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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Uriegslitoratur

bekannter Autoren die "Balkanfrage" behandelt wird. Von besonderem Interesse
für das hier behandelte Thema sind zwei Arbeiten von Dr. K. Süßheim und
von Professor Dr. M. Hartmann. Erstere behandelt den "Zusammenbruch des
türkischen Reiches in Europa" und ist besonders beachtens- und lesenswert.
Der Verfasser weist darauf hin, daß von den mannigfachen Gründen, die den
Niedergang des osmanischen Reiches herbeiführten, besonders hervorzuheben ist,
"daß die Türken keinen Wert darauf legten, ihre christlichen Mitbürger an sich
zu fesseln", und daß sie Kulturerrungenschaften, welche aus Europa kamen,
meist von vornherein von dem Gesichtspunkt aus ablehnten, dieselben würden
nach und nach eine vollständige Zerrüttung der mohammedanischen Gesellschaft
herbeiführen. Ein weiteres Kapitel des Sündenregisters der osmanischen
Regierung bildet ihre Gleichgültigkeit gegen Handel und Gewerbe und der
unglaublich rasche Verfall des ehemals stolzen Lehnswesens seit dem Tode des
Sultans Suleiman im Jahre 1566. Die Fehler waren zu schwere, als daß
Reformversuche auf europäischer Grundlage zu Beginn des neunzehnten Jahr¬
hunderts den Zerfall des osmanischen Reiches in Europa hätten aufhalten
können: es beginnt der Abfall und die Loslösung der christlichen Balkanvölker
von dem türkischen Staatskörper.

Alsdann schildert Süßheim die im zwanzigsten Jahrhundert einsetzende
Revolutionsbewegung und die Kämpfe innerhalb derselben, das Programm der
Zentralsten, das auf teilweise Türkisierung der Bewohner der europäischen
Türkei und Begünstigung der türkischen Sprache in allen Teilen des Reiches
hinauslief, und dasjenige der Dezentralisier", die sich jedoch durch Aufrollung
der Frauenfrage bald ganz unmöglich machten. Der Verfasser schließt seine
Untersuchung mit der Niederlage im Balkankriege ab: "Die Türkei hat über
fünfhundert Jahre lang als Vorstreiterin der kulturellen Ideale des Orients
gegen die überlegene Zivilisation des Westens und die Ränke der großen
europäischen Mächte Krieg geführt, daß sie in dem Ringen erlag, war fast eine
Notwendigkeit. Man muß sich nur wundern, daß sie den Kampf durch so viele
Jahrhunderte aushielt."

Die Reformen.die gleich nach den Niederlagen im Ballankriege begannen, haben
in unglaublich kurzer Zeit reiche Früchte gezeitigt. Die Loslösung des europäischen
Ballastes vom osmanischen Reiche, feine Konzentrierung auf sein Gebiet in
Asien und dessen reiche Hilfsquellen waren für eine Gesundung und Erstarkung
des "kranken Mannes am Bosporus" Vorbedingung, Dies ist die Quintessenz
der Ausführungen, die Professor Hartmann in seinem Aufsatze: "Die Zukunft der
Türkei" gemacht hat, und die er mit den treffenden Worten abschließt:
"Türken, werdet bescheiden, werdet klein I Erst dann werdet ihr groß werdenI"

Die bisherigen Erfolge der Türken und ihre heroische Tapferkeit, die selbst
von Engländern und Franzosen unumwunden anerkannt worden ist, lassen
hoffen, daß eine neue starke Türkei aus dem Weltbrande hervorgehen wird.




Uriegslitoratur

bekannter Autoren die „Balkanfrage" behandelt wird. Von besonderem Interesse
für das hier behandelte Thema sind zwei Arbeiten von Dr. K. Süßheim und
von Professor Dr. M. Hartmann. Erstere behandelt den „Zusammenbruch des
türkischen Reiches in Europa" und ist besonders beachtens- und lesenswert.
Der Verfasser weist darauf hin, daß von den mannigfachen Gründen, die den
Niedergang des osmanischen Reiches herbeiführten, besonders hervorzuheben ist,
„daß die Türken keinen Wert darauf legten, ihre christlichen Mitbürger an sich
zu fesseln", und daß sie Kulturerrungenschaften, welche aus Europa kamen,
meist von vornherein von dem Gesichtspunkt aus ablehnten, dieselben würden
nach und nach eine vollständige Zerrüttung der mohammedanischen Gesellschaft
herbeiführen. Ein weiteres Kapitel des Sündenregisters der osmanischen
Regierung bildet ihre Gleichgültigkeit gegen Handel und Gewerbe und der
unglaublich rasche Verfall des ehemals stolzen Lehnswesens seit dem Tode des
Sultans Suleiman im Jahre 1566. Die Fehler waren zu schwere, als daß
Reformversuche auf europäischer Grundlage zu Beginn des neunzehnten Jahr¬
hunderts den Zerfall des osmanischen Reiches in Europa hätten aufhalten
können: es beginnt der Abfall und die Loslösung der christlichen Balkanvölker
von dem türkischen Staatskörper.

