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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Vorurteil, daß alle süßen Speisen bloße Gaumenreize sind, die keine Kraft
liefern könnten: das gerade Gegenteil ist wahr. Dabei ist der Zucker infolge seines
verhältnismäßig geringen Preises ein sehr wohlfeiles Nahrungsmittel. Zur Zeit
unserer Großeltern war es gewiß berechtigt, wenn die sparsame Hausfrau die
Zuckerdose in besonders sorgsamer Obhut hielt, um einen zu reichlichen Verbrauch zu
verhindern, heute könnte man im Gegenteil sagen, daß sie--soweit nicht die Besorgnis
vor Verdauungsstörungen in Frage kommt -- am besten daran täte, sie ihren
Hausgenossen zur freien Verfügung zu stellen, denn billiger als mit Zucker
kann sie sie kaum ernähren. Durch Steigerung des Zuckerverbrauchs kann der
Fettmangel in unserer Nahrung am einfachsten aufgewogen werden. Unser
Verbrauch an Zucker betrug bisher, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet,
noch nicht halb soviel wie in Nordamerika und England, er ist also einer sehr
erheblichen Steigerung fähig, wie das Beispiel dieser Länder beweist. Die ge¬
waltigen Zuckermengen, die Deutschland im Frieden ausführte, bleiben jetzt im
Lande; sie können und müssen den Ersatz für die abgeschnittene Zufuhr an
anderen Nahrungsmitteln bilden.

Die notwendige Veränderung in der Zusammensetzung unserer Nahrung
kann also an sich ohne jede Beeinträchtigung ihres Kraftwertes stattfinden.
Aber man darf gleichwohl ihre praktische Bedeutung nicht ganz gering schätzen.
Es genügt nicht, daß überhaupt eine ausreichende Nahrung vorhanden ist, sie
muß auch in der genügenden Menge aufgenommen werden. Darüber ent¬
scheidet unser Appetit, er bedingt es, daß im allgemeinen die Menschen unbe¬
wußt, ohne Kenntnis der Gesetze der Ernährung, gerade soviel Nahrung auf¬
nehmen, als für sie erforderlich ist. Nun weiß jedermann, wie sehr unser
Appetit von der gewohnten Zusammensetzung unserer Kost abhängig ist.
Eine Nahrung, die uns fremdartig anmutet, wird leicht verschmäht, auch wenn
wir überzeugt sind, daß sie vielleicht nahrhafter ist als unsere gewohnte Kost.
Wenn wir jetzt zu Änderungen in der Art unserer Nahrung gezwungen sind,
so wird dadurch die Aufnahmefähigkeit unzweifelhaft erschwert werden. Hier
kommt die Zunahme des Volumens der Kost, wie sie durch die stärkere Ver¬
wendung kohlehydrathaltiger Nahrungsmittel beti-igt wird, und das Fehlen
gewohnter Geschmacksreize besonders in Frage. Das Fleisch spielt in unserer
Ernährung auch als Genußstoff eine wichtige Rolle, die verschiedenen Fleisch-
sorten mit ihrem wechselnden Geschmack, die mannigfaltige Möglichkeit der Zu¬
bereitung bedingen vor allem den uns so erwünschten Wechsel in unserer
Nahrung von einem Tag zum andern. Durch den Verzicht auf das Fleisch
wird unsere Kost keineswegs weniger nahrhaft, aber sie wird leicht eintöniger
und damit weniger appetitreizend werden. Erkennt man einmal diese Folge,
so kann man ihr bewußt entgegentreten. Es muß die Aufgabe der Küche sein,
uns durch zweckmäßige Zubereitung der Nahrung in der Zusammensetzung,
wie sie uns die Rücksicht" auf die heutige Zeit vorschreibt, die Änderung so
wenig bemerklich zu machen wie möglich. Auch mit den Nahrungsstoffen, die


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Krieg und «Lrnähruiig

Vorurteil, daß alle süßen Speisen bloße Gaumenreize sind, die keine Kraft
liefern könnten: das gerade Gegenteil ist wahr. Dabei ist der Zucker infolge seines
verhältnismäßig geringen Preises ein sehr wohlfeiles Nahrungsmittel. Zur Zeit
unserer Großeltern war es gewiß berechtigt, wenn die sparsame Hausfrau die
Zuckerdose in besonders sorgsamer Obhut hielt, um einen zu reichlichen Verbrauch zu
verhindern, heute könnte man im Gegenteil sagen, daß sie—soweit nicht die Besorgnis
vor Verdauungsstörungen in Frage kommt — am besten daran täte, sie ihren
Hausgenossen zur freien Verfügung zu stellen, denn billiger als mit Zucker
kann sie sie kaum ernähren. Durch Steigerung des Zuckerverbrauchs kann der
Fettmangel in unserer Nahrung am einfachsten aufgewogen werden. Unser
Verbrauch an Zucker betrug bisher, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet,
noch nicht halb soviel wie in Nordamerika und England, er ist also einer sehr
erheblichen Steigerung fähig, wie das Beispiel dieser Länder beweist. Die ge¬
waltigen Zuckermengen, die Deutschland im Frieden ausführte, bleiben jetzt im
Lande; sie können und müssen den Ersatz für die abgeschnittene Zufuhr an
anderen Nahrungsmitteln bilden.

