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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht

zuweisen, ist hier nicht der Raum, und es würde auch von dem eigentlichen
Thema abführen. Es genügt hier festzustellen, daß der in England auf¬
kommende Gedanke, jetzt durch den Zwang der allgemeinen Wehrpflicht das
Rekrutierungsgeschäft aufzubessern und sie nach dem Kriege wieder abzuschaffen,
eine große Torheit ist. Wie man wohl annehmen darf, fehlt es in England
nicht an besonnenen Leuten, die das sehr wohl wissen; deshalb ist es auch
fraglich, ob der Vorschlag, die allgemeine Wehrpflicht vorübergehend oder
probeweise einzuführen, irgendwelche ernsten Aussichten hat. Ich glaube sogar,
daß man einen Schritt weiter gehen darf und ruhig sagen kann: es ist sehr
unwahrscheinlich. Die Wahl kann schließlich nur sein zwischen dem bisherigen
Werbeftistem und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für alle Zeiten.
Ob aber für diesen letzteren Gedanken eine Stimmung in England zu schaffen
ist, bleibt trotz der Erfahrung des jetzigen Krieges sehr zweifelhaft.

Man könnte einwenden, daß die kräftige Unterstützung, die die "monistische
Partei demi Gedanken neuerdings -- in größerem Umfange als früher -- zuteil
werden läßt, zu denken gebe. Wenn einmal -- so heißt es -- die liberale
Regierung vollständig abgewirtschaftet haben wird, was doch infolge des
Krieges unausbleiblich ist, dann werden die Unionisten nicht umhin können, ihr
Wehrpflichtsprogramm zu verwirklichen. Ja, wenn man die Leute jetzt so reden
hört, möchte es leidlich scheinen I Aber es wird schwerlich dahin kommen.
Denn die Meinungen, die von der Opposition in England unter geeigneten
Umständen als Sturmbock gegen die Negierung verwendet werden, sehen oft
genug später ganz anders aus, wenn das nächste Ziel erreicht ist. Es ver¬
dient bemerkt zu werden, daß das Drängen zur allgemeinen Wehrpflicht aus
den Reihen der Unionisten schon sehr viel sanfter geworden ist, seit ihre
angesehensten Führer in das Kabinett Asquith mit eingetreten sind, also die
Verantwortung für einen solchen Schritt auf die gesamte Führerschaft der
Nation, nicht mehr auf eine Partei fallen würde. So hat die Agitation für
die allgemeine Wehrpflicht, die in einzelnen Mitgliedern des Kabinetts aller¬
dings eifrige Stützen hat, mehr den Zweck, die gegenwärtigen Werbungen zu
unterstützen, als das ganze Wehrsystem Englands auf eine neue Grundlage zu
stellen. Wenn unter den waffenfähigen Männern des Landes der Eindruck
entsteht, daß die allgemeine Wehrpflicht kommt, läßt sich vielleicht mancher noch
anwerben, der sonst nicht daran denken würde.

Es erscheint vielleicht auf den ersten Blick etwas übertrieben, wenn hier
auf die volkswirtschaftlichen Nachteile hingewiesen wurde, die die Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht in England zunächst im Gefolge haben würde.
Weshalb leiden wir denn nicht unter diesen Nachteilen? Die Antwort lautet:
weil unser Staatswesen auf die Wirkung dieser bei uns vollkommen ein¬
gebürgerten Einrichtung ganz anders eingestellt ist. Eine beherrschende Staats¬
idee, deren Berechtigung jedem einzelnen in Fleisch und Blut übergegangen ist,
um derentwillen der einzelne bereitwillig Opfer bringt, um dafür vieles ein-


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Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht

zuweisen, ist hier nicht der Raum, und es würde auch von dem eigentlichen
Thema abführen. Es genügt hier festzustellen, daß der in England auf¬
kommende Gedanke, jetzt durch den Zwang der allgemeinen Wehrpflicht das
Rekrutierungsgeschäft aufzubessern und sie nach dem Kriege wieder abzuschaffen,
eine große Torheit ist. Wie man wohl annehmen darf, fehlt es in England
nicht an besonnenen Leuten, die das sehr wohl wissen; deshalb ist es auch
fraglich, ob der Vorschlag, die allgemeine Wehrpflicht vorübergehend oder
probeweise einzuführen, irgendwelche ernsten Aussichten hat. Ich glaube sogar,
daß man einen Schritt weiter gehen darf und ruhig sagen kann: es ist sehr
unwahrscheinlich. Die Wahl kann schließlich nur sein zwischen dem bisherigen
Werbeftistem und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für alle Zeiten.
Ob aber für diesen letzteren Gedanken eine Stimmung in England zu schaffen
ist, bleibt trotz der Erfahrung des jetzigen Krieges sehr zweifelhaft.

