erlangen ist. —
Ist das Kind glücklich bis an das Schulalter herangewachsen, so erachtet man
es für unschädlich, nunmehr das junge Leben sich selbst zu überlassen und gibt
sich der irrigen Annahme hin, durch Schulspeisungen und die Errichtung kom¬
munaler Spielplätze und Badeanstalten, den jungen Nachwuchs volkswirtschaft¬
lich ausreichend gesichert zu haben. Am bedauerlichsten aber ist, daß einer
Agitation sür eine Erweiterung der staatlichen Machtbefugnis dem Kinde gegen¬
über noch vielfach die These von dem unberechtigten Staatseingriffe in die
Elternrechte entgegensteht. Die Familie ist, staatsrechtlich betrachtet, heute keine
Einheit mehr, sondern stellt einen Verband von Einzelteilen dar. sozialpolitische
Maßnahmen, Gesetzesnormen und Verordnungen ergreifen mit ihren Bestim¬
mungen nicht mehr die Familie als Komplex, sondern wenden sich je nach der
Lage des Falles, nach Bedarf und Notwendigkeit, dem Einzelobjekte innerhalb
des Familienverbandes zu. Wir stehen bezüglich der Warnung vor der Weiter¬
entrechtung der Familie durch neue Staatseingriffe, einem völligen Mangel an Logik
gegenüber: gegen die Vorkehrungen der Neichsversicherungsordnung mit ihren
elementaren Rechtsangriffen in die Familie erhebt man keine Einwendungen
und plädiert für verstärkte Maßnahmen, im gleichen Atemzuge aber warnt man
dem Kinderschutze gegenüber vor der Familienentrechtung. Der Unterschied in
der verschiedenen Behandlung dieser ähnlichen Fragen ist vom Standpunkte des
menschlichen Egoismus aus betrachtet, nicht unschwer zu begreifen. Die meisten


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[0223] Gewerbliche Kinderarbeit Körper des Säuglings muß geschützt werden, darüber ist sich der Pessimist genau so einig, wie der Skeptiker und der Philister, dessen Horizont nur zwölf Stunden reicht. — Einem ganz anderen Bilde stehen wir indessen gegenüber, wenn es sich um die Fragen des Staatsschutzes sür das Kind handelt. Wir stehen zwar heute weder in der Sozialpolitik noch in der Allgemeinheit auf dem Standpunkt jenes Pseudoökonomen Arc, der die Kindertätigkeit „entzückend" fand und die gesetzliche Beschränkung der Kinder¬ beschäftigung als ein Mittel ansah, „den unglücklichen Objekten mißverstandener Humanität ein Mittagbrot oder Abendessen zu nehmen", dennoch ist es seltsam, daß, obgleich wir unsere Staatssozialpolitik im wesentlichen mit dem Schutze des Kindes begonnen haben, noch so vielfach krasses Unverständnis gegenüber der Notwendigkeit der Staatssorge für das Kind besteht. Wir stehen auf diesem Gebiete noch immer einer Unsumme sehr trüber Mißverhältnisse gegen¬ über; jeder Gewerbebericht, jede Erhebung, jede Enquete beweist uns das. Die breite Allgemeinheit aber überrascht uns nur zu oft durch eine völlige Verständnislosigkeit gegenüber den Werten, die hier gefährdet sind. Statt einer Unterstützung begegnet man nicht selten einer Abwehr. Es ist erstaunlich, daß man sich in einer Epoche, in der für den Mutterschutz, für Säuglingspflege, Krippen und Kinderhorten eine so dankenswert rege und erfolgreiche Tätigkeit entwickelt wird, immer noch nicht im Klaren darüber ist, daß ein Kind auch über die ersten Lebensjahre hinaus des Schutzes bedarf, der in minder be¬ mittelten Kreisen eben nur durch einen staatlichen Eingriff zu erlangen ist. — Ist das Kind glücklich bis an das Schulalter herangewachsen, so erachtet man es für unschädlich, nunmehr das junge Leben sich selbst zu überlassen und gibt sich der irrigen Annahme hin, durch Schulspeisungen und die Errichtung kom¬ munaler Spielplätze und Badeanstalten, den jungen Nachwuchs volkswirtschaft¬ lich ausreichend gesichert zu haben. Am bedauerlichsten aber ist, daß einer Agitation sür eine Erweiterung der staatlichen Machtbefugnis dem Kinde gegen¬ über noch vielfach die These von dem unberechtigten Staatseingriffe in die Elternrechte entgegensteht. Die Familie ist, staatsrechtlich betrachtet, heute keine Einheit mehr, sondern stellt einen Verband von Einzelteilen dar. sozialpolitische Maßnahmen, Gesetzesnormen und Verordnungen ergreifen mit ihren Bestim¬ mungen nicht mehr die Familie als Komplex, sondern wenden sich je nach der Lage des Falles, nach Bedarf und Notwendigkeit, dem Einzelobjekte innerhalb des Familienverbandes zu. Wir stehen bezüglich der Warnung vor der Weiter¬ entrechtung der Familie durch neue Staatseingriffe, einem völligen Mangel an Logik gegenüber: gegen die Vorkehrungen der Neichsversicherungsordnung mit ihren elementaren Rechtsangriffen in die Familie erhebt man keine Einwendungen und plädiert für verstärkte Maßnahmen, im gleichen Atemzuge aber warnt man dem Kinderschutze gegenüber vor der Familienentrechtung. Der Unterschied in der verschiedenen Behandlung dieser ähnlichen Fragen ist vom Standpunkte des menschlichen Egoismus aus betrachtet, nicht unschwer zu begreifen. Die meisten 14*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/223>, abgerufen am 15.01.2025.