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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die innere Lage in Rußland

Auftreten noch einen Hoffnungsschimmer, suchte doch alles in Rußland nach
dem geistigen Mittelpunkt, um den man sich scharen konnte, selbst einen
Samyslowski hätte man genommen, wenn man die Überzeugung gehabt hätte,
er werde das Land in Ordnung bringen und Rußland zum Siege führen.
Das ist nun aus. überall, wohin wir blicken, sehen wir bei Betrachtung der
inneren verwirrten Verhältnisse nur Depression. Hat also Chwostow dieses feine
Instrument der russischen Seele, das er nach Menschikows Angaben so meister¬
haft zu spielen verstand, doch nicht richtig behandelt, wenn das Ergebnis seiner
Bemühungen so wenig seinen Hoffnungen entsprach oder waren gerade das
seine Hoffnungen, diese Misöre der Stimmung hervorzurufen?

Was hat er überhaupt getan? In dem Augenblick, als er das Regiment
im Ministerium des Innern antrat, herrschte maßlose Verwirrung in der Ver¬
sorgung der großen Städte, namentlich der Hauptstädte mit Lebensmitteln, der
Flttchtlingsstrom raste elementar durchs Land und die Teuerung pochte an
allen Pforten. Hier hatte er zunächst versucht den Hebel anzusetzen, und das
Vertrauen des Volkes zu gewinnen. Wie hat er das getan? Er hat zunächst
die in Rußland unvermeidliche "Kommission" eingesetzt, die die planmäßige
Versorgung des Landes mit Lebensmitteln durch Schaffung örtlicher Ver¬
sorgungsbehörden sicherstellen soll. Diese Kommission hat das Projekt einer
Verordnung ausgearbeitet, das zur Zeit von der russischen Öffentlichkeit er¬
örtert wird. Positive Leistungen hat sie noch nicht aufzuweisen. Chwostow
hat ferner persönlich in Moskau eingegriffen in einem Moment, da die Ver¬
sorgung der Stadt mit Lebensmitteln am ärgsten darniederlag. Als asu3 ex
macnina löste er den Knoten der verwickelten russischen Ressortverhältnisse, die
es zwar ermöglicht hatten, daß die für die Stadt erforderlichen Waren auf
dem Bahnhof in Moskau lagerten, eine Abladung dieser Waren aber in Frage
stellten. Dieses Eingreifen hatte zwar die gute Seite, daß wirklich etwas getan
wurde, sie führte jedoch nach zwei Richtungen hin zu Konflikten. Zunächst
zum Konflikt mit Ruchlow, dem Verkehrsminister, dessen Tätigkeit und dessen
Ressort durch Chwostows Auftreten öffentlich an den Pranger gestellt wurde,
sodann aber auch zum Konflikt mit einem gewissen Teil der öffentlichen
Meinung, der das selbstherrliche Schalten eines Ministers, für den es weder
im Gesetze noch in der Behördenorganisation Schranken zu geben schien, mit
Mißtrauen ansieht und -- obwohl auch er sein Auftreten gegen die Schlamperei
eines Ruchlow im Grunde des Herzens billigt, -- in diesem kräftigen Mann
doch den kommenden Diktator fürchtet. Ruchlow selbst, der die öffentliche
Meinung und Chwostow gegen sich hatte, versuchte vergebens mit seiner be¬
kannten Denkschrift, die vom Militärzensor zur Hälfte durchstrichen wurde, sich
zu rechtfertigen. Er verlangte ebenso vergebens die Abberufung des Vize¬
gouverneurs Grafen Tolstoi in Schlüsselburg, der mit Befehlen von Chwostow
versehen, eigenmächtig in Ruchlows Befehlsbereich eingegriffen hatte. Was
vorauszusehen war, traf ein: Tolstoi blieb, Chwostow verschanzte sich hinter


Die innere Lage in Rußland

Auftreten noch einen Hoffnungsschimmer, suchte doch alles in Rußland nach
dem geistigen Mittelpunkt, um den man sich scharen konnte, selbst einen
Samyslowski hätte man genommen, wenn man die Überzeugung gehabt hätte,
er werde das Land in Ordnung bringen und Rußland zum Siege führen.
Das ist nun aus. überall, wohin wir blicken, sehen wir bei Betrachtung der
inneren verwirrten Verhältnisse nur Depression. Hat also Chwostow dieses feine
Instrument der russischen Seele, das er nach Menschikows Angaben so meister¬
haft zu spielen verstand, doch nicht richtig behandelt, wenn das Ergebnis seiner
Bemühungen so wenig seinen Hoffnungen entsprach oder waren gerade das
seine Hoffnungen, diese Misöre der Stimmung hervorzurufen?

