Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.Gin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges wurde eine Politik verwirklicht, die die Erfolge des Jahres 1905 wieder rück¬ Es war klar, daß die russische Negierung einen solchen Kampf mit einiger¬ Es genügte aber nicht, wenn der Bauer gewonnen wurde, auch für die *) Martow, Der Krieg und das russische Proletariat in Ur. 1 der "Internationale im
Kriege". Gin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges wurde eine Politik verwirklicht, die die Erfolge des Jahres 1905 wieder rück¬ Es war klar, daß die russische Negierung einen solchen Kampf mit einiger¬ Es genügte aber nicht, wenn der Bauer gewonnen wurde, auch für die *) Martow, Der Krieg und das russische Proletariat in Ur. 1 der „Internationale im
Kriege". <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0394" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324809"/> <fw type="header" place="top"> Gin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges</fw><lb/> <p xml:id="ID_1413" prev="#ID_1412"> wurde eine Politik verwirklicht, die die Erfolge des Jahres 1905 wieder rück¬<lb/> gängig machte. Ihre Wirkung war in der inneren Politik steigende Entfrem¬<lb/> dung von Regierung und Volk und der Wunsch im Volke, diese verhängnis¬<lb/> volle Entwickelung zu hemmen. Keime zu einer zweiten Revolution mußten<lb/> durch eine solche Politik gelegt werden, die eine vollkommen innere Be¬<lb/> ruhigung des Landes — eine Entwickelung nach Analogie des Preußens nach<lb/> der 48er Revolution — unmöglich machte. Das Land, dem jedes Ideal ge¬<lb/> nommen wurde, ging durch eine Periode hindurch, für deren Gefühlsleben der<lb/> Artzibaschew'sche Roman Sanin bezeichnend ist, ein Ekel der Gemüter vor dem<lb/> politischen Treiben hatte die Besten des Landes erfaßt — unten aber gärte<lb/> und brodelte es langsam weiter. In der Duma sahen wir in allen Fragen<lb/> der inneren Politik einen ständigen Kampf der Regierung mit dem Volke, das<lb/> vergeblich versuchte, sich dem Streben seines Herrschers, der auf eine immer<lb/> größere Entrechtung des Landes hinauswollte, zu widersetzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1414"> Es war klar, daß die russische Negierung einen solchen Kampf mit einiger¬<lb/> maßen Aussicht auf Erfolg nur dann führen konnte, wenn sie ein Ventil öffnete,<lb/> das die Aufmerksamkeit des Volkes in eine andere Richtung lenkte, und<lb/> wenn es ihr gelang, die russische Gesellschaft von den brennendsten inneren<lb/> Fragen durch Fesselung an andere große Probleme wegzuorientieren. Stolypin<lb/> der in seiner Art ein Mann von großen Gesichtspunkten war, erkannte diese<lb/> Notwendigkeit genau. Er wollte an Stelle der Revolution die „Evolution"<lb/> von innen setzen, wie es der russische Sozialist Martow, dessen Gedankengängen*)<lb/> ich hier teilweise folge, genannt hat. Zunächst mußten die Bauern, wenn es<lb/> irgendwie ging, durch eine Agrarreform den revolutionären Bestrebungen ent¬<lb/> fremdet werden, denn die Haltung der Bauern hatte noch bei der letzten Revo¬<lb/> lution eine große Rolle gespielt, und nicht umsonst war es das Ideal der alten<lb/> Narodniki gewesen, ihre Ideen vor allem auf den Bauern zu übertragen, ins<lb/> Volk zu gehen. Die revolutionäre Arbeit des russischen Volksschullehrers und<lb/> Studenten sollte durch die Agrarreform von innen heraus unwirksam ge¬<lb/> macht werden. Ich will natürlich nicht behaupten, daß diese Gedankengänge<lb/> allein den Anstoß zu der großen Stolypm'schen Reform gaben — Stolypin<lb/> wollte auch die Wirtschaft des russischen Bauern verbessern und das ganze Land<lb/> dadurch auf einen gesunden wirtschaftlichen Boden stellen —, ich nehme aber<lb/> wohl an, daß dieser Beweggrund der wichtigste für die Stolypin'sche Politik<lb/> gewesen ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1415" next="#ID_1416"> Es genügte aber nicht, wenn der Bauer gewonnen wurde, auch für die<lb/> Intelligenz mußte ein Ziel gefunden werden, das sie von dem Elend der<lb/> inneren Politik, vom Gedanken an eine zweite Revolution wegführte und ihre<lb/> Wege auf irgend eine Weise mit den Interessen der Regierung verknüpfte.