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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die Heimarbeit als Invaliden- und wiiwenbeschäftigung?

lieferungen, aber der Friede bringt uns das Nachlassen der großen Militäraufträge
und was der Friede der Heimarbeit noch beschert, ist ein Einströmen großer neuer
Bevölkerungsschichten in die Gebiete der Heimarbeit. Was alles wird also an
den behördlichen Lieferungen teilnehmen wollen I Lieferungen, die aus einer
Reihe von Gründen in erster Linie doch den Städten zukommen müssen.

Angenommen, die Frage der Arbeitsbeschaffung würde sich für die ländliche
Kriegerwitwe regeln lassen, wäre aber denn -- und dieser Einwand erscheint denn
doch wohl von Wichtigkeit -- die ländliche Kriegerwitwe überhaupt in der Lage, die
ihr zuerteilte Arbeit auszuführen? . . . Man steht scheinbar vielfach auf dem Stand¬
punkte, daß Heimarbeit ungelernte Arbeit sei; man übersieht vollkommen, daß
häusliches und gewerbliches Nähen eine grundverschiedene Tätigkeit ist. Eine
Frau, welche in der Lage ist gut und sauber eine Bluse oder einfache Wäsche
nähen zu können, ist noch längst nicht dazu geeignet, für Stapellieferungen des
gewerblichen Unternehmers tätig zu sein. Für das Nähen eines einfachen
Damenhemdes werden im Durchschnitte 35 bis 40 Pfennige gezahlt, dazu ist das
Nähmaschinenuntergarn von der Arbeitenden zu liefern. Um nur 1,05
oder 1,20 zu verdienen, muß die Arbeiterin drei Damenhemden täglich fertig¬
stellen, unsere statischen eingearbeiteten Wäschearbeiterinnen aber ermöglichen es,
in acht bis zwölf Stunden eine volles Dutzend dieser Kleidungsstücke herzustellen.
Mit diesen Leistungen rechnen die Unternehmer und nur bei diesen Leistungen
kann mit der Heimarbeit auch etwas verdient werden! Nun stelle man sich eine
Landarbeiterin vor, die vom März bis zum Oktober draußen auf den Feldern
oder in den Obstkulturen gearbeitet hat, und verlange dann von ihr, daß sie
vom ersten oder fünfzehnten Oktober ab mit ihren rauhen Händen täglich
auch nur ein halbes Dutzend Hemden oder Schürzen, oder gar einen
Kindermantel (für 65 bis 75 Pfennig) nähen soll! -- Gewiß haben wir auch
heute schon eine ausgedehnte Heimarbeit auf dem Lande, man erinnere sich nur
der niederrheinischen Konfektionsbezirke und der ländlichen Spitzenindustrie.
Der kleine Unterschied zwischen den heutigen Vorschlägen und den genannten
Tatsachen besteht nur darin, daß hier die Heimarbeit von der Stadt auf das
Land verlegt wurde, die Arbeitenden also nicht mehr Landarbeiterinnen, fondern
lediglich Heimarbeiterinnen sind. -- --

Gewiß kann die Heimarbeit auch in Verbindung mit der Landarbeit für
die Kriegerwitwen eingeführt werden, aber -- welche Gebiete der Heimarbeit
kommen in Frage? ... Es gibt hier nur ein Wort dafür -- die Gebiete der
Elendsindustrie: das Flechten von Körben und Stuhllehnen, das Packen von
Nadeln, das Nähen von Filzsohlen, das Aufreihen von Perlen, das Pappen und
Kleben von Schachteln, das Papierblumenformen und die Spielzeugarbeit. Diese
Tätigkeitszweige bedürfen allerdings keines Umlernen?., aber die ungelernten
Gewerbe, die sogenannten leichten Industrien innerhalb der Heimarbeit, die
auch von Kinderhänden ausgeführt werde" können, sind hinsichtlich des
Verdienstes naturgemäß die am wenigsten befriedigenden. Mit dem


Die Heimarbeit als Invaliden- und wiiwenbeschäftigung?

lieferungen, aber der Friede bringt uns das Nachlassen der großen Militäraufträge
und was der Friede der Heimarbeit noch beschert, ist ein Einströmen großer neuer
Bevölkerungsschichten in die Gebiete der Heimarbeit. Was alles wird also an
den behördlichen Lieferungen teilnehmen wollen I Lieferungen, die aus einer
Reihe von Gründen in erster Linie doch den Städten zukommen müssen.