Man könnte einwenden, daß die kräftige Unterstützung, die die »monistische
Partei demi Gedanken neuerdings — in größerem Umfange als früher — zuteil
werden läßt, zu denken gebe. Wenn einmal — so heißt es — die liberale
Regierung vollständig abgewirtschaftet haben wird, was doch infolge des
Krieges unausbleiblich ist, dann werden die Unionisten nicht umhin können, ihr
Wehrpflichtsprogramm zu verwirklichen. Ja, wenn man die Leute jetzt so reden
hört, möchte es leidlich scheinen I Aber es wird schwerlich dahin kommen.
Denn die Meinungen, die von der Opposition in England unter geeigneten
Umständen als Sturmbock gegen die Negierung verwendet werden, sehen oft
genug später ganz anders aus, wenn das nächste Ziel erreicht ist. Es ver¬
dient bemerkt zu werden, daß das Drängen zur allgemeinen Wehrpflicht aus
den Reihen der Unionisten schon sehr viel sanfter geworden ist, seit ihre
angesehensten Führer in das Kabinett Asquith mit eingetreten sind, also die
Verantwortung für einen solchen Schritt auf die gesamte Führerschaft der
Nation, nicht mehr auf eine Partei fallen würde. So hat die Agitation für
die allgemeine Wehrpflicht, die in einzelnen Mitgliedern des Kabinetts aller¬
dings eifrige Stützen hat, mehr den Zweck, die gegenwärtigen Werbungen zu
unterstützen, als das ganze Wehrsystem Englands auf eine neue Grundlage zu
stellen. Wenn unter den waffenfähigen Männern des Landes der Eindruck
entsteht, daß die allgemeine Wehrpflicht kommt, läßt sich vielleicht mancher noch
anwerben, der sonst nicht daran denken würde.

Es erscheint vielleicht auf den ersten Blick etwas übertrieben, wenn hier
auf die volkswirtschaftlichen Nachteile hingewiesen wurde, die die Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht in England zunächst im Gefolge haben würde.
Weshalb leiden wir denn nicht unter diesen Nachteilen? Die Antwort lautet:
weil unser Staatswesen auf die Wirkung dieser bei uns vollkommen ein¬
gebürgerten Einrichtung ganz anders eingestellt ist. Eine beherrschende Staats¬
idee, deren Berechtigung jedem einzelnen in Fleisch und Blut übergegangen ist,
um derentwillen der einzelne bereitwillig Opfer bringt, um dafür vieles ein-


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[0079] Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht zuweisen, ist hier nicht der Raum, und es würde auch von dem eigentlichen Thema abführen. Es genügt hier festzustellen, daß der in England auf¬ kommende Gedanke, jetzt durch den Zwang der allgemeinen Wehrpflicht das Rekrutierungsgeschäft aufzubessern und sie nach dem Kriege wieder abzuschaffen, eine große Torheit ist. Wie man wohl annehmen darf, fehlt es in England nicht an besonnenen Leuten, die das sehr wohl wissen; deshalb ist es auch fraglich, ob der Vorschlag, die allgemeine Wehrpflicht vorübergehend oder probeweise einzuführen, irgendwelche ernsten Aussichten hat. Ich glaube sogar, daß man einen Schritt weiter gehen darf und ruhig sagen kann: es ist sehr unwahrscheinlich. Die Wahl kann schließlich nur sein zwischen dem bisherigen Werbeftistem und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für alle Zeiten. Ob aber für diesen letzteren Gedanken eine Stimmung in England zu schaffen ist, bleibt trotz der Erfahrung des jetzigen Krieges sehr zweifelhaft. Man könnte einwenden, daß die kräftige Unterstützung, die die »monistische Partei demi Gedanken neuerdings — in größerem Umfange als früher — zuteil werden läßt, zu denken gebe. Wenn einmal — so heißt es — die liberale Regierung vollständig abgewirtschaftet haben wird, was doch infolge des Krieges unausbleiblich ist, dann werden die Unionisten nicht umhin können, ihr Wehrpflichtsprogramm zu verwirklichen. Ja, wenn man die Leute jetzt so reden hört, möchte es leidlich scheinen I Aber es wird schwerlich dahin kommen. Denn die Meinungen, die von der Opposition in England unter geeigneten Umständen als Sturmbock gegen die Negierung verwendet werden, sehen oft genug später ganz anders aus, wenn das nächste Ziel erreicht ist. Es ver¬ dient bemerkt zu werden, daß das Drängen zur allgemeinen Wehrpflicht aus den Reihen der Unionisten schon sehr viel sanfter geworden ist, seit ihre angesehensten Führer in das Kabinett Asquith mit eingetreten sind, also die Verantwortung für einen solchen Schritt auf die gesamte Führerschaft der Nation, nicht mehr auf eine Partei fallen würde. So hat die Agitation für die allgemeine Wehrpflicht, die in einzelnen Mitgliedern des Kabinetts aller¬ dings eifrige Stützen hat, mehr den Zweck, die gegenwärtigen Werbungen zu unterstützen, als das ganze Wehrsystem Englands auf eine neue Grundlage zu stellen. Wenn unter den waffenfähigen Männern des Landes der Eindruck entsteht, daß die allgemeine Wehrpflicht kommt, läßt sich vielleicht mancher noch anwerben, der sonst nicht daran denken würde. Es erscheint vielleicht auf den ersten Blick etwas übertrieben, wenn hier auf die volkswirtschaftlichen Nachteile hingewiesen wurde, die die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in England zunächst im Gefolge haben würde. Weshalb leiden wir denn nicht unter diesen Nachteilen? Die Antwort lautet: weil unser Staatswesen auf die Wirkung dieser bei uns vollkommen ein¬ gebürgerten Einrichtung ganz anders eingestellt ist. Eine beherrschende Staats¬ idee, deren Berechtigung jedem einzelnen in Fleisch und Blut übergegangen ist, um derentwillen der einzelne bereitwillig Opfer bringt, um dafür vieles ein- 5*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/79>, abgerufen am 24.08.2024.