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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Stadium des Krieges beginnen sofort Bewegungen unter den Arbeitern. Vom
März ab sehen wir fast in jedem Monat große Streiks der Arbeiter in den
Industriezentren. In Petersburg findet im April ein Sympathiestreik zum
Gedächtnis de Lenaereiguisse statt, im Mai streiken 35000 Arbeiter, im Juni
setzt der Streik der Metallarbeiter ein. Juni und Juli sind die beiden Monate,
da die Streitbewegung im ganzen Reiche am umfangreichsten ist, und teilweise
ausgesprochen regierungsfeindlichen Charakter annimmt.

Die Streiks der Textilarbeiter in Kostroma im Juni haben zu der be¬
kannten Jnterpellation in der Duma geführt (Dumaverhandlungen vom
8./21. August). In ihrem Verlauf waren Zusammenstöße zwischen der Polizei
und den Arbeitern vorgekommen, die zur Erschießung von ungefähr 14 Arbeitern
und zur Verwundung einer Menge anderer führten. Massenarreste folgten.
Wie die Ereignisse von Kostroma auf das russische Volk wirkten, davon gibt
die Rede des extrem rechten Abgeordneten, Grafen W. A. Bobrinsry, aus
Anlaß der damaligen Jnterpellation einen guten Eindruck:


"Man schlägt uns eine Jnterpellation über die traurigen Ereignisse vor,
die vor mehr als zwei Monaten passierten. Die Regierung hat Zeit
genug gehabt, alles aufzuklären und sich auf eine Antwort für heute
vorzubereiten, über dieses traurige Ereignis hat man schon öffentlich
in Moskau auf >em Kongreß gesprochen. Die Regierung sollte keinen
Zweifel darüber haben, sie sollte verstehen, daß die Ereignisse in Kost¬
roma einen traurigen Widerhall in ganz Rußland finden und viele
erregen. Sie sollte hier erscheinen und uns erklären, welche Umstände es
notwendig machten, auf die Menge zu schießen, und, wenn solche nicht
vorhanden waren, welche Maßregeln zur Bestrafung der Schuldigen er¬
griffen sind. Statt dessen hat es die Regierung, von ihrem formalen
Rechte Gebrauch machend, nicht einmal für nötig gehalten, hier zu er-
scheinen. Schlecht versteht die Regierung ihre Pflichten in der gegen¬
wärtigen schweren Minute, wenn sie sich auf ihr formelles Recht stützend,
diesem Ereignis gegenüber teilnahmslos verhält."

Kostroma findet bald Nachfolger in Moskau und Jwano Wosnessensk.
Genaue Nachrichten über diese Streiks haben wir nicht. Wenn man der russi¬
schen sozialistischen Presse trauen darf, gab es bei den Moskaner Unruhen im
Juni 20 Tote und Verwundete, in Jwano Wosnessensk im Juli 100 Tote und
40 Verwundete. Der letztere Streik scheint politischen Charakter gehabt
zu haben. Nach den Berichten der sozialistischen Zeitungen ist man mit
Fahnen unter Absingen revolutionärer Lieder umhergezogen und hat die Losung
ausgegeben: "Fort mit der Regierung, allgemeine Amnestie etc."

Damit scheint aber auch die Streitbewegung ihren Höhepunkt erreicht zu
haben, ohne daß sie allerdings ganz abgeflaut hat. Denn in Petersburg haben
nur wieder Proteststreiks gegen das Urteil von Jwano Wosnessensk. Eine
größere Streikwelle geht ferner bei der Auflösung der Duma durchs Laud.


Stadium des Krieges beginnen sofort Bewegungen unter den Arbeitern. Vom
März ab sehen wir fast in jedem Monat große Streiks der Arbeiter in den
Industriezentren. In Petersburg findet im April ein Sympathiestreik zum
Gedächtnis de Lenaereiguisse statt, im Mai streiken 35000 Arbeiter, im Juni
setzt der Streik der Metallarbeiter ein. Juni und Juli sind die beiden Monate,
da die Streitbewegung im ganzen Reiche am umfangreichsten ist, und teilweise
ausgesprochen regierungsfeindlichen Charakter annimmt.

Die Streiks der Textilarbeiter in Kostroma im Juni haben zu der be¬
kannten Jnterpellation in der Duma geführt (Dumaverhandlungen vom
8./21. August). In ihrem Verlauf waren Zusammenstöße zwischen der Polizei
und den Arbeitern vorgekommen, die zur Erschießung von ungefähr 14 Arbeitern
und zur Verwundung einer Menge anderer führten. Massenarreste folgten.
Wie die Ereignisse von Kostroma auf das russische Volk wirkten, davon gibt
die Rede des extrem rechten Abgeordneten, Grafen W. A. Bobrinsry, aus
Anlaß der damaligen Jnterpellation einen guten Eindruck:


„Man schlägt uns eine Jnterpellation über die traurigen Ereignisse vor,
die vor mehr als zwei Monaten passierten. Die Regierung hat Zeit
genug gehabt, alles aufzuklären und sich auf eine Antwort für heute
vorzubereiten, über dieses traurige Ereignis hat man schon öffentlich
in Moskau auf >em Kongreß gesprochen. Die Regierung sollte keinen
Zweifel darüber haben, sie sollte verstehen, daß die Ereignisse in Kost¬
roma einen traurigen Widerhall in ganz Rußland finden und viele
erregen. Sie sollte hier erscheinen und uns erklären, welche Umstände es
notwendig machten, auf die Menge zu schießen, und, wenn solche nicht
vorhanden waren, welche Maßregeln zur Bestrafung der Schuldigen er¬
griffen sind. Statt dessen hat es die Regierung, von ihrem formalen
Rechte Gebrauch machend, nicht einmal für nötig gehalten, hier zu er-
scheinen. Schlecht versteht die Regierung ihre Pflichten in der gegen¬
wärtigen schweren Minute, wenn sie sich auf ihr formelles Recht stützend,
diesem Ereignis gegenüber teilnahmslos verhält."

Kostroma findet bald Nachfolger in Moskau und Jwano Wosnessensk.
Genaue Nachrichten über diese Streiks haben wir nicht. Wenn man der russi¬
schen sozialistischen Presse trauen darf, gab es bei den Moskaner Unruhen im
Juni 20 Tote und Verwundete, in Jwano Wosnessensk im Juli 100 Tote und
40 Verwundete. Der letztere Streik scheint politischen Charakter gehabt
zu haben. Nach den Berichten der sozialistischen Zeitungen ist man mit
Fahnen unter Absingen revolutionärer Lieder umhergezogen und hat die Losung
ausgegeben: „Fort mit der Regierung, allgemeine Amnestie etc."

Damit scheint aber auch die Streitbewegung ihren Höhepunkt erreicht zu
haben, ohne daß sie allerdings ganz abgeflaut hat. Denn in Petersburg haben
nur wieder Proteststreiks gegen das Urteil von Jwano Wosnessensk. Eine
größere Streikwelle geht ferner bei der Auflösung der Duma durchs Laud.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/17>, abgerufen am 15.01.2025.