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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die Zukunft des Völkerrechts

Naturgesetzen). Dann wird das Recht als machtverteilendes und Verletzungen
der Machtverteilung ausgleichendes Prinzip zur "Gerechtigkeit" im Sinne des
Aristoteles. -- Und das Völkerrecht? -- Es findet seine Stelle mehr im zweiten
als im ersten Kreise; es ist mehr Rechtspolitik als Juristerei. Die Völkerrechts¬
praxis ist überwiegend Rechtspolitik, das Völkerrecht selbst nur dann "Recht"
im strengen Sinne der "Jurisprudenz", wenn man die herrschaftliche Organisation
fingiert, falls man nicht die ideelle Einheit der staatlichen Herrscher (und Völker)
als Ersatz gelten lassen will. Es ist dann ein auf der gleichsam genossenschaft¬
lichen Grundlage der Kulturgemeinschaft der Völkerrechtsstaaten durch gegenseitige
Bindung im Wege der ausdrücklichen oder stillschweigenden Anerkennung als
gemeinsame und für notwendig erachtete Rechtsüberzeugung erwachsenes "Recht"
in denkbar freiestem Sinne der Jurisprudenz, das die Ausübung von Hoheits¬
rechten der Völkerrechtsstaaten zum Gegenstande hat und das nur psychisch oder
im Wege der Selbsthilfe erzwungen werden kann. --

Was gilt vom Völkerrecht noch heute? Was hat im Völkerkrieg bis jetzt
gegolten? Man könnte auch fragen: Was haben sie aus dem bis zum Völker¬
kriege von uns als gellend angenommenen Völkerrechte gemacht? Denn was
bis zum August 1914 an Völkerrecht als geltend angenommen wurde, wissen
wir. Es schien eine stetige Fortentwicklung des Völkerrechts zu sein, im Sinne
fortschreitender Kultur, der sich fortentwickelnden Völkerfriedensidee, der Ver-
menschlichung des Krieges, der Vervollkommnung des Menschengeschlechts.
Humllnisierungsvertmge für das Kriegsrecht begegnen uns schon im 18. Jahr¬
hundert. Der Pariser Vertrag von 1856 sprach schon von Vermittlung völker¬
rechtlicher Streitigkeiten, und die Seerechtsdeklaration vom selben Jahre regelte
das Neutralitäts- und das Seekriegsrecht. Das Nationalitätenprinzip führte --
neben manchen Auswüchsen -- zur Befreiung Griechenlands, zur Einigung
Italiens und Österreichs, zur Gründung des Deutschen Reiches. Milde und
Menschlichkeit waren die Motive, welche die Genfer Konvention 1864, das
Verbot der Dum-Dum-Geschosse 1868, die Anerkennung der Verbindlichkeit
internationaler Verträge 1871, die Bekämpfung des Sklavenhandels 1890, die
Friedensidee auf den Hager Konferenzen 1899 und 1907 gezeitigt haben. Die
Genfer Konvention war 1906 erneuert, 1907 auf den Seekrieg ausgedehnt,
das internationale Verwaltung^-, Privat- und Tropenrecht weiter ausgebaut
worden, die Londoner Seekriegserklürung von 1909 schien der Ratifikation nahe,
schon träumte man von einem Welt-Oberprisengericht, von einem obligatorischen
Weltschiedsgericht, -- da brach der Weltkrieg aus und hat gleich in seinen
Anfängen scheinbar einen völligen Zusammenbruch der Völkerrechtsidee gebracht.
Neutralität, Meeresfreiheit, Beschränkung des Landkrieges auf die Heeres-
streitkräfte und die Staatsgebiete, des Seekriegs auf die Kriegführenden, Genfer
Konvention und andere internationale Vertragsberedungen schienen tote Buch¬
staben geworden zu sein. Deutschland und seine Verbündeten, ängstlich bemüht,
ihren kriegsrechtlichen Verpflichtungen, auch dem Feinde gegenüber und in den


