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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

Zeit von Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart zugrunde zu
legen ist, nur soll den Schülern durch einzelne Fragen Gelegenheit gegeben
werden, zu zeigen, ob sie sich mit der vergleichenden Geschichtsbetrachtung
vertraut gemacht haben und imstande sind, den inneren Zusammenhang größerer
Zeitabschnitte zu erkennen.

Als grundlegende Anschauung, auf der sich der ganze Erlaß in seiner
inneren Logik aufbaut, wird die folgende galten müssen: die Geschichte sei für
unsere Jugend von um so größerer Bedeutung, je näher ihr Gebiet der Gegen¬
wart steht. Der Übelstand, an dem sich der Wille zum Bessern überhaupt ent¬
zündet hat, besteht darin, daß im herrschenden Betrieb der Stoff sich gegen Ende
des letzten Schuljahres, zumal durch die nötigen Wiederholungen für die Reife¬
prüfung und durch deren oft frühen Termin, so drängt, daß die jüngste Periode,
etwa seit den Befreiungskriegen, nur in größter Eile oder gar nicht mehr erledigt
werden kann. Diese Schwierigkeiten müssen allerdings wachsen, wenn allen
Ernstes die Absicht besteht, den Weltkrieg, nachdem kaum die Kanonen verhallt
sind, bereits zu einem historischen Lehrgegenstand zu erheben. Nicht vom Bedauern
ist also die Reform getragen, daß irgendeine Geschichtsepoche hier zu kurz kommt,
sondern dies Bedauern weist die ganz besondere Färbung auf. daß es sich um
die wesentlichste, gewissermaßen den ganzen Geschichtsunterricht krönende Epoche
handelt. Selbstverständlich liegt dabei nicht das objektive Urteil dem Erlaß
zugrunde, daß sich das neunzehnte Jahrhundert im Gefüge der Weltgeschichte
besonders hervorhebe, sondern nur das subjektive, daß es für uns Gegenwarts¬
menschen das kennenswerteste sei, dem die Schule deshalb die breiteste Erörterung
schulde. Und da die ganze Reform sich von dem Hintergrunde unseres gegen¬
wärtigen nationalen Erlebens abhebt, ist wohl nicht zu viel gesagt, daß diese
subjektive Wichtigkeit besonders darauf gegründet wird, daß in der Geschichte
des neunzehnten Jahrhunderts die wesentlichen Verständnisvoraussetzungen der
jetzigen politischen Lage und ihrer nächsten politischen Aufgaben dem Schüler zu
bieten seien.

Seit Nietzsche seine epochemachende Abhandlung: Vom Nutzen und Nach¬
teil der Historie für das Leben schrieb, ist es dem allgemeinen Bewußtsein
deutlich geworden, wie vielfältig die subjektiven Zwecke sein können, aus denen
heraus wir Geschichte treiben. Über die Bedeutung, die die Geschichte als Vor¬
bild für zukünftige Politik besitzt, dürften die Meinungen noch immer sehr geteilt
sein. Bekanntlich gibt es bedeutende Staatsmänner, die behauptet haben, nichts
aus der Geschichte haben lernen zu können, und ihnen stehen andere gegenüber,
die sich jedenfalls eifrig mit historischen Studien abgegeben haben. Aber der
praktische Wert der Geschichte braucht ja nicht in dieser Einengung auf das
eigene Geschichtemachen gesehen zu werden. Es bliebe immer noch die Ver¬
mittlung des Verständnisses der Gegenwart. Fingieren wir also dies einmal
als den einzigen Zweck des geschichtlichen Unterrichts, um so dem Gesichtspunkte
am besten gerecht zu werden. Gerade dann aber läßt sich wohl mit guten


Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

Zeit von Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart zugrunde zu
legen ist, nur soll den Schülern durch einzelne Fragen Gelegenheit gegeben
werden, zu zeigen, ob sie sich mit der vergleichenden Geschichtsbetrachtung
vertraut gemacht haben und imstande sind, den inneren Zusammenhang größerer
Zeitabschnitte zu erkennen.

Als grundlegende Anschauung, auf der sich der ganze Erlaß in seiner
inneren Logik aufbaut, wird die folgende galten müssen: die Geschichte sei für
unsere Jugend von um so größerer Bedeutung, je näher ihr Gebiet der Gegen¬
wart steht. Der Übelstand, an dem sich der Wille zum Bessern überhaupt ent¬
zündet hat, besteht darin, daß im herrschenden Betrieb der Stoff sich gegen Ende
des letzten Schuljahres, zumal durch die nötigen Wiederholungen für die Reife¬
prüfung und durch deren oft frühen Termin, so drängt, daß die jüngste Periode,
etwa seit den Befreiungskriegen, nur in größter Eile oder gar nicht mehr erledigt
werden kann. Diese Schwierigkeiten müssen allerdings wachsen, wenn allen
Ernstes die Absicht besteht, den Weltkrieg, nachdem kaum die Kanonen verhallt
sind, bereits zu einem historischen Lehrgegenstand zu erheben. Nicht vom Bedauern
ist also die Reform getragen, daß irgendeine Geschichtsepoche hier zu kurz kommt,
sondern dies Bedauern weist die ganz besondere Färbung auf. daß es sich um
die wesentlichste, gewissermaßen den ganzen Geschichtsunterricht krönende Epoche
handelt. Selbstverständlich liegt dabei nicht das objektive Urteil dem Erlaß
zugrunde, daß sich das neunzehnte Jahrhundert im Gefüge der Weltgeschichte
besonders hervorhebe, sondern nur das subjektive, daß es für uns Gegenwarts¬
menschen das kennenswerteste sei, dem die Schule deshalb die breiteste Erörterung
schulde. Und da die ganze Reform sich von dem Hintergrunde unseres gegen¬
wärtigen nationalen Erlebens abhebt, ist wohl nicht zu viel gesagt, daß diese
subjektive Wichtigkeit besonders darauf gegründet wird, daß in der Geschichte
des neunzehnten Jahrhunderts die wesentlichen Verständnisvoraussetzungen der
jetzigen politischen Lage und ihrer nächsten politischen Aufgaben dem Schüler zu
bieten seien.