Was hat er überhaupt getan? In dem Augenblick, als er das Regiment
im Ministerium des Innern antrat, herrschte maßlose Verwirrung in der Ver¬
sorgung der großen Städte, namentlich der Hauptstädte mit Lebensmitteln, der
Flttchtlingsstrom raste elementar durchs Land und die Teuerung pochte an
allen Pforten. Hier hatte er zunächst versucht den Hebel anzusetzen, und das
Vertrauen des Volkes zu gewinnen. Wie hat er das getan? Er hat zunächst
die in Rußland unvermeidliche „Kommission" eingesetzt, die die planmäßige
Versorgung des Landes mit Lebensmitteln durch Schaffung örtlicher Ver¬
sorgungsbehörden sicherstellen soll. Diese Kommission hat das Projekt einer
Verordnung ausgearbeitet, das zur Zeit von der russischen Öffentlichkeit er¬
örtert wird. Positive Leistungen hat sie noch nicht aufzuweisen. Chwostow
hat ferner persönlich in Moskau eingegriffen in einem Moment, da die Ver¬
sorgung der Stadt mit Lebensmitteln am ärgsten darniederlag. Als asu3 ex
macnina löste er den Knoten der verwickelten russischen Ressortverhältnisse, die
es zwar ermöglicht hatten, daß die für die Stadt erforderlichen Waren auf
dem Bahnhof in Moskau lagerten, eine Abladung dieser Waren aber in Frage
stellten. Dieses Eingreifen hatte zwar die gute Seite, daß wirklich etwas getan
wurde, sie führte jedoch nach zwei Richtungen hin zu Konflikten. Zunächst
zum Konflikt mit Ruchlow, dem Verkehrsminister, dessen Tätigkeit und dessen
Ressort durch Chwostows Auftreten öffentlich an den Pranger gestellt wurde,
sodann aber auch zum Konflikt mit einem gewissen Teil der öffentlichen
Meinung, der das selbstherrliche Schalten eines Ministers, für den es weder
im Gesetze noch in der Behördenorganisation Schranken zu geben schien, mit
Mißtrauen ansieht und — obwohl auch er sein Auftreten gegen die Schlamperei
eines Ruchlow im Grunde des Herzens billigt, — in diesem kräftigen Mann
doch den kommenden Diktator fürchtet. Ruchlow selbst, der die öffentliche
Meinung und Chwostow gegen sich hatte, versuchte vergebens mit seiner be¬
kannten Denkschrift, die vom Militärzensor zur Hälfte durchstrichen wurde, sich
zu rechtfertigen. Er verlangte ebenso vergebens die Abberufung des Vize¬
gouverneurs Grafen Tolstoi in Schlüsselburg, der mit Befehlen von Chwostow
versehen, eigenmächtig in Ruchlows Befehlsbereich eingegriffen hatte. Was
vorauszusehen war, traf ein: Tolstoi blieb, Chwostow verschanzte sich hinter


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[0238] Die innere Lage in Rußland Auftreten noch einen Hoffnungsschimmer, suchte doch alles in Rußland nach dem geistigen Mittelpunkt, um den man sich scharen konnte, selbst einen Samyslowski hätte man genommen, wenn man die Überzeugung gehabt hätte, er werde das Land in Ordnung bringen und Rußland zum Siege führen. Das ist nun aus. überall, wohin wir blicken, sehen wir bei Betrachtung der inneren verwirrten Verhältnisse nur Depression. Hat also Chwostow dieses feine Instrument der russischen Seele, das er nach Menschikows Angaben so meister¬ haft zu spielen verstand, doch nicht richtig behandelt, wenn das Ergebnis seiner Bemühungen so wenig seinen Hoffnungen entsprach oder waren gerade das seine Hoffnungen, diese Misöre der Stimmung hervorzurufen? Was hat er überhaupt getan? In dem Augenblick, als er das Regiment im Ministerium des Innern antrat, herrschte maßlose Verwirrung in der Ver¬ sorgung der großen Städte, namentlich der Hauptstädte mit Lebensmitteln, der Flttchtlingsstrom raste elementar durchs Land und die Teuerung pochte an allen Pforten. Hier hatte er zunächst versucht den Hebel anzusetzen, und das Vertrauen des Volkes zu gewinnen. Wie hat er das getan? Er hat zunächst die in Rußland unvermeidliche „Kommission" eingesetzt, die die planmäßige Versorgung des Landes mit Lebensmitteln durch Schaffung örtlicher Ver¬ sorgungsbehörden sicherstellen soll. Diese Kommission hat das Projekt einer Verordnung ausgearbeitet, das zur Zeit von der russischen Öffentlichkeit er¬ örtert wird. Positive Leistungen hat sie noch nicht aufzuweisen. Chwostow hat ferner persönlich in Moskau eingegriffen in einem Moment, da die Ver¬ sorgung der Stadt mit Lebensmitteln am ärgsten darniederlag. Als asu3 ex macnina löste er den Knoten der verwickelten russischen Ressortverhältnisse, die es zwar ermöglicht hatten, daß die für die Stadt erforderlichen Waren auf dem Bahnhof in Moskau lagerten, eine Abladung dieser Waren aber in Frage stellten. Dieses Eingreifen hatte zwar die gute Seite, daß wirklich etwas getan wurde, sie führte jedoch nach zwei Richtungen hin zu Konflikten. Zunächst zum Konflikt mit Ruchlow, dem Verkehrsminister, dessen Tätigkeit und dessen Ressort durch Chwostows Auftreten öffentlich an den Pranger gestellt wurde, sodann aber auch zum Konflikt mit einem gewissen Teil der öffentlichen Meinung, der das selbstherrliche Schalten eines Ministers, für den es weder im Gesetze noch in der Behördenorganisation Schranken zu geben schien, mit Mißtrauen ansieht und — obwohl auch er sein Auftreten gegen die Schlamperei eines Ruchlow im Grunde des Herzens billigt, — in diesem kräftigen Mann doch den kommenden Diktator fürchtet. Ruchlow selbst, der die öffentliche Meinung und Chwostow gegen sich hatte, versuchte vergebens mit seiner be¬ kannten Denkschrift, die vom Militärzensor zur Hälfte durchstrichen wurde, sich zu rechtfertigen. Er verlangte ebenso vergebens die Abberufung des Vize¬ gouverneurs Grafen Tolstoi in Schlüsselburg, der mit Befehlen von Chwostow versehen, eigenmächtig in Ruchlows Befehlsbereich eingegriffen hatte. Was vorauszusehen war, traf ein: Tolstoi blieb, Chwostow verschanzte sich hinter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/238>, abgerufen am 24.08.2024.