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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Wie kam Frankreich zu Lothringen und dem Elsaß?

Die Verwelschung des Adels hatte den Verlust Lothringens vorbereitet.
Wiewohl dieses 1815 bei Frankreich verblieb, trat hier doch im 19. Jahrhundert
eine jenem Vorgange entgegengesetzte Bewegung ein: es bildete sich in den
französisch sprechenden westlothringischen Städten infolge von Einwanderung
aus Deutschland eine allmählich wachsende deutschredende Minderheit. In Metz
bestand eine solche schon vor 1870, und 1900 zählte Nancy etwa soviel deutsche
Einwohner wie Metz 1870. Sicherlich ist das eine politisch in Rechnung zu
stellende Erscheinung.

Doch auch in Frankreich blieb das Verlangen nach dem Besitz des ganzen
linken Rheinufers rege und war einer der Gründe des Krieges von 1870 und 71,
den Frankreich an Preußen erklärt hatte. Wiederum erstürmten deutsche
Truppen des Elsaß' und Lothringens Berge und Festungen, und wiederum
forderte das deutsche Volk die Einverleibung dieser alten Reichslande in das
neu errichtete Deutsche Reich. Doch es hatte vergessen, wie weit sich einst
Lothringen nach Westen erstreckte, und daß Frankreich so lange ein friedlicher
Nachbar gewesen war, als die Argonnen und die Westoogesen es von Deutschland
schieden. Die deutsche Regierung hatte Bedenken, diesem mehrere Millionen
verwelschter Lothringer einzuverleiben, befürchtete auch eine Friedensvermittlung
durch England und Nußland bei längerer Verschleppung der Friedensverhand¬
lungen. Vom 1. und 2. Pariser Frieden her wußte sie aber, was diese für
Deutschland zu bedeuten hatte. Daher stellte sie hinsichtlich des abzutretenden
Gebietes äußerst mäßige Friedensbedingungen, zu deren Grundlage sie in erster
Linie die Sprachgrenze und erst in zweiter den Grenzschutz machte. Bismarck
forderte daher zunächst in der Friedensunterhandlung zu Versailles ganz Elsaß
und das nordöstliche deutsch sprechende Lothringen, von dem daran stoßenden
mittleren, wo das Französische herrschte, aber nur Metz mit Umgebung. Schlie߬
lich sah er auch unter Moltkes Billigung von der überwiegend französisch
redenden Südwestecke des Elsaß mit Belfort ab. So hatte denn Frankreich
nur 14 513 Quadratkilometer mit 1^ Million Einwohner an das Deutsche
Reich abzutreten. Von diesen waren nur 200 000 französischer Zunge. Den
Neutralen, die hieran Anstoß nehmen, ist zu erwidern, daß Deutschland in
Artois und Französisch-Flandern fast ebensoviel niederdeutsche unter Frankreichs
Herrschaft und zwar gegen deren Willen ließ. Es hat daher nicht mehr fran¬
zösische Untertanen zu deutschen gemacht, als ihm die Sprachgrenze zuwies.
Das 1871 Frankreich wieder abgenommene Gebiet ist aber nur zum aller-
kleinsten Teil von dessen eigenem Heere erobert worden, und zwar auch dann
nur im Bunde mit deutschen Fürsten, zu einem größeren von deutschen Truppen;
einen anderen hat es betrügerisch erschachert, die Hälfte teils mit, teils ohne
Scheingrund mitten im Frieden geraubt. Etwa zwei Drittel des uns entrissenen
Lothringens und Elsaß' gehören ihm jetzt noch, und darin liegt die alte Hauptstadt von
jenem Herzogtum Nanzig (Nanzy), die alten Reichsstädte Toul und Verdun
sowie die neue starke Vogesenfeste Belfort. .Anstatt aber für Deutschlands


Wie kam Frankreich zu Lothringen und dem Elsaß?

Die Verwelschung des Adels hatte den Verlust Lothringens vorbereitet.
Wiewohl dieses 1815 bei Frankreich verblieb, trat hier doch im 19. Jahrhundert
eine jenem Vorgange entgegengesetzte Bewegung ein: es bildete sich in den
französisch sprechenden westlothringischen Städten infolge von Einwanderung
aus Deutschland eine allmählich wachsende deutschredende Minderheit. In Metz
bestand eine solche schon vor 1870, und 1900 zählte Nancy etwa soviel deutsche
Einwohner wie Metz 1870. Sicherlich ist das eine politisch in Rechnung zu
stellende Erscheinung.