Die Zukunft des Völkerrechts

Naturgesetzen). Dann wird das Recht als machtverteilendes und Verletzungen
der Machtverteilung ausgleichendes Prinzip zur „Gerechtigkeit" im Sinne des
Aristoteles. — Und das Völkerrecht? — Es findet seine Stelle mehr im zweiten
als im ersten Kreise; es ist mehr Rechtspolitik als Juristerei. Die Völkerrechts¬
praxis ist überwiegend Rechtspolitik, das Völkerrecht selbst nur dann „Recht"
im strengen Sinne der „Jurisprudenz", wenn man die herrschaftliche Organisation
fingiert, falls man nicht die ideelle Einheit der staatlichen Herrscher (und Völker)
als Ersatz gelten lassen will. Es ist dann ein auf der gleichsam genossenschaft¬
lichen Grundlage der Kulturgemeinschaft der Völkerrechtsstaaten durch gegenseitige
Bindung im Wege der ausdrücklichen oder stillschweigenden Anerkennung als
gemeinsame und für notwendig erachtete Rechtsüberzeugung erwachsenes „Recht"
in denkbar freiestem Sinne der Jurisprudenz, das die Ausübung von Hoheits¬
rechten der Völkerrechtsstaaten zum Gegenstande hat und das nur psychisch oder
im Wege der Selbsthilfe erzwungen werden kann. —

Was gilt vom Völkerrecht noch heute? Was hat im Völkerkrieg bis jetzt
gegolten? Man könnte auch fragen: Was haben sie aus dem bis zum Völker¬
kriege von uns als gellend angenommenen Völkerrechte gemacht? Denn was
bis zum August 1914 an Völkerrecht als geltend angenommen wurde, wissen
wir. Es schien eine stetige Fortentwicklung des Völkerrechts zu sein, im Sinne
fortschreitender Kultur, der sich fortentwickelnden Völkerfriedensidee, der Ver-
menschlichung des Krieges, der Vervollkommnung des Menschengeschlechts.
Humllnisierungsvertmge für das Kriegsrecht begegnen uns schon im 18. Jahr¬
hundert. Der Pariser Vertrag von 1856 sprach schon von Vermittlung völker¬
rechtlicher Streitigkeiten, und die Seerechtsdeklaration vom selben Jahre regelte
das Neutralitäts- und das Seekriegsrecht. Das Nationalitätenprinzip führte —
neben manchen Auswüchsen — zur Befreiung Griechenlands, zur Einigung
Italiens und Österreichs, zur Gründung des Deutschen Reiches. Milde und
Menschlichkeit waren die Motive, welche die Genfer Konvention 1864, das
Verbot der Dum-Dum-Geschosse 1868, die Anerkennung der Verbindlichkeit
internationaler Verträge 1871, die Bekämpfung des Sklavenhandels 1890, die
Friedensidee auf den Hager Konferenzen 1899 und 1907 gezeitigt haben. Die
Genfer Konvention war 1906 erneuert, 1907 auf den Seekrieg ausgedehnt,
das internationale Verwaltung^-, Privat- und Tropenrecht weiter ausgebaut
worden, die Londoner Seekriegserklürung von 1909 schien der Ratifikation nahe,
schon träumte man von einem Welt-Oberprisengericht, von einem obligatorischen
Weltschiedsgericht, — da brach der Weltkrieg aus und hat gleich in seinen
Anfängen scheinbar einen völligen Zusammenbruch der Völkerrechtsidee gebracht.
Neutralität, Meeresfreiheit, Beschränkung des Landkrieges auf die Heeres-
streitkräfte und die Staatsgebiete, des Seekriegs auf die Kriegführenden, Genfer
Konvention und andere internationale Vertragsberedungen schienen tote Buch¬
staben geworden zu sein. Deutschland und seine Verbündeten, ängstlich bemüht,
ihren kriegsrechtlichen Verpflichtungen, auch dem Feinde gegenüber und in den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/187>, abgerufen am 15.01.2025.