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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Das Bildnngsivcseii der Bulgaren

Ihren ersten großen Ausdruck fand diese Verschmelznngstendenz in der
Gründung einer christlichen bulgarischen Nationalkirche. Diese Nationalkirche
stellte anfangs das Zentrum des gesamten bulgarischen Bildungsstrebens dar.
Die ältesten Schulen des Landes machten ihre Zöglinge mit ein wenig Lesen
und Schreiben, vor allem aber mit dem Kirchendienst vertraut, ganz ähnlich,
wie dies auch bei uns in Deutschland der Fall gewesen ist. Daß die pädagogischen
Bemühungen der damaligen bulgarischen Priester durchaus nicht etwa zu
verachten sind, mag die interessante Tatsache beleuchten, daß einer von ihnen,
Konstantin Kostenezkn, bestrebt war, die geisttötende Buchstabiermethode im
Leseunterricht durch die Lautiermethode zu ersetzen -- hundert Jahre bevor
in Deutschland (in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts) Valentin
Jckelsamer dieselbe Forderung vertrat, etwa vierhundert Jahre, bevor Stephan:
und Pestalozzi dieser Lautiermethode zum sicheren Siege verhalfen, so daß sie
dann auch in Bulgarien wirklich eingeführt wurde.

Schon zu Kostenezkys Zeiten jedoch wurde die Weiterentwicklung einer
spezifisch bulgarischen Kultur durch das stegreiche Vordringen des türkischen
Halbmondes gehemmt. Und bald kam es noch schlimmer, als die Griechen,
an ihrer Spitze der Konstantinopeler Patriarch, nach einer Aussöhnung mit
den Türken das Recht der Kirchen- und Schuloberherrschaft erhielten. Sie
benutzten es zu jahrhundertelangen Angriffen auf die kirchliche Selbständigkeit
und die nationale Sprache der Bulgaren. Wären die Türken jener Zeiten
Kulturaufgaben gegenüber nicht so indolent und die griechischen Bischöfe und
Priester nicht vielfach so ungebildet und bequem gewesen, dann wäre die bul¬
garische Schriftsprache wohl auch noch aus den Klosterschulen verschwunden, in
denen sie wenigstens noch ein kümmerliches Dasein fristen konnte.

Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts begann man diese Klosterschulen,
die sogenannten Kylien, in öffentliche Schulen umzuwandeln; und damit setzte
die Aufklärung des bulgarischen Volkes ein. Und seit Ende des achtzehnten
Jahrhunderts wuchs die nationalpolitische Bedeutung der öffentlichen Kylien
schnell. Durch die jahrhundertelangen Hellenisterungsversuche nämlich hatten es
die Griechen schließlich in der Tat so weit gebracht, daß sich die Bulgaren in
den Städten ihrer Nationalität zu schämen begannen, sowie ihrer "barbarischen"
Sprache, für die sie sich einen verdorbenen griechischen Dialekt aufreden ließen,
der ihnen nun auch Vor- und Zunamen lieferte. Die Dorfbewohner aber vege¬
tierten dumpf und stumpf unter dem fremden Joch dahin. Als sich nun die
mit der französischen Revolution ansehende Bewegung bis auf die Balkan¬
halbinsel fortgepflanzt und Serbe, Rumäne, Grieche die Fahne des Aufstandes
gegen den türkischen Eroberer bereits entrollt hatte, da sahen die Bulgaren¬
führer keine andere Möglichkeit, ihr Volk'aus seiner trostlosen Lage herauszu¬
rechen, als Erweckung des Nationalbewußtseins durch Volksbildung. Die 1762
erschienene erste Geschichte der Bulgaren (vom Mönch Paisy) rüttelte das Volk
aus dem nationalen Schlafe auf. In fünfunddreißigjährigem Kampf errang es


Das Bildnngsivcseii der Bulgaren

Ihren ersten großen Ausdruck fand diese Verschmelznngstendenz in der
Gründung einer christlichen bulgarischen Nationalkirche. Diese Nationalkirche
stellte anfangs das Zentrum des gesamten bulgarischen Bildungsstrebens dar.
Die ältesten Schulen des Landes machten ihre Zöglinge mit ein wenig Lesen
und Schreiben, vor allem aber mit dem Kirchendienst vertraut, ganz ähnlich,
wie dies auch bei uns in Deutschland der Fall gewesen ist. Daß die pädagogischen
Bemühungen der damaligen bulgarischen Priester durchaus nicht etwa zu
verachten sind, mag die interessante Tatsache beleuchten, daß einer von ihnen,
Konstantin Kostenezkn, bestrebt war, die geisttötende Buchstabiermethode im
Leseunterricht durch die Lautiermethode zu ersetzen — hundert Jahre bevor
in Deutschland (in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts) Valentin
Jckelsamer dieselbe Forderung vertrat, etwa vierhundert Jahre, bevor Stephan:
und Pestalozzi dieser Lautiermethode zum sicheren Siege verhalfen, so daß sie
dann auch in Bulgarien wirklich eingeführt wurde.

Schon zu Kostenezkys Zeiten jedoch wurde die Weiterentwicklung einer
spezifisch bulgarischen Kultur durch das stegreiche Vordringen des türkischen
Halbmondes gehemmt. Und bald kam es noch schlimmer, als die Griechen,
an ihrer Spitze der Konstantinopeler Patriarch, nach einer Aussöhnung mit
den Türken das Recht der Kirchen- und Schuloberherrschaft erhielten. Sie
benutzten es zu jahrhundertelangen Angriffen auf die kirchliche Selbständigkeit
und die nationale Sprache der Bulgaren. Wären die Türken jener Zeiten
Kulturaufgaben gegenüber nicht so indolent und die griechischen Bischöfe und
Priester nicht vielfach so ungebildet und bequem gewesen, dann wäre die bul¬
garische Schriftsprache wohl auch noch aus den Klosterschulen verschwunden, in
denen sie wenigstens noch ein kümmerliches Dasein fristen konnte.

Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts begann man diese Klosterschulen,
die sogenannten Kylien, in öffentliche Schulen umzuwandeln; und damit setzte
die Aufklärung des bulgarischen Volkes ein. Und seit Ende des achtzehnten
Jahrhunderts wuchs die nationalpolitische Bedeutung der öffentlichen Kylien
schnell. Durch die jahrhundertelangen Hellenisterungsversuche nämlich hatten es
die Griechen schließlich in der Tat so weit gebracht, daß sich die Bulgaren in
den Städten ihrer Nationalität zu schämen begannen, sowie ihrer „barbarischen"
Sprache, für die sie sich einen verdorbenen griechischen Dialekt aufreden ließen,
der ihnen nun auch Vor- und Zunamen lieferte. Die Dorfbewohner aber vege¬
tierten dumpf und stumpf unter dem fremden Joch dahin. Als sich nun die
mit der französischen Revolution ansehende Bewegung bis auf die Balkan¬
halbinsel fortgepflanzt und Serbe, Rumäne, Grieche die Fahne des Aufstandes
gegen den türkischen Eroberer bereits entrollt hatte, da sahen die Bulgaren¬
führer keine andere Möglichkeit, ihr Volk'aus seiner trostlosen Lage herauszu¬
rechen, als Erweckung des Nationalbewußtseins durch Volksbildung. Die 1762
erschienene erste Geschichte der Bulgaren (vom Mönch Paisy) rüttelte das Volk
aus dem nationalen Schlafe auf. In fünfunddreißigjährigem Kampf errang es


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[0156] Das Bildnngsivcseii der Bulgaren Ihren ersten großen Ausdruck fand diese Verschmelznngstendenz in der Gründung einer christlichen bulgarischen Nationalkirche. Diese Nationalkirche stellte anfangs das Zentrum des gesamten bulgarischen Bildungsstrebens dar. Die ältesten Schulen des Landes machten ihre Zöglinge mit ein wenig Lesen und Schreiben, vor allem aber mit dem Kirchendienst vertraut, ganz ähnlich, wie dies auch bei uns in Deutschland der Fall gewesen ist. Daß die pädagogischen Bemühungen der damaligen bulgarischen Priester durchaus nicht etwa zu verachten sind, mag die interessante Tatsache beleuchten, daß einer von ihnen, Konstantin Kostenezkn, bestrebt war, die geisttötende Buchstabiermethode im Leseunterricht durch die Lautiermethode zu ersetzen — hundert Jahre bevor in Deutschland (in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts) Valentin Jckelsamer dieselbe Forderung vertrat, etwa vierhundert Jahre, bevor Stephan: und Pestalozzi dieser Lautiermethode zum sicheren Siege verhalfen, so daß sie dann auch in Bulgarien wirklich eingeführt wurde. Schon zu Kostenezkys Zeiten jedoch wurde die Weiterentwicklung einer spezifisch bulgarischen Kultur durch das stegreiche Vordringen des türkischen Halbmondes gehemmt. Und bald kam es noch schlimmer, als die Griechen, an ihrer Spitze der Konstantinopeler Patriarch, nach einer Aussöhnung mit den Türken das Recht der Kirchen- und Schuloberherrschaft erhielten. Sie benutzten es zu jahrhundertelangen Angriffen auf die kirchliche Selbständigkeit und die nationale Sprache der Bulgaren. Wären die Türken jener Zeiten Kulturaufgaben gegenüber nicht so indolent und die griechischen Bischöfe und Priester nicht vielfach so ungebildet und bequem gewesen, dann wäre die bul¬ garische Schriftsprache wohl auch noch aus den Klosterschulen verschwunden, in denen sie wenigstens noch ein kümmerliches Dasein fristen konnte. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts begann man diese Klosterschulen, die sogenannten Kylien, in öffentliche Schulen umzuwandeln; und damit setzte die Aufklärung des bulgarischen Volkes ein. Und seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts wuchs die nationalpolitische Bedeutung der öffentlichen Kylien schnell. Durch die jahrhundertelangen Hellenisterungsversuche nämlich hatten es die Griechen schließlich in der Tat so weit gebracht, daß sich die Bulgaren in den Städten ihrer Nationalität zu schämen begannen, sowie ihrer „barbarischen" Sprache, für die sie sich einen verdorbenen griechischen Dialekt aufreden ließen, der ihnen nun auch Vor- und Zunamen lieferte. Die Dorfbewohner aber vege¬ tierten dumpf und stumpf unter dem fremden Joch dahin. Als sich nun die mit der französischen Revolution ansehende Bewegung bis auf die Balkan¬ halbinsel fortgepflanzt und Serbe, Rumäne, Grieche die Fahne des Aufstandes gegen den türkischen Eroberer bereits entrollt hatte, da sahen die Bulgaren¬ führer keine andere Möglichkeit, ihr Volk'aus seiner trostlosen Lage herauszu¬ rechen, als Erweckung des Nationalbewußtseins durch Volksbildung. Die 1762 erschienene erste Geschichte der Bulgaren (vom Mönch Paisy) rüttelte das Volk aus dem nationalen Schlafe auf. In fünfunddreißigjährigem Kampf errang es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/156>, abgerufen am 24.08.2024.