Die notwendige Veränderung in der Zusammensetzung unserer Nahrung
kann also an sich ohne jede Beeinträchtigung ihres Kraftwertes stattfinden.
Aber man darf gleichwohl ihre praktische Bedeutung nicht ganz gering schätzen.
Es genügt nicht, daß überhaupt eine ausreichende Nahrung vorhanden ist, sie
muß auch in der genügenden Menge aufgenommen werden. Darüber ent¬
scheidet unser Appetit, er bedingt es, daß im allgemeinen die Menschen unbe¬
wußt, ohne Kenntnis der Gesetze der Ernährung, gerade soviel Nahrung auf¬
nehmen, als für sie erforderlich ist. Nun weiß jedermann, wie sehr unser
Appetit von der gewohnten Zusammensetzung unserer Kost abhängig ist.
Eine Nahrung, die uns fremdartig anmutet, wird leicht verschmäht, auch wenn
wir überzeugt sind, daß sie vielleicht nahrhafter ist als unsere gewohnte Kost.
Wenn wir jetzt zu Änderungen in der Art unserer Nahrung gezwungen sind,
so wird dadurch die Aufnahmefähigkeit unzweifelhaft erschwert werden. Hier
kommt die Zunahme des Volumens der Kost, wie sie durch die stärkere Ver¬
wendung kohlehydrathaltiger Nahrungsmittel beti-igt wird, und das Fehlen
gewohnter Geschmacksreize besonders in Frage. Das Fleisch spielt in unserer
Ernährung auch als Genußstoff eine wichtige Rolle, die verschiedenen Fleisch-
sorten mit ihrem wechselnden Geschmack, die mannigfaltige Möglichkeit der Zu¬
bereitung bedingen vor allem den uns so erwünschten Wechsel in unserer
Nahrung von einem Tag zum andern. Durch den Verzicht auf das Fleisch
wird unsere Kost keineswegs weniger nahrhaft, aber sie wird leicht eintöniger
und damit weniger appetitreizend werden. Erkennt man einmal diese Folge,
so kann man ihr bewußt entgegentreten. Es muß die Aufgabe der Küche sein,
uns durch zweckmäßige Zubereitung der Nahrung in der Zusammensetzung,
wie sie uns die Rücksicht" auf die heutige Zeit vorschreibt, die Änderung so
wenig bemerklich zu machen wie möglich. Auch mit den Nahrungsstoffen, die


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[0345] Krieg und «Lrnähruiig Vorurteil, daß alle süßen Speisen bloße Gaumenreize sind, die keine Kraft liefern könnten: das gerade Gegenteil ist wahr. Dabei ist der Zucker infolge seines verhältnismäßig geringen Preises ein sehr wohlfeiles Nahrungsmittel. Zur Zeit unserer Großeltern war es gewiß berechtigt, wenn die sparsame Hausfrau die Zuckerdose in besonders sorgsamer Obhut hielt, um einen zu reichlichen Verbrauch zu verhindern, heute könnte man im Gegenteil sagen, daß sie—soweit nicht die Besorgnis vor Verdauungsstörungen in Frage kommt — am besten daran täte, sie ihren Hausgenossen zur freien Verfügung zu stellen, denn billiger als mit Zucker kann sie sie kaum ernähren. Durch Steigerung des Zuckerverbrauchs kann der Fettmangel in unserer Nahrung am einfachsten aufgewogen werden. Unser Verbrauch an Zucker betrug bisher, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, noch nicht halb soviel wie in Nordamerika und England, er ist also einer sehr erheblichen Steigerung fähig, wie das Beispiel dieser Länder beweist. Die ge¬ waltigen Zuckermengen, die Deutschland im Frieden ausführte, bleiben jetzt im Lande; sie können und müssen den Ersatz für die abgeschnittene Zufuhr an anderen Nahrungsmitteln bilden. Die notwendige Veränderung in der Zusammensetzung unserer Nahrung kann also an sich ohne jede Beeinträchtigung ihres Kraftwertes stattfinden. Aber man darf gleichwohl ihre praktische Bedeutung nicht ganz gering schätzen. Es genügt nicht, daß überhaupt eine ausreichende Nahrung vorhanden ist, sie muß auch in der genügenden Menge aufgenommen werden. Darüber ent¬ scheidet unser Appetit, er bedingt es, daß im allgemeinen die Menschen unbe¬ wußt, ohne Kenntnis der Gesetze der Ernährung, gerade soviel Nahrung auf¬ nehmen, als für sie erforderlich ist. Nun weiß jedermann, wie sehr unser Appetit von der gewohnten Zusammensetzung unserer Kost abhängig ist. Eine Nahrung, die uns fremdartig anmutet, wird leicht verschmäht, auch wenn wir überzeugt sind, daß sie vielleicht nahrhafter ist als unsere gewohnte Kost. Wenn wir jetzt zu Änderungen in der Art unserer Nahrung gezwungen sind, so wird dadurch die Aufnahmefähigkeit unzweifelhaft erschwert werden. Hier kommt die Zunahme des Volumens der Kost, wie sie durch die stärkere Ver¬ wendung kohlehydrathaltiger Nahrungsmittel beti-igt wird, und das Fehlen gewohnter Geschmacksreize besonders in Frage. Das Fleisch spielt in unserer Ernährung auch als Genußstoff eine wichtige Rolle, die verschiedenen Fleisch- sorten mit ihrem wechselnden Geschmack, die mannigfaltige Möglichkeit der Zu¬ bereitung bedingen vor allem den uns so erwünschten Wechsel in unserer Nahrung von einem Tag zum andern. Durch den Verzicht auf das Fleisch wird unsere Kost keineswegs weniger nahrhaft, aber sie wird leicht eintöniger und damit weniger appetitreizend werden. Erkennt man einmal diese Folge, so kann man ihr bewußt entgegentreten. Es muß die Aufgabe der Küche sein, uns durch zweckmäßige Zubereitung der Nahrung in der Zusammensetzung, wie sie uns die Rücksicht" auf die heutige Zeit vorschreibt, die Änderung so wenig bemerklich zu machen wie möglich. Auch mit den Nahrungsstoffen, die 22*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/345>, abgerufen am 22.07.2024.