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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Gin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges

In Rußland war das Ministerium Kokowtzoff von Goremykin abgelöst,
der im Sinne der reaktionären einflußreichen Hofclique, die den Zaren umgab,
die Zügel straffer anziehen sollte, die nach ihrer Ansicht Kokowtzoff zu sehr am
Boden hatte schleifen lassen. Man ahnte in einem Teil des russischen Volkes,
was dieses Ministerium für Rußland bedeuten würde, und selten ist ein Staats¬
mann so ablehnend und kalt von einem Parlament empfangen worden wie
Goremykin bei seinem Amtsantritt; besonders von den Sozialisten und den
extremen Linken, die die Polizeiregierung der Rechtsparteien nur zu gut kannten.
Zusammenstöße konnten nicht ausbleiben. Die in Rußland ganz revolutionär
orientierte Arbeiterschaft benutzte die Anwesenheit von Poincarö und Viviani
in Petersburg zu großen Streiks -- den ersten bedeutenden politischen Streiks
nach der Revolution. Es floß Blut auf den Straßen der Hauptstadt und
Poincarö konnte die Schüsse hören, mit denen die Gegner der Negierungspolitik
zu Boden geknallt wurden.

Man hat nach dem Kriegsausbruch in den russischen Zeitungen vom
Schlsge der Nowoje Wremja das Gerücht verbreitet, die deutsche Regierung
hätte hinter diesen Vorgängen gestanden, man hat unserem Botschafter eine Art
Verschwörertätigkeit angedichtet, die er die ganze Zeit seiner Anwesenheit in
Rußland mit ungeheuren Geldsummen betrieben haben soll. Solche plumpe
Verleumdungen, die durch nichts bewiesen worden find, zeugen nur davon, daß
man selbst in dieser Beziehung sich einer Schuld bewußt war, die man durch
Angriffe auf andere verdecken wollte.

Genau so bei den englischen Wirren. Man hat zwar nicht behauptet,
daß etwa der Fürst Lichnowsky die irische Bewegung hervorgerufen oder be¬
günstigt hätte, weil das der deutschen Politik in dieser natürlich von Deutsch¬
land arrangierten Weltkrise nützlich war -- ganz so plump wie die Russen
find die englischen Politiker nicht --, aber man hat gesagt, Deutschland habe
die schwierige innere Situation Englands ausnutzen wollen, um in dem inter¬
nationalen Konflikte fest aufzutreten.

Es gibt im neutralen und namentlich in dem Deutschland nicht wohl¬
gesinnten Publikum gewisser Länder viele Leute, die solche Märchen glauben --
in England ist diese Mär zum Allgemeingut des Volkes geworden. Die Leute
halten uns für dümmer als wir wirklich sind, und andererseits -- das müssen
wir als mildernden Umstand hinzufügen -- ist das englische Publikum in
Wahrheit durchschnittlich dümmer als wir es glauben. Selbst die geistig am
höchsten stehenden Leute in England -- auch solche, denen Deutschland und deutsches
Denken gut bekannt sind, wenden heute dieselben Phrasen an, bedienen sich bet
der Einschätzung des Weltkonflikts derselben Schlagwörter, die die englische
Presse zurechtmacht. Die Leiter dieser Presse und die englische Regierung allein
besitzen die Fähigkeit, das englische Publikum richtig einzuschätzen.

Hat nicht die Geschichte aller Zeiten und Völker bewiesen, daß ein Volk,
das innere Fehden und Kämpfe durchzumachen hat, durch nichts fester aneinander


Gin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges

In Rußland war das Ministerium Kokowtzoff von Goremykin abgelöst,
der im Sinne der reaktionären einflußreichen Hofclique, die den Zaren umgab,
die Zügel straffer anziehen sollte, die nach ihrer Ansicht Kokowtzoff zu sehr am
Boden hatte schleifen lassen. Man ahnte in einem Teil des russischen Volkes,
was dieses Ministerium für Rußland bedeuten würde, und selten ist ein Staats¬
mann so ablehnend und kalt von einem Parlament empfangen worden wie
Goremykin bei seinem Amtsantritt; besonders von den Sozialisten und den
extremen Linken, die die Polizeiregierung der Rechtsparteien nur zu gut kannten.
Zusammenstöße konnten nicht ausbleiben. Die in Rußland ganz revolutionär
orientierte Arbeiterschaft benutzte die Anwesenheit von Poincarö und Viviani
in Petersburg zu großen Streiks — den ersten bedeutenden politischen Streiks
nach der Revolution. Es floß Blut auf den Straßen der Hauptstadt und
Poincarö konnte die Schüsse hören, mit denen die Gegner der Negierungspolitik
zu Boden geknallt wurden.

Man hat nach dem Kriegsausbruch in den russischen Zeitungen vom
Schlsge der Nowoje Wremja das Gerücht verbreitet, die deutsche Regierung
hätte hinter diesen Vorgängen gestanden, man hat unserem Botschafter eine Art
Verschwörertätigkeit angedichtet, die er die ganze Zeit seiner Anwesenheit in
Rußland mit ungeheuren Geldsummen betrieben haben soll. Solche plumpe
Verleumdungen, die durch nichts bewiesen worden find, zeugen nur davon, daß
man selbst in dieser Beziehung sich einer Schuld bewußt war, die man durch
Angriffe auf andere verdecken wollte.

