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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Auf dem toten Punkt

Platz" -- und da möchte man einigermaßen anständig herauskommen. Man
zeigt, daß man noch da ist, daß man die "Befreiungsmission" nicht ganz ver¬
gessen hat, daß man zur Not auch noch eine kleine Offensive machen kann --
und lauscht dabei ängstlich nach Westen, nach dem Balkan, nach Egypten, --
wie man einst nach den Dardanellen lauschte.

Es war eine tiefe Enttäuschung für die russische Gesellschaft, diesen Tag
erleben zu müssen, als England es für richtig hielt, seine Heere von Gallipoli
abzulösen, fiel doch damit der russische Traum, mit Hilfe derselben Macht, die
einstmals bei San Stephcino ihr Veto gegen das weitere Vordringen der Russen
eingelegt hat, in Zargrad einzuziehen und an den Wänden der Hagia Sophia
die alten orthodoxen Glaubensbilder wieder aufzufrischen.

Man träumt nicht umsonst solche Träume, um nicht das Erwachen wie
den Verlust eines nah geschauten Paradieses zu empfinden. Das Erwachen
nach solchen Träumen ist schwer und bleiern liegts einem in allen Gliedern.
Alle schönen Reden aller englischen Botschafter können da nichts mehr nützen
-- der Glaube ist dahin, und was soll dieses Volk ohne Glauben
machen?

Wenn es den Glauben verloren hat, so denkt es an nichts mehr. Es
vergißt seine Ziele und lebt für den Tag, schwärmt und kneipt in den Mos¬
kaner großen Gasthäusern vom Abend bis zur Frühe und entschädigt sich für
verloren gegangenen Enthusiasmus -- durch Sekt. Die Stimmung des Spielers,
der verloren, aber noch Geld genug übrig hat, um den heutigen Tag lustig
zu feiern.

Und Rumänien? Die Hoffnungen auf die russische Offensive? Waren
ängstliche Hoffnungen, nervöse Erwartungen, die begraben sind. An "Rumäniens
Eintreten in den Krieg" hat in Rußland jeder geglaubt seit Beginn des Krieges,
dann kam eine verfehlte Gelegenheit nach der andern; es kam "der Abfall
Bulgariens", der Zweifel an Griechenland, an das man trotz aller politischen
Gegensätze "so kindlich geglaubt hatte", und mit dem man schmollte und trotzte,
bis Herr Migulin dem russischen Publikum das Unsinnige dieses Schmollens
klar bewies und den Blumenvorhang zerriß. Rumänien war der Strohhalm,
an den man sich klammerte, von dort aus dachte man das Bild wieder aufzu¬
rollen -- an Stelle des politischen Drucks sollte ein militärischer Eindruck treten.
Czernowitzs Fall wurde von der Petersburger Telegraphenagentur bereits ver¬
kündigt, ehe noch eine österreichisch-ungarische Schützenlinie ins Wanken geraten
war. Auch die Schumskis sind jetzt stiller geworden. Saloniki solls jetzt
machen -- aber keiner glaubt mehr daran . . .

Man fängt an nachzudenken.

Kennen Sie unsern alten Freund Purischkewitsch, den früheren Mitarbeiter
der Kreuzzeitung, ihn, der zu Beginn dieses Krieges aus einem einst begeisterten
Deutschenfreund ein erbitterter Deutschenhasser geworden ist? Er, der betont,


Auf dem toten Punkt

Platz" — und da möchte man einigermaßen anständig herauskommen. Man
zeigt, daß man noch da ist, daß man die „Befreiungsmission" nicht ganz ver¬
gessen hat, daß man zur Not auch noch eine kleine Offensive machen kann —
und lauscht dabei ängstlich nach Westen, nach dem Balkan, nach Egypten, —
wie man einst nach den Dardanellen lauschte.

Es war eine tiefe Enttäuschung für die russische Gesellschaft, diesen Tag
erleben zu müssen, als England es für richtig hielt, seine Heere von Gallipoli
abzulösen, fiel doch damit der russische Traum, mit Hilfe derselben Macht, die
einstmals bei San Stephcino ihr Veto gegen das weitere Vordringen der Russen
eingelegt hat, in Zargrad einzuziehen und an den Wänden der Hagia Sophia
die alten orthodoxen Glaubensbilder wieder aufzufrischen.

Man träumt nicht umsonst solche Träume, um nicht das Erwachen wie
den Verlust eines nah geschauten Paradieses zu empfinden. Das Erwachen
nach solchen Träumen ist schwer und bleiern liegts einem in allen Gliedern.
Alle schönen Reden aller englischen Botschafter können da nichts mehr nützen
— der Glaube ist dahin, und was soll dieses Volk ohne Glauben
machen?

Wenn es den Glauben verloren hat, so denkt es an nichts mehr. Es
vergißt seine Ziele und lebt für den Tag, schwärmt und kneipt in den Mos¬
kaner großen Gasthäusern vom Abend bis zur Frühe und entschädigt sich für
verloren gegangenen Enthusiasmus — durch Sekt. Die Stimmung des Spielers,
der verloren, aber noch Geld genug übrig hat, um den heutigen Tag lustig
zu feiern.