Alsdann schildert Süßheim die im zwanzigsten Jahrhundert einsetzende
Revolutionsbewegung und die Kämpfe innerhalb derselben, das Programm der
Zentralsten, das auf teilweise Türkisierung der Bewohner der europäischen
Türkei und Begünstigung der türkischen Sprache in allen Teilen des Reiches
hinauslief, und dasjenige der Dezentralisier«, die sich jedoch durch Aufrollung
der Frauenfrage bald ganz unmöglich machten. Der Verfasser schließt seine
Untersuchung mit der Niederlage im Balkankriege ab: „Die Türkei hat über
fünfhundert Jahre lang als Vorstreiterin der kulturellen Ideale des Orients
gegen die überlegene Zivilisation des Westens und die Ränke der großen
europäischen Mächte Krieg geführt, daß sie in dem Ringen erlag, war fast eine
Notwendigkeit. Man muß sich nur wundern, daß sie den Kampf durch so viele
Jahrhunderte aushielt."

Die Reformen.die gleich nach den Niederlagen im Ballankriege begannen, haben
in unglaublich kurzer Zeit reiche Früchte gezeitigt. Die Loslösung des europäischen
Ballastes vom osmanischen Reiche, feine Konzentrierung auf sein Gebiet in
Asien und dessen reiche Hilfsquellen waren für eine Gesundung und Erstarkung
des „kranken Mannes am Bosporus" Vorbedingung, Dies ist die Quintessenz
der Ausführungen, die Professor Hartmann in seinem Aufsatze: „Die Zukunft der
Türkei" gemacht hat, und die er mit den treffenden Worten abschließt:
„Türken, werdet bescheiden, werdet klein I Erst dann werdet ihr groß werdenI"

Die bisherigen Erfolge der Türken und ihre heroische Tapferkeit, die selbst
von Engländern und Franzosen unumwunden anerkannt worden ist, lassen
hoffen, daß eine neue starke Türkei aus dem Weltbrande hervorgehen wird.




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[0167] Uriegslitoratur bekannter Autoren die „Balkanfrage" behandelt wird. Von besonderem Interesse für das hier behandelte Thema sind zwei Arbeiten von Dr. K. Süßheim und von Professor Dr. M. Hartmann. Erstere behandelt den „Zusammenbruch des türkischen Reiches in Europa" und ist besonders beachtens- und lesenswert. Der Verfasser weist darauf hin, daß von den mannigfachen Gründen, die den Niedergang des osmanischen Reiches herbeiführten, besonders hervorzuheben ist, „daß die Türken keinen Wert darauf legten, ihre christlichen Mitbürger an sich zu fesseln", und daß sie Kulturerrungenschaften, welche aus Europa kamen, meist von vornherein von dem Gesichtspunkt aus ablehnten, dieselben würden nach und nach eine vollständige Zerrüttung der mohammedanischen Gesellschaft herbeiführen. Ein weiteres Kapitel des Sündenregisters der osmanischen Regierung bildet ihre Gleichgültigkeit gegen Handel und Gewerbe und der unglaublich rasche Verfall des ehemals stolzen Lehnswesens seit dem Tode des Sultans Suleiman im Jahre 1566. Die Fehler waren zu schwere, als daß Reformversuche auf europäischer Grundlage zu Beginn des neunzehnten Jahr¬ hunderts den Zerfall des osmanischen Reiches in Europa hätten aufhalten können: es beginnt der Abfall und die Loslösung der christlichen Balkanvölker von dem türkischen Staatskörper. Alsdann schildert Süßheim die im zwanzigsten Jahrhundert einsetzende Revolutionsbewegung und die Kämpfe innerhalb derselben, das Programm der Zentralsten, das auf teilweise Türkisierung der Bewohner der europäischen Türkei und Begünstigung der türkischen Sprache in allen Teilen des Reiches hinauslief, und dasjenige der Dezentralisier«, die sich jedoch durch Aufrollung der Frauenfrage bald ganz unmöglich machten. Der Verfasser schließt seine Untersuchung mit der Niederlage im Balkankriege ab: „Die Türkei hat über fünfhundert Jahre lang als Vorstreiterin der kulturellen Ideale des Orients gegen die überlegene Zivilisation des Westens und die Ränke der großen europäischen Mächte Krieg geführt, daß sie in dem Ringen erlag, war fast eine Notwendigkeit. Man muß sich nur wundern, daß sie den Kampf durch so viele Jahrhunderte aushielt." Die Reformen.die gleich nach den Niederlagen im Ballankriege begannen, haben in unglaublich kurzer Zeit reiche Früchte gezeitigt. Die Loslösung des europäischen Ballastes vom osmanischen Reiche, feine Konzentrierung auf sein Gebiet in Asien und dessen reiche Hilfsquellen waren für eine Gesundung und Erstarkung des „kranken Mannes am Bosporus" Vorbedingung, Dies ist die Quintessenz der Ausführungen, die Professor Hartmann in seinem Aufsatze: „Die Zukunft der Türkei" gemacht hat, und die er mit den treffenden Worten abschließt: „Türken, werdet bescheiden, werdet klein I Erst dann werdet ihr groß werdenI" Die bisherigen Erfolge der Türken und ihre heroische Tapferkeit, die selbst von Engländern und Franzosen unumwunden anerkannt worden ist, lassen hoffen, daß eine neue starke Türkei aus dem Weltbrande hervorgehen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/167>, abgerufen am 22.07.2024.