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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Aus der modernen Ästhetik

werde. Man dachte sich den Menschen als im Grunde doch so typisch gleich¬
artig beschaffen, daß man von den individuellen Differenzen absah. Mit dieser
Auffassung bricht Müller-Freienfels. Er stellt eine ästhetische Typenreihe auf.
Die Menschen erleben, so zeigt er uns, die Kunstwerke keineswegs gleichartig,
sondern in recht verschiedener Weise. Aber doch wiederum nicht so verschieden,
daß sich nicht eine höhere Verwandtschaft zwischen ganzen Gruppen von Personen
fände. Es gibt bestimmte Erlebenstypen.

Eine solche Verschiedenheit von Individuum zu Individuum ist überhaupt
möglich, weil jedes Kunstergenießcn eine Mehrheit von psychischen Seiten in sich
schließt. Die Auffassung eines Kunstwerkes ist kein reiner Sinnesvorgang, nicht
ein bloßes Sehen oder Hören, sondern mit dem Sehen und Hören stndBewegnngs-
vorstellungen, Phantasievorstellungen anderer Art und auch Denkvorgänge im
engeren Sinne verbunden, endlich noch, und nicht am wenigsten, eine Fülle
affektiver Vorgänge, die nicht fehlen könnten, ohne daß wir nicht überhaupt
aufhören würden, ästhetische Erfahrungen zu haben. Je nachdem nun die eine
oder die andere Seite in einem Individuum die Oberhand hat, ist sein Kunst¬
erleben ein von dem anderer Menschen wesentlich verschiedenes. Müller-Freienfels
fixiert zunächst die Typen der intellektuellen Teilprozesse und stellt nicht weniger
als sechs davon auf, die wohl unterscheidbar sind. Nicht ganz so gut in ein
förmliches zahlenmäßiges Schema fügen sich die affektwen Verschiedenheiten,
deren Vorhandensein ebenfalls nachgewiesen wird. Was der Aufstellung einer
ebenso übersichtlichen "Tafel der affektiver Typen" entgegensteht, ist augenscheinlich
der im Verhältnis zur Psychologie der intellektuellen Vorgänge weniger hoch
entwickelte Zustand der Gefühlspsychologie.

Soviel mir bekannt, ist Müller-Freienfels der erste Ästhetiker, der mit
Freimut das Zugeständnis macht, daß dasselbe Kunstwerk von verschiedenen
Personen verschieden erlebt wird, und der diese Tatsache gelten läßt, ohne sie
mit dem Verdikt des Unerlaubtem zu brandmarken. Es gehört vielmehr zu
der Objektivität und entspricht dem bewußt rein deskriptiven Standpunkt des
Autors, daß er das Leben nicht maßregelt, sondern seinen Reichtum vor uns
ausbreitet. Darin liegt ein Hauptwert seines Werkes und seine Eigenart.
Ich kenne kein anderes ästhetisches Buch, das in dieser Unmittelbarkeit das
faktische Leben in den Kunstgenießenden spiegelt.

Nur ein romantisches Zeitalter, wie die Gegenwart es ist, war imstande,
diese Leistung zu vollziehen, das Vorurteil von der Gleichartigkeit des ästhetischen
Lebens zu durchbrechen und die typischen Verschiedenheiten darin aufzudecken.
Denn dazu gehörte eine Vereinigung von universeller Einfühlungsfähigkeit und
Neigung zu theoretischer Reflexion darüber.

Gegenüber diesen zentralen Teilen der Arbeit sieht sich der Leser der
Gefahr ausgesetzt, den übrigen nicht das gleiche Maß von Anteilnahme zuzu¬
wenden. Mit Unrecht. Denn auch sie sind voll von eigenen Beobachtungen und
reifen, gegründeten Urteilen. Recht gut werden wir unterrichtet über das


Aus der modernen Ästhetik

werde. Man dachte sich den Menschen als im Grunde doch so typisch gleich¬
artig beschaffen, daß man von den individuellen Differenzen absah. Mit dieser
Auffassung bricht Müller-Freienfels. Er stellt eine ästhetische Typenreihe auf.
Die Menschen erleben, so zeigt er uns, die Kunstwerke keineswegs gleichartig,
sondern in recht verschiedener Weise. Aber doch wiederum nicht so verschieden,
daß sich nicht eine höhere Verwandtschaft zwischen ganzen Gruppen von Personen
fände. Es gibt bestimmte Erlebenstypen.

Eine solche Verschiedenheit von Individuum zu Individuum ist überhaupt
möglich, weil jedes Kunstergenießcn eine Mehrheit von psychischen Seiten in sich
schließt. Die Auffassung eines Kunstwerkes ist kein reiner Sinnesvorgang, nicht
ein bloßes Sehen oder Hören, sondern mit dem Sehen und Hören stndBewegnngs-
vorstellungen, Phantasievorstellungen anderer Art und auch Denkvorgänge im
engeren Sinne verbunden, endlich noch, und nicht am wenigsten, eine Fülle
affektiver Vorgänge, die nicht fehlen könnten, ohne daß wir nicht überhaupt
aufhören würden, ästhetische Erfahrungen zu haben. Je nachdem nun die eine
oder die andere Seite in einem Individuum die Oberhand hat, ist sein Kunst¬
erleben ein von dem anderer Menschen wesentlich verschiedenes. Müller-Freienfels
fixiert zunächst die Typen der intellektuellen Teilprozesse und stellt nicht weniger
als sechs davon auf, die wohl unterscheidbar sind. Nicht ganz so gut in ein
förmliches zahlenmäßiges Schema fügen sich die affektwen Verschiedenheiten,
deren Vorhandensein ebenfalls nachgewiesen wird. Was der Aufstellung einer
ebenso übersichtlichen „Tafel der affektiver Typen" entgegensteht, ist augenscheinlich
der im Verhältnis zur Psychologie der intellektuellen Vorgänge weniger hoch
entwickelte Zustand der Gefühlspsychologie.