Angenommen, die Frage der Arbeitsbeschaffung würde sich für die ländliche
Kriegerwitwe regeln lassen, wäre aber denn — und dieser Einwand erscheint denn
doch wohl von Wichtigkeit — die ländliche Kriegerwitwe überhaupt in der Lage, die
ihr zuerteilte Arbeit auszuführen? . . . Man steht scheinbar vielfach auf dem Stand¬
punkte, daß Heimarbeit ungelernte Arbeit sei; man übersieht vollkommen, daß
häusliches und gewerbliches Nähen eine grundverschiedene Tätigkeit ist. Eine
Frau, welche in der Lage ist gut und sauber eine Bluse oder einfache Wäsche
nähen zu können, ist noch längst nicht dazu geeignet, für Stapellieferungen des
gewerblichen Unternehmers tätig zu sein. Für das Nähen eines einfachen
Damenhemdes werden im Durchschnitte 35 bis 40 Pfennige gezahlt, dazu ist das
Nähmaschinenuntergarn von der Arbeitenden zu liefern. Um nur 1,05
oder 1,20 zu verdienen, muß die Arbeiterin drei Damenhemden täglich fertig¬
stellen, unsere statischen eingearbeiteten Wäschearbeiterinnen aber ermöglichen es,
in acht bis zwölf Stunden eine volles Dutzend dieser Kleidungsstücke herzustellen.
Mit diesen Leistungen rechnen die Unternehmer und nur bei diesen Leistungen
kann mit der Heimarbeit auch etwas verdient werden! Nun stelle man sich eine
Landarbeiterin vor, die vom März bis zum Oktober draußen auf den Feldern
oder in den Obstkulturen gearbeitet hat, und verlange dann von ihr, daß sie
vom ersten oder fünfzehnten Oktober ab mit ihren rauhen Händen täglich
auch nur ein halbes Dutzend Hemden oder Schürzen, oder gar einen
Kindermantel (für 65 bis 75 Pfennig) nähen soll! — Gewiß haben wir auch
heute schon eine ausgedehnte Heimarbeit auf dem Lande, man erinnere sich nur
der niederrheinischen Konfektionsbezirke und der ländlichen Spitzenindustrie.
Der kleine Unterschied zwischen den heutigen Vorschlägen und den genannten
Tatsachen besteht nur darin, daß hier die Heimarbeit von der Stadt auf das
Land verlegt wurde, die Arbeitenden also nicht mehr Landarbeiterinnen, fondern
lediglich Heimarbeiterinnen sind. — —

Gewiß kann die Heimarbeit auch in Verbindung mit der Landarbeit für
die Kriegerwitwen eingeführt werden, aber — welche Gebiete der Heimarbeit
kommen in Frage? ... Es gibt hier nur ein Wort dafür — die Gebiete der
Elendsindustrie: das Flechten von Körben und Stuhllehnen, das Packen von
Nadeln, das Nähen von Filzsohlen, das Aufreihen von Perlen, das Pappen und
Kleben von Schachteln, das Papierblumenformen und die Spielzeugarbeit. Diese
Tätigkeitszweige bedürfen allerdings keines Umlernen?., aber die ungelernten
Gewerbe, die sogenannten leichten Industrien innerhalb der Heimarbeit, die
auch von Kinderhänden ausgeführt werde» können, sind hinsichtlich des
Verdienstes naturgemäß die am wenigsten befriedigenden. Mit dem