Doch auch in Frankreich blieb das Verlangen nach dem Besitz des ganzen
linken Rheinufers rege und war einer der Gründe des Krieges von 1870 und 71,
den Frankreich an Preußen erklärt hatte. Wiederum erstürmten deutsche
Truppen des Elsaß' und Lothringens Berge und Festungen, und wiederum
forderte das deutsche Volk die Einverleibung dieser alten Reichslande in das
neu errichtete Deutsche Reich. Doch es hatte vergessen, wie weit sich einst
Lothringen nach Westen erstreckte, und daß Frankreich so lange ein friedlicher
Nachbar gewesen war, als die Argonnen und die Westoogesen es von Deutschland
schieden. Die deutsche Regierung hatte Bedenken, diesem mehrere Millionen
verwelschter Lothringer einzuverleiben, befürchtete auch eine Friedensvermittlung
durch England und Nußland bei längerer Verschleppung der Friedensverhand¬
lungen. Vom 1. und 2. Pariser Frieden her wußte sie aber, was diese für
Deutschland zu bedeuten hatte. Daher stellte sie hinsichtlich des abzutretenden
Gebietes äußerst mäßige Friedensbedingungen, zu deren Grundlage sie in erster
Linie die Sprachgrenze und erst in zweiter den Grenzschutz machte. Bismarck
forderte daher zunächst in der Friedensunterhandlung zu Versailles ganz Elsaß
und das nordöstliche deutsch sprechende Lothringen, von dem daran stoßenden
mittleren, wo das Französische herrschte, aber nur Metz mit Umgebung. Schlie߬
lich sah er auch unter Moltkes Billigung von der überwiegend französisch
redenden Südwestecke des Elsaß mit Belfort ab. So hatte denn Frankreich
nur 14 513 Quadratkilometer mit 1^ Million Einwohner an das Deutsche
Reich abzutreten. Von diesen waren nur 200 000 französischer Zunge. Den
Neutralen, die hieran Anstoß nehmen, ist zu erwidern, daß Deutschland in
Artois und Französisch-Flandern fast ebensoviel niederdeutsche unter Frankreichs
Herrschaft und zwar gegen deren Willen ließ. Es hat daher nicht mehr fran¬
zösische Untertanen zu deutschen gemacht, als ihm die Sprachgrenze zuwies.
Das 1871 Frankreich wieder abgenommene Gebiet ist aber nur zum aller-
kleinsten Teil von dessen eigenem Heere erobert worden, und zwar auch dann
nur im Bunde mit deutschen Fürsten, zu einem größeren von deutschen Truppen;
einen anderen hat es betrügerisch erschachert, die Hälfte teils mit, teils ohne
Scheingrund mitten im Frieden geraubt. Etwa zwei Drittel des uns entrissenen
Lothringens und Elsaß' gehören ihm jetzt noch, und darin liegt die alte Hauptstadt von
jenem Herzogtum Nanzig (Nanzy), die alten Reichsstädte Toul und Verdun
sowie die neue starke Vogesenfeste Belfort. .Anstatt aber für Deutschlands


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[0170] Wie kam Frankreich zu Lothringen und dem Elsaß? Die Verwelschung des Adels hatte den Verlust Lothringens vorbereitet. Wiewohl dieses 1815 bei Frankreich verblieb, trat hier doch im 19. Jahrhundert eine jenem Vorgange entgegengesetzte Bewegung ein: es bildete sich in den französisch sprechenden westlothringischen Städten infolge von Einwanderung aus Deutschland eine allmählich wachsende deutschredende Minderheit. In Metz bestand eine solche schon vor 1870, und 1900 zählte Nancy etwa soviel deutsche Einwohner wie Metz 1870. Sicherlich ist das eine politisch in Rechnung zu stellende Erscheinung. Doch auch in Frankreich blieb das Verlangen nach dem Besitz des ganzen linken Rheinufers rege und war einer der Gründe des Krieges von 1870 und 71, den Frankreich an Preußen erklärt hatte. Wiederum erstürmten deutsche Truppen des Elsaß' und Lothringens Berge und Festungen, und wiederum forderte das deutsche Volk die Einverleibung dieser alten Reichslande in das neu errichtete Deutsche Reich. Doch es hatte vergessen, wie weit sich einst Lothringen nach Westen erstreckte, und daß Frankreich so lange ein friedlicher Nachbar gewesen war, als die Argonnen und die Westoogesen es von Deutschland schieden. Die deutsche Regierung hatte Bedenken, diesem mehrere Millionen verwelschter Lothringer einzuverleiben, befürchtete auch eine Friedensvermittlung durch England und Nußland bei längerer Verschleppung der Friedensverhand¬ lungen. Vom 1. und 2. Pariser Frieden her wußte sie aber, was diese für Deutschland zu bedeuten hatte. Daher stellte sie hinsichtlich des abzutretenden Gebietes äußerst mäßige Friedensbedingungen, zu deren Grundlage sie in erster Linie die Sprachgrenze und erst in zweiter den Grenzschutz machte. Bismarck forderte daher zunächst in der Friedensunterhandlung zu Versailles ganz Elsaß und das nordöstliche deutsch sprechende Lothringen, von dem daran stoßenden mittleren, wo das Französische herrschte, aber nur Metz mit Umgebung. Schlie߬ lich sah er auch unter Moltkes Billigung von der überwiegend französisch redenden Südwestecke des Elsaß mit Belfort ab. So hatte denn Frankreich nur 14 513 Quadratkilometer mit 1^ Million Einwohner an das Deutsche Reich abzutreten. Von diesen waren nur 200 000 französischer Zunge. Den Neutralen, die hieran Anstoß nehmen, ist zu erwidern, daß Deutschland in Artois und Französisch-Flandern fast ebensoviel niederdeutsche unter Frankreichs Herrschaft und zwar gegen deren Willen ließ. Es hat daher nicht mehr fran¬ zösische Untertanen zu deutschen gemacht, als ihm die Sprachgrenze zuwies. Das 1871 Frankreich wieder abgenommene Gebiet ist aber nur zum aller- kleinsten Teil von dessen eigenem Heere erobert worden, und zwar auch dann nur im Bunde mit deutschen Fürsten, zu einem größeren von deutschen Truppen; einen anderen hat es betrügerisch erschachert, die Hälfte teils mit, teils ohne Scheingrund mitten im Frieden geraubt. Etwa zwei Drittel des uns entrissenen Lothringens und Elsaß' gehören ihm jetzt noch, und darin liegt die alte Hauptstadt von jenem Herzogtum Nanzig (Nanzy), die alten Reichsstädte Toul und Verdun sowie die neue starke Vogesenfeste Belfort. .Anstatt aber für Deutschlands

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/170>, abgerufen am 15.01.2025.