Genau so bei den englischen Wirren. Man hat zwar nicht behauptet,
daß etwa der Fürst Lichnowsky die irische Bewegung hervorgerufen oder be¬
günstigt hätte, weil das der deutschen Politik in dieser natürlich von Deutsch¬
land arrangierten Weltkrise nützlich war — ganz so plump wie die Russen
find die englischen Politiker nicht —, aber man hat gesagt, Deutschland habe
die schwierige innere Situation Englands ausnutzen wollen, um in dem inter¬
nationalen Konflikte fest aufzutreten.

Es gibt im neutralen und namentlich in dem Deutschland nicht wohl¬
gesinnten Publikum gewisser Länder viele Leute, die solche Märchen glauben —
in England ist diese Mär zum Allgemeingut des Volkes geworden. Die Leute
halten uns für dümmer als wir wirklich sind, und andererseits — das müssen
wir als mildernden Umstand hinzufügen — ist das englische Publikum in
Wahrheit durchschnittlich dümmer als wir es glauben. Selbst die geistig am
höchsten stehenden Leute in England — auch solche, denen Deutschland und deutsches
Denken gut bekannt sind, wenden heute dieselben Phrasen an, bedienen sich bet
der Einschätzung des Weltkonflikts derselben Schlagwörter, die die englische
Presse zurechtmacht. Die Leiter dieser Presse und die englische Regierung allein
besitzen die Fähigkeit, das englische Publikum richtig einzuschätzen.

Hat nicht die Geschichte aller Zeiten und Völker bewiesen, daß ein Volk,
das innere Fehden und Kämpfe durchzumachen hat, durch nichts fester aneinander


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[0392] Gin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges In Rußland war das Ministerium Kokowtzoff von Goremykin abgelöst, der im Sinne der reaktionären einflußreichen Hofclique, die den Zaren umgab, die Zügel straffer anziehen sollte, die nach ihrer Ansicht Kokowtzoff zu sehr am Boden hatte schleifen lassen. Man ahnte in einem Teil des russischen Volkes, was dieses Ministerium für Rußland bedeuten würde, und selten ist ein Staats¬ mann so ablehnend und kalt von einem Parlament empfangen worden wie Goremykin bei seinem Amtsantritt; besonders von den Sozialisten und den extremen Linken, die die Polizeiregierung der Rechtsparteien nur zu gut kannten. Zusammenstöße konnten nicht ausbleiben. Die in Rußland ganz revolutionär orientierte Arbeiterschaft benutzte die Anwesenheit von Poincarö und Viviani in Petersburg zu großen Streiks — den ersten bedeutenden politischen Streiks nach der Revolution. Es floß Blut auf den Straßen der Hauptstadt und Poincarö konnte die Schüsse hören, mit denen die Gegner der Negierungspolitik zu Boden geknallt wurden. Man hat nach dem Kriegsausbruch in den russischen Zeitungen vom Schlsge der Nowoje Wremja das Gerücht verbreitet, die deutsche Regierung hätte hinter diesen Vorgängen gestanden, man hat unserem Botschafter eine Art Verschwörertätigkeit angedichtet, die er die ganze Zeit seiner Anwesenheit in Rußland mit ungeheuren Geldsummen betrieben haben soll. Solche plumpe Verleumdungen, die durch nichts bewiesen worden find, zeugen nur davon, daß man selbst in dieser Beziehung sich einer Schuld bewußt war, die man durch Angriffe auf andere verdecken wollte. Genau so bei den englischen Wirren. Man hat zwar nicht behauptet, daß etwa der Fürst Lichnowsky die irische Bewegung hervorgerufen oder be¬ günstigt hätte, weil das der deutschen Politik in dieser natürlich von Deutsch¬ land arrangierten Weltkrise nützlich war — ganz so plump wie die Russen find die englischen Politiker nicht —, aber man hat gesagt, Deutschland habe die schwierige innere Situation Englands ausnutzen wollen, um in dem inter¬ nationalen Konflikte fest aufzutreten. Es gibt im neutralen und namentlich in dem Deutschland nicht wohl¬ gesinnten Publikum gewisser Länder viele Leute, die solche Märchen glauben — in England ist diese Mär zum Allgemeingut des Volkes geworden. Die Leute halten uns für dümmer als wir wirklich sind, und andererseits — das müssen wir als mildernden Umstand hinzufügen — ist das englische Publikum in Wahrheit durchschnittlich dümmer als wir es glauben. Selbst die geistig am höchsten stehenden Leute in England — auch solche, denen Deutschland und deutsches Denken gut bekannt sind, wenden heute dieselben Phrasen an, bedienen sich bet der Einschätzung des Weltkonflikts derselben Schlagwörter, die die englische Presse zurechtmacht. Die Leiter dieser Presse und die englische Regierung allein besitzen die Fähigkeit, das englische Publikum richtig einzuschätzen. Hat nicht die Geschichte aller Zeiten und Völker bewiesen, daß ein Volk, das innere Fehden und Kämpfe durchzumachen hat, durch nichts fester aneinander

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/392>, abgerufen am 22.07.2024.