Soviel mir bekannt, ist Müller-Freienfels der erste Ästhetiker, der mit
Freimut das Zugeständnis macht, daß dasselbe Kunstwerk von verschiedenen
Personen verschieden erlebt wird, und der diese Tatsache gelten läßt, ohne sie
mit dem Verdikt des Unerlaubtem zu brandmarken. Es gehört vielmehr zu
der Objektivität und entspricht dem bewußt rein deskriptiven Standpunkt des
Autors, daß er das Leben nicht maßregelt, sondern seinen Reichtum vor uns
ausbreitet. Darin liegt ein Hauptwert seines Werkes und seine Eigenart.
Ich kenne kein anderes ästhetisches Buch, das in dieser Unmittelbarkeit das
faktische Leben in den Kunstgenießenden spiegelt.

Nur ein romantisches Zeitalter, wie die Gegenwart es ist, war imstande,
diese Leistung zu vollziehen, das Vorurteil von der Gleichartigkeit des ästhetischen
Lebens zu durchbrechen und die typischen Verschiedenheiten darin aufzudecken.
Denn dazu gehörte eine Vereinigung von universeller Einfühlungsfähigkeit und
Neigung zu theoretischer Reflexion darüber.

Gegenüber diesen zentralen Teilen der Arbeit sieht sich der Leser der
Gefahr ausgesetzt, den übrigen nicht das gleiche Maß von Anteilnahme zuzu¬
wenden. Mit Unrecht. Denn auch sie sind voll von eigenen Beobachtungen und
reifen, gegründeten Urteilen. Recht gut werden wir unterrichtet über das


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[0324] Aus der modernen Ästhetik werde. Man dachte sich den Menschen als im Grunde doch so typisch gleich¬ artig beschaffen, daß man von den individuellen Differenzen absah. Mit dieser Auffassung bricht Müller-Freienfels. Er stellt eine ästhetische Typenreihe auf. Die Menschen erleben, so zeigt er uns, die Kunstwerke keineswegs gleichartig, sondern in recht verschiedener Weise. Aber doch wiederum nicht so verschieden, daß sich nicht eine höhere Verwandtschaft zwischen ganzen Gruppen von Personen fände. Es gibt bestimmte Erlebenstypen. Eine solche Verschiedenheit von Individuum zu Individuum ist überhaupt möglich, weil jedes Kunstergenießcn eine Mehrheit von psychischen Seiten in sich schließt. Die Auffassung eines Kunstwerkes ist kein reiner Sinnesvorgang, nicht ein bloßes Sehen oder Hören, sondern mit dem Sehen und Hören stndBewegnngs- vorstellungen, Phantasievorstellungen anderer Art und auch Denkvorgänge im engeren Sinne verbunden, endlich noch, und nicht am wenigsten, eine Fülle affektiver Vorgänge, die nicht fehlen könnten, ohne daß wir nicht überhaupt aufhören würden, ästhetische Erfahrungen zu haben. Je nachdem nun die eine oder die andere Seite in einem Individuum die Oberhand hat, ist sein Kunst¬ erleben ein von dem anderer Menschen wesentlich verschiedenes. Müller-Freienfels fixiert zunächst die Typen der intellektuellen Teilprozesse und stellt nicht weniger als sechs davon auf, die wohl unterscheidbar sind. Nicht ganz so gut in ein förmliches zahlenmäßiges Schema fügen sich die affektwen Verschiedenheiten, deren Vorhandensein ebenfalls nachgewiesen wird. Was der Aufstellung einer ebenso übersichtlichen „Tafel der affektiver Typen" entgegensteht, ist augenscheinlich der im Verhältnis zur Psychologie der intellektuellen Vorgänge weniger hoch entwickelte Zustand der Gefühlspsychologie. Soviel mir bekannt, ist Müller-Freienfels der erste Ästhetiker, der mit Freimut das Zugeständnis macht, daß dasselbe Kunstwerk von verschiedenen Personen verschieden erlebt wird, und der diese Tatsache gelten läßt, ohne sie mit dem Verdikt des Unerlaubtem zu brandmarken. Es gehört vielmehr zu der Objektivität und entspricht dem bewußt rein deskriptiven Standpunkt des Autors, daß er das Leben nicht maßregelt, sondern seinen Reichtum vor uns ausbreitet. Darin liegt ein Hauptwert seines Werkes und seine Eigenart. Ich kenne kein anderes ästhetisches Buch, das in dieser Unmittelbarkeit das faktische Leben in den Kunstgenießenden spiegelt. Nur ein romantisches Zeitalter, wie die Gegenwart es ist, war imstande, diese Leistung zu vollziehen, das Vorurteil von der Gleichartigkeit des ästhetischen Lebens zu durchbrechen und die typischen Verschiedenheiten darin aufzudecken. Denn dazu gehörte eine Vereinigung von universeller Einfühlungsfähigkeit und Neigung zu theoretischer Reflexion darüber. Gegenüber diesen zentralen Teilen der Arbeit sieht sich der Leser der Gefahr ausgesetzt, den übrigen nicht das gleiche Maß von Anteilnahme zuzu¬ wenden. Mit Unrecht. Denn auch sie sind voll von eigenen Beobachtungen und reifen, gegründeten Urteilen. Recht gut werden wir unterrichtet über das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/324>, abgerufen am 28.12.2024.