</p><lb/> <note xml:id="FID_94" place="foot"> *) Martow, Der Krieg und das russische Proletariat in Ur. 1 der „Internationale im<lb/> Kriege".</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0394]
Gin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges
wurde eine Politik verwirklicht, die die Erfolge des Jahres 1905 wieder rück¬
gängig machte. Ihre Wirkung war in der inneren Politik steigende Entfrem¬
dung von Regierung und Volk und der Wunsch im Volke, diese verhängnis¬
volle Entwickelung zu hemmen. Keime zu einer zweiten Revolution mußten
durch eine solche Politik gelegt werden, die eine vollkommen innere Be¬
ruhigung des Landes — eine Entwickelung nach Analogie des Preußens nach
der 48er Revolution — unmöglich machte. Das Land, dem jedes Ideal ge¬
nommen wurde, ging durch eine Periode hindurch, für deren Gefühlsleben der
Artzibaschew'sche Roman Sanin bezeichnend ist, ein Ekel der Gemüter vor dem
politischen Treiben hatte die Besten des Landes erfaßt — unten aber gärte
und brodelte es langsam weiter. In der Duma sahen wir in allen Fragen
der inneren Politik einen ständigen Kampf der Regierung mit dem Volke, das
vergeblich versuchte, sich dem Streben seines Herrschers, der auf eine immer
größere Entrechtung des Landes hinauswollte, zu widersetzen.
Es war klar, daß die russische Negierung einen solchen Kampf mit einiger¬
maßen Aussicht auf Erfolg nur dann führen konnte, wenn sie ein Ventil öffnete,
das die Aufmerksamkeit des Volkes in eine andere Richtung lenkte, und
wenn es ihr gelang, die russische Gesellschaft von den brennendsten inneren
Fragen durch Fesselung an andere große Probleme wegzuorientieren. Stolypin
der in seiner Art ein Mann von großen Gesichtspunkten war, erkannte diese
Notwendigkeit genau. Er wollte an Stelle der Revolution die „Evolution"
von innen setzen, wie es der russische Sozialist Martow, dessen Gedankengängen*)
ich hier teilweise folge, genannt hat. Zunächst mußten die Bauern, wenn es
irgendwie ging, durch eine Agrarreform den revolutionären Bestrebungen ent¬
fremdet werden, denn die Haltung der Bauern hatte noch bei der letzten Revo¬
lution eine große Rolle gespielt, und nicht umsonst war es das Ideal der alten
Narodniki gewesen, ihre Ideen vor allem auf den Bauern zu übertragen, ins
Volk zu gehen. Die revolutionäre Arbeit des russischen Volksschullehrers und
Studenten sollte durch die Agrarreform von innen heraus unwirksam ge¬
macht werden. Ich will natürlich nicht behaupten, daß diese Gedankengänge
allein den Anstoß zu der großen Stolypm'schen Reform gaben — Stolypin
wollte auch die Wirtschaft des russischen Bauern verbessern und das ganze Land
dadurch auf einen gesunden wirtschaftlichen Boden stellen —, ich nehme aber
wohl an, daß dieser Beweggrund der wichtigste für die Stolypin'sche Politik
gewesen ist.
Es genügte aber nicht, wenn der Bauer gewonnen wurde, auch für die
Intelligenz mußte ein Ziel gefunden werden, das sie von dem Elend der
inneren Politik, vom Gedanken an eine zweite Revolution wegführte und ihre
Wege auf irgend eine Weise mit den Interessen der Regierung verknüpfte.
*) Martow, Der Krieg und das russische Proletariat in Ur. 1 der „Internationale im
Kriege".
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