Seit Nietzsche seine epochemachende Abhandlung: Vom Nutzen und Nach¬
teil der Historie für das Leben schrieb, ist es dem allgemeinen Bewußtsein
deutlich geworden, wie vielfältig die subjektiven Zwecke sein können, aus denen
heraus wir Geschichte treiben. Über die Bedeutung, die die Geschichte als Vor¬
bild für zukünftige Politik besitzt, dürften die Meinungen noch immer sehr geteilt
sein. Bekanntlich gibt es bedeutende Staatsmänner, die behauptet haben, nichts
aus der Geschichte haben lernen zu können, und ihnen stehen andere gegenüber,
die sich jedenfalls eifrig mit historischen Studien abgegeben haben. Aber der
praktische Wert der Geschichte braucht ja nicht in dieser Einengung auf das
eigene Geschichtemachen gesehen zu werden. Es bliebe immer noch die Ver¬
mittlung des Verständnisses der Gegenwart. Fingieren wir also dies einmal
als den einzigen Zweck des geschichtlichen Unterrichts, um so dem Gesichtspunkte
am besten gerecht zu werden. Gerade dann aber läßt sich wohl mit guten


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[0116] Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes Zeit von Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart zugrunde zu legen ist, nur soll den Schülern durch einzelne Fragen Gelegenheit gegeben werden, zu zeigen, ob sie sich mit der vergleichenden Geschichtsbetrachtung vertraut gemacht haben und imstande sind, den inneren Zusammenhang größerer Zeitabschnitte zu erkennen. Als grundlegende Anschauung, auf der sich der ganze Erlaß in seiner inneren Logik aufbaut, wird die folgende galten müssen: die Geschichte sei für unsere Jugend von um so größerer Bedeutung, je näher ihr Gebiet der Gegen¬ wart steht. Der Übelstand, an dem sich der Wille zum Bessern überhaupt ent¬ zündet hat, besteht darin, daß im herrschenden Betrieb der Stoff sich gegen Ende des letzten Schuljahres, zumal durch die nötigen Wiederholungen für die Reife¬ prüfung und durch deren oft frühen Termin, so drängt, daß die jüngste Periode, etwa seit den Befreiungskriegen, nur in größter Eile oder gar nicht mehr erledigt werden kann. Diese Schwierigkeiten müssen allerdings wachsen, wenn allen Ernstes die Absicht besteht, den Weltkrieg, nachdem kaum die Kanonen verhallt sind, bereits zu einem historischen Lehrgegenstand zu erheben. Nicht vom Bedauern ist also die Reform getragen, daß irgendeine Geschichtsepoche hier zu kurz kommt, sondern dies Bedauern weist die ganz besondere Färbung auf. daß es sich um die wesentlichste, gewissermaßen den ganzen Geschichtsunterricht krönende Epoche handelt. Selbstverständlich liegt dabei nicht das objektive Urteil dem Erlaß zugrunde, daß sich das neunzehnte Jahrhundert im Gefüge der Weltgeschichte besonders hervorhebe, sondern nur das subjektive, daß es für uns Gegenwarts¬ menschen das kennenswerteste sei, dem die Schule deshalb die breiteste Erörterung schulde. Und da die ganze Reform sich von dem Hintergrunde unseres gegen¬ wärtigen nationalen Erlebens abhebt, ist wohl nicht zu viel gesagt, daß diese subjektive Wichtigkeit besonders darauf gegründet wird, daß in der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts die wesentlichen Verständnisvoraussetzungen der jetzigen politischen Lage und ihrer nächsten politischen Aufgaben dem Schüler zu bieten seien. Seit Nietzsche seine epochemachende Abhandlung: Vom Nutzen und Nach¬ teil der Historie für das Leben schrieb, ist es dem allgemeinen Bewußtsein deutlich geworden, wie vielfältig die subjektiven Zwecke sein können, aus denen heraus wir Geschichte treiben. Über die Bedeutung, die die Geschichte als Vor¬ bild für zukünftige Politik besitzt, dürften die Meinungen noch immer sehr geteilt sein. Bekanntlich gibt es bedeutende Staatsmänner, die behauptet haben, nichts aus der Geschichte haben lernen zu können, und ihnen stehen andere gegenüber, die sich jedenfalls eifrig mit historischen Studien abgegeben haben. Aber der praktische Wert der Geschichte braucht ja nicht in dieser Einengung auf das eigene Geschichtemachen gesehen zu werden. Es bliebe immer noch die Ver¬ mittlung des Verständnisses der Gegenwart. Fingieren wir also dies einmal als den einzigen Zweck des geschichtlichen Unterrichts, um so dem Gesichtspunkte am besten gerecht zu werden. Gerade dann aber läßt sich wohl mit guten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/116>, abgerufen am 27.12.2024.