Und Rumänien? Die Hoffnungen auf die russische Offensive? Waren
ängstliche Hoffnungen, nervöse Erwartungen, die begraben sind. An „Rumäniens
Eintreten in den Krieg" hat in Rußland jeder geglaubt seit Beginn des Krieges,
dann kam eine verfehlte Gelegenheit nach der andern; es kam „der Abfall
Bulgariens", der Zweifel an Griechenland, an das man trotz aller politischen
Gegensätze „so kindlich geglaubt hatte", und mit dem man schmollte und trotzte,
bis Herr Migulin dem russischen Publikum das Unsinnige dieses Schmollens
klar bewies und den Blumenvorhang zerriß. Rumänien war der Strohhalm,
an den man sich klammerte, von dort aus dachte man das Bild wieder aufzu¬
rollen — an Stelle des politischen Drucks sollte ein militärischer Eindruck treten.
Czernowitzs Fall wurde von der Petersburger Telegraphenagentur bereits ver¬
kündigt, ehe noch eine österreichisch-ungarische Schützenlinie ins Wanken geraten
war. Auch die Schumskis sind jetzt stiller geworden. Saloniki solls jetzt
machen — aber keiner glaubt mehr daran . . .

Man fängt an nachzudenken.

Kennen Sie unsern alten Freund Purischkewitsch, den früheren Mitarbeiter
der Kreuzzeitung, ihn, der zu Beginn dieses Krieges aus einem einst begeisterten
Deutschenfreund ein erbitterter Deutschenhasser geworden ist? Er, der betont,


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[0142] Auf dem toten Punkt Platz" — und da möchte man einigermaßen anständig herauskommen. Man zeigt, daß man noch da ist, daß man die „Befreiungsmission" nicht ganz ver¬ gessen hat, daß man zur Not auch noch eine kleine Offensive machen kann — und lauscht dabei ängstlich nach Westen, nach dem Balkan, nach Egypten, — wie man einst nach den Dardanellen lauschte. Es war eine tiefe Enttäuschung für die russische Gesellschaft, diesen Tag erleben zu müssen, als England es für richtig hielt, seine Heere von Gallipoli abzulösen, fiel doch damit der russische Traum, mit Hilfe derselben Macht, die einstmals bei San Stephcino ihr Veto gegen das weitere Vordringen der Russen eingelegt hat, in Zargrad einzuziehen und an den Wänden der Hagia Sophia die alten orthodoxen Glaubensbilder wieder aufzufrischen. Man träumt nicht umsonst solche Träume, um nicht das Erwachen wie den Verlust eines nah geschauten Paradieses zu empfinden. Das Erwachen nach solchen Träumen ist schwer und bleiern liegts einem in allen Gliedern. Alle schönen Reden aller englischen Botschafter können da nichts mehr nützen — der Glaube ist dahin, und was soll dieses Volk ohne Glauben machen? Wenn es den Glauben verloren hat, so denkt es an nichts mehr. Es vergißt seine Ziele und lebt für den Tag, schwärmt und kneipt in den Mos¬ kaner großen Gasthäusern vom Abend bis zur Frühe und entschädigt sich für verloren gegangenen Enthusiasmus — durch Sekt. Die Stimmung des Spielers, der verloren, aber noch Geld genug übrig hat, um den heutigen Tag lustig zu feiern. Und Rumänien? Die Hoffnungen auf die russische Offensive? Waren ängstliche Hoffnungen, nervöse Erwartungen, die begraben sind. An „Rumäniens Eintreten in den Krieg" hat in Rußland jeder geglaubt seit Beginn des Krieges, dann kam eine verfehlte Gelegenheit nach der andern; es kam „der Abfall Bulgariens", der Zweifel an Griechenland, an das man trotz aller politischen Gegensätze „so kindlich geglaubt hatte", und mit dem man schmollte und trotzte, bis Herr Migulin dem russischen Publikum das Unsinnige dieses Schmollens klar bewies und den Blumenvorhang zerriß. Rumänien war der Strohhalm, an den man sich klammerte, von dort aus dachte man das Bild wieder aufzu¬ rollen — an Stelle des politischen Drucks sollte ein militärischer Eindruck treten. Czernowitzs Fall wurde von der Petersburger Telegraphenagentur bereits ver¬ kündigt, ehe noch eine österreichisch-ungarische Schützenlinie ins Wanken geraten war. Auch die Schumskis sind jetzt stiller geworden. Saloniki solls jetzt machen — aber keiner glaubt mehr daran . . . Man fängt an nachzudenken. Kennen Sie unsern alten Freund Purischkewitsch, den früheren Mitarbeiter der Kreuzzeitung, ihn, der zu Beginn dieses Krieges aus einem einst begeisterten Deutschenfreund ein erbitterter Deutschenhasser geworden ist? Er, der betont,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/142>, abgerufen am 15.01.2025.