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[0315] Die Heimarbeit als Invaliden- und wiiwenbeschäftigung? lieferungen, aber der Friede bringt uns das Nachlassen der großen Militäraufträge und was der Friede der Heimarbeit noch beschert, ist ein Einströmen großer neuer Bevölkerungsschichten in die Gebiete der Heimarbeit. Was alles wird also an den behördlichen Lieferungen teilnehmen wollen I Lieferungen, die aus einer Reihe von Gründen in erster Linie doch den Städten zukommen müssen. Angenommen, die Frage der Arbeitsbeschaffung würde sich für die ländliche Kriegerwitwe regeln lassen, wäre aber denn — und dieser Einwand erscheint denn doch wohl von Wichtigkeit — die ländliche Kriegerwitwe überhaupt in der Lage, die ihr zuerteilte Arbeit auszuführen? . . . Man steht scheinbar vielfach auf dem Stand¬ punkte, daß Heimarbeit ungelernte Arbeit sei; man übersieht vollkommen, daß häusliches und gewerbliches Nähen eine grundverschiedene Tätigkeit ist. Eine Frau, welche in der Lage ist gut und sauber eine Bluse oder einfache Wäsche nähen zu können, ist noch längst nicht dazu geeignet, für Stapellieferungen des gewerblichen Unternehmers tätig zu sein. Für das Nähen eines einfachen Damenhemdes werden im Durchschnitte 35 bis 40 Pfennige gezahlt, dazu ist das Nähmaschinenuntergarn von der Arbeitenden zu liefern. Um nur 1,05 oder 1,20 zu verdienen, muß die Arbeiterin drei Damenhemden täglich fertig¬ stellen, unsere statischen eingearbeiteten Wäschearbeiterinnen aber ermöglichen es, in acht bis zwölf Stunden eine volles Dutzend dieser Kleidungsstücke herzustellen. Mit diesen Leistungen rechnen die Unternehmer und nur bei diesen Leistungen kann mit der Heimarbeit auch etwas verdient werden! Nun stelle man sich eine Landarbeiterin vor, die vom März bis zum Oktober draußen auf den Feldern oder in den Obstkulturen gearbeitet hat, und verlange dann von ihr, daß sie vom ersten oder fünfzehnten Oktober ab mit ihren rauhen Händen täglich auch nur ein halbes Dutzend Hemden oder Schürzen, oder gar einen Kindermantel (für 65 bis 75 Pfennig) nähen soll! — Gewiß haben wir auch heute schon eine ausgedehnte Heimarbeit auf dem Lande, man erinnere sich nur der niederrheinischen Konfektionsbezirke und der ländlichen Spitzenindustrie. Der kleine Unterschied zwischen den heutigen Vorschlägen und den genannten Tatsachen besteht nur darin, daß hier die Heimarbeit von der Stadt auf das Land verlegt wurde, die Arbeitenden also nicht mehr Landarbeiterinnen, fondern lediglich Heimarbeiterinnen sind. — — Gewiß kann die Heimarbeit auch in Verbindung mit der Landarbeit für die Kriegerwitwen eingeführt werden, aber — welche Gebiete der Heimarbeit kommen in Frage? ... Es gibt hier nur ein Wort dafür — die Gebiete der Elendsindustrie: das Flechten von Körben und Stuhllehnen, das Packen von Nadeln, das Nähen von Filzsohlen, das Aufreihen von Perlen, das Pappen und Kleben von Schachteln, das Papierblumenformen und die Spielzeugarbeit. Diese Tätigkeitszweige bedürfen allerdings keines Umlernen?., aber die ungelernten Gewerbe, die sogenannten leichten Industrien innerhalb der Heimarbeit, die auch von Kinderhänden ausgeführt werde» können, sind hinsichtlich des Verdienstes naturgemäß die am wenigsten befriedigenden. Mit dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/315>, abgerufen am 26.06.2024.