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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Das Bildungswesen der Bulgaren

pädagogischen Praxis mußte sich das literarische und theoretische Streben der
gebildetsten Bulgaren jener Tage zuwenden. Die fremden Gewalthaber fesselten
nämlich zwar sonst den im Bulgarenvolke treibenden Drang nach politischer und
geistiger Entfaltung allenthalben; aber sie duldeten (oder merkten vielleicht gar
nicht?) eine freiere Bewegung, soweit es sich um Schulangelegenheiten handelte.
So wurde alle politische und rein-intellektuelle Energie der Bulgaren gerade
auf dem einen Kulturgebiete zur Arbeitsleistung zusammengedrängt, auf dem
sich dieses Volk schon immer die Mittel zur politischen und geistigen Emanzipation
geschmiedet hatte. Und das trug herrliche Frucht, nachdem durch den (den
russisch-türkischen Krieg abschließenden) Frieden zu San Stefano (1878) Bul¬
garien autonom geworden, einige Jahre darauf auch Ostrumelien (Südbulgarien)
dem Lande einverleibt worden war und Ferdinand von Koburg-Kohary seinen
Einzug als erwählter Fürst hatte halten können. Ganz charakteristisch für die
Entwicklung des bulgarischen Bildungswesens ist es, daß Ostrumelien bei seiner
Einverleibung einen pädagogischen Vorsprung vor dem übrigen bulgarischen
Gebiet hatte, der wohl heut noch hie und da spürbar ist: diese Provinz hatte
eben am längsten die Last der Fremdherrschaft zu tragen gehabt, unter deren
Druck das alte bulgarische Emanzipationsmittel -- die Schule -- eine ganz
besonders hohe Vervollkommnung erfuhr.

Das bulgarische Schulwesen unserer Tage -- aus einer sich zeitweise etwas
überstürzenden Gesetzgebung hervorgegangen -- erinnert in seinen Grundzügen
an das deutsche, nur daß es sich in manchen Beziehungen noch moderner und
realistischer ausnimmt. Deutsche Schulpraxis und -theorie wurde nach 1878
für Bulgarien immer mehr vorbildlich, besonders seitdem jährlich eine ganze
Reihe Bulgaren, vielfach unterstützt von ihrer Regierung, nach Deutschland ziehen,
um hier besonders den Herbartianismus zu studieren.

An zwei oder drei Punkten läßt auch die Geschichte der letzten dreißig
Jahre deutlich erkennen, welche hervorragende Rolle in der nationalpolitischen
Entwicklung gerade den bulgarischen Schulen immer und immer wieder zu¬
gewiesen wird.

Als nach 1878 das Volk ausgezeichnet gebildete Führer brauchte, die es
wohl verstanden, das Errungene im internationalen Wettbewerb zu erhalten
und extensiv wie intensiv weiter zu fördern, da gründete man sogleich Gymnasien
als Bildungsstätten solcher führender Geister. In dieses Gymnasium drin der
junge Bulgare erst mit dem vierzehnten Lebensjahr aus dem Progymnasium
über, das den Abschluß der Elementarschule und zugleich die Grundlage für
sämtliche höheren Schulen bildet. In den Oberklassen teilen sich die Gymnasien
in realistische und klassische Kurse, doch überwiegt die realistische Richtung entschieden.

Unter den bulgarischen Fachschulen erfreuen sich die Handels- und Gewerbe¬
schulen besonderer Pflege. Ihrem Ausbau wandte der Bulgare sofort ziel¬
bewußt seine Aufmersamkeit zu, als er merkte, was ihm im internationalen
Wettbewerb nottat.


Das Bildungswesen der Bulgaren

pädagogischen Praxis mußte sich das literarische und theoretische Streben der
gebildetsten Bulgaren jener Tage zuwenden. Die fremden Gewalthaber fesselten
nämlich zwar sonst den im Bulgarenvolke treibenden Drang nach politischer und
geistiger Entfaltung allenthalben; aber sie duldeten (oder merkten vielleicht gar
nicht?) eine freiere Bewegung, soweit es sich um Schulangelegenheiten handelte.
So wurde alle politische und rein-intellektuelle Energie der Bulgaren gerade
auf dem einen Kulturgebiete zur Arbeitsleistung zusammengedrängt, auf dem
sich dieses Volk schon immer die Mittel zur politischen und geistigen Emanzipation
geschmiedet hatte. Und das trug herrliche Frucht, nachdem durch den (den
russisch-türkischen Krieg abschließenden) Frieden zu San Stefano (1878) Bul¬
garien autonom geworden, einige Jahre darauf auch Ostrumelien (Südbulgarien)
dem Lande einverleibt worden war und Ferdinand von Koburg-Kohary seinen
Einzug als erwählter Fürst hatte halten können. Ganz charakteristisch für die
Entwicklung des bulgarischen Bildungswesens ist es, daß Ostrumelien bei seiner
Einverleibung einen pädagogischen Vorsprung vor dem übrigen bulgarischen
Gebiet hatte, der wohl heut noch hie und da spürbar ist: diese Provinz hatte
eben am längsten die Last der Fremdherrschaft zu tragen gehabt, unter deren
Druck das alte bulgarische Emanzipationsmittel — die Schule — eine ganz
besonders hohe Vervollkommnung erfuhr.

Das bulgarische Schulwesen unserer Tage — aus einer sich zeitweise etwas
überstürzenden Gesetzgebung hervorgegangen — erinnert in seinen Grundzügen
an das deutsche, nur daß es sich in manchen Beziehungen noch moderner und
realistischer ausnimmt. Deutsche Schulpraxis und -theorie wurde nach 1878
für Bulgarien immer mehr vorbildlich, besonders seitdem jährlich eine ganze
Reihe Bulgaren, vielfach unterstützt von ihrer Regierung, nach Deutschland ziehen,
um hier besonders den Herbartianismus zu studieren.

An zwei oder drei Punkten läßt auch die Geschichte der letzten dreißig
Jahre deutlich erkennen, welche hervorragende Rolle in der nationalpolitischen
Entwicklung gerade den bulgarischen Schulen immer und immer wieder zu¬
gewiesen wird.

Als nach 1878 das Volk ausgezeichnet gebildete Führer brauchte, die es
wohl verstanden, das Errungene im internationalen Wettbewerb zu erhalten
und extensiv wie intensiv weiter zu fördern, da gründete man sogleich Gymnasien
als Bildungsstätten solcher führender Geister. In dieses Gymnasium drin der
junge Bulgare erst mit dem vierzehnten Lebensjahr aus dem Progymnasium
über, das den Abschluß der Elementarschule und zugleich die Grundlage für
sämtliche höheren Schulen bildet. In den Oberklassen teilen sich die Gymnasien
in realistische und klassische Kurse, doch überwiegt die realistische Richtung entschieden.

Unter den bulgarischen Fachschulen erfreuen sich die Handels- und Gewerbe¬
schulen besonderer Pflege. Ihrem Ausbau wandte der Bulgare sofort ziel¬
bewußt seine Aufmersamkeit zu, als er merkte, was ihm im internationalen
Wettbewerb nottat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/158>, abgerufen am 28.12.2024.