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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Skandinavien und der Krieg

Plänen beseeltes Bahnen der Wege zu friedlichem Gewerbefleiß in Gegenden,
wo vorher Unfähigkeit und Faulheit geherrscht haben. Welch zivilisatorische
Riesenarbeit hat England in Indien ausgeführt, und was hat Rußland mit
der sibirischen Eisenbahn ausgerichtet, von der großartigen Ackerbaukolonisation,
welche die Staatsmänner des russischen Zaren, nach Nansens kürzlich erschienenen
Buche "Sibirien", im Osten des Ural zu betreiben im Begriffe sind, gar nicht
zu reden I

Doch die Wohltaten des Imperialismus sind kein Opiat, das unser Gewissen
vor dem Sündenfalle der Anschauung einschläfern kann. Es gibt etwas, das
diese Weltpolitik, besonders in ihrer russischen Form, vergißt: jene moralische
Urkraft in jeder kleinen Nation, jenen ewig gesunden Punkt auch bei dem
kränksten Volke -- das Nationalgefühl. Dieses Gefühl läßt sich irreführen, es
kann heute preisen, was es morgen verschweigt oder dessen es sich schämt.
Doch wie sehr sich ein erregtes, selbstgerechtes Nationalgefühl auch verirren
kann, es trägt doch unter all seiner Wellenbewegung zwischen hoch und niedrig
das unsterbliche Ich eines Volkes in das Wellental hinab und auf den Wellen¬
kamm hinauf. Denn auch in dem Hasse gegen ein anderes Volk wohnt etwas
reineres als bloße persönliche Selbstsucht. Man liebt und man haßt mit seinem
Lande, obwohl die Herzensbildung und das Licht des Denkens uns sagen
wüßten, daß der Chauvinismus des Hasses nur eine sehr trübe Nebulose ist.
die kein Recht hat. sich noch als strahlende Sonne der Vaterlandsliebe anzusehen.
"Nicht mit Haß. sondern mit Zorn, mit heiligem Zorn" kämpft Deutschland,
wie sein Reichskanzler gesagt hat. Das ist gerade das richtige Wort. Eine
Menge Aussprüche, welche eine schwedische Zeitung von bedeutenden Männern
der kriegführenden Staaten wiedergegeben hat. bestätigen in jeder Weise das
Zeugnis des Reichskanzlers. Der deutsche Geist sieht den Krieg mit reinerem
Blicke an als die Gegner. , . ^

Eins ist also gewiß: wir können nicht ohne Vaterland leben, wir wurden
"me qualvolle Hölle im eigenen Lande einem Himmel ohne unser Land vor-
Ziehen. Gebt uns den Schlüssel zum Himmelreich und sagt uns. daß wir hinter
seiner Tür unser Vaterland nicht finden werden, so werfen wir den Schlüssel
in das Meer, wo es am tiefsten ist! Ist es wahr, daß "die Liebe ammer
aufhört", wie Paulus sagt, so gilt dies auch von der Vaterlandsliebe.

Eine unterdrückte Nation besitzt unsterbliche Urkraft. die tiefe Urgew.ßheit
ihres Rechtes auf ewiges Leben, die klar aus dem Auge des moralischen Rechtes
und des patriotischen Auflebens leuchtet, wofü? aber der Imperialismus keinen
Blick hat. Dieser mangelhaften Scharfsichtigkeit zeigt sich das Licht der wirklichen
Geschichte nie. Das Zeitgetümmel mit errichteten und wiederumgesturzteu
Thronen, die ganze theatralische Szenerie der Weltgeschichte - es sind wohl
Geschichten, aber keine Geschichte. Die Geschichte ist das Damaskuslicht der
hohen, ewigen Ideen auf dem nach einem fernen Ziele Hinfuhrenden Wege des
Friedens und des Krieges, jenes Licht, von welchem man nur sagen kann, daß


19*
Skandinavien und der Krieg

Plänen beseeltes Bahnen der Wege zu friedlichem Gewerbefleiß in Gegenden,
wo vorher Unfähigkeit und Faulheit geherrscht haben. Welch zivilisatorische
Riesenarbeit hat England in Indien ausgeführt, und was hat Rußland mit
der sibirischen Eisenbahn ausgerichtet, von der großartigen Ackerbaukolonisation,
welche die Staatsmänner des russischen Zaren, nach Nansens kürzlich erschienenen
Buche „Sibirien", im Osten des Ural zu betreiben im Begriffe sind, gar nicht
zu reden I

Doch die Wohltaten des Imperialismus sind kein Opiat, das unser Gewissen
vor dem Sündenfalle der Anschauung einschläfern kann. Es gibt etwas, das
diese Weltpolitik, besonders in ihrer russischen Form, vergißt: jene moralische
Urkraft in jeder kleinen Nation, jenen ewig gesunden Punkt auch bei dem
kränksten Volke — das Nationalgefühl. Dieses Gefühl läßt sich irreführen, es
kann heute preisen, was es morgen verschweigt oder dessen es sich schämt.
Doch wie sehr sich ein erregtes, selbstgerechtes Nationalgefühl auch verirren
kann, es trägt doch unter all seiner Wellenbewegung zwischen hoch und niedrig
das unsterbliche Ich eines Volkes in das Wellental hinab und auf den Wellen¬
kamm hinauf. Denn auch in dem Hasse gegen ein anderes Volk wohnt etwas
reineres als bloße persönliche Selbstsucht. Man liebt und man haßt mit seinem
Lande, obwohl die Herzensbildung und das Licht des Denkens uns sagen
wüßten, daß der Chauvinismus des Hasses nur eine sehr trübe Nebulose ist.
die kein Recht hat. sich noch als strahlende Sonne der Vaterlandsliebe anzusehen.
"Nicht mit Haß. sondern mit Zorn, mit heiligem Zorn" kämpft Deutschland,
wie sein Reichskanzler gesagt hat. Das ist gerade das richtige Wort. Eine
Menge Aussprüche, welche eine schwedische Zeitung von bedeutenden Männern
der kriegführenden Staaten wiedergegeben hat. bestätigen in jeder Weise das
Zeugnis des Reichskanzlers. Der deutsche Geist sieht den Krieg mit reinerem
Blicke an als die Gegner. , . ^

Eins ist also gewiß: wir können nicht ohne Vaterland leben, wir wurden
«me qualvolle Hölle im eigenen Lande einem Himmel ohne unser Land vor-
Ziehen. Gebt uns den Schlüssel zum Himmelreich und sagt uns. daß wir hinter
seiner Tür unser Vaterland nicht finden werden, so werfen wir den Schlüssel
in das Meer, wo es am tiefsten ist! Ist es wahr, daß „die Liebe ammer
aufhört", wie Paulus sagt, so gilt dies auch von der Vaterlandsliebe.

Eine unterdrückte Nation besitzt unsterbliche Urkraft. die tiefe Urgew.ßheit
ihres Rechtes auf ewiges Leben, die klar aus dem Auge des moralischen Rechtes
und des patriotischen Auflebens leuchtet, wofü? aber der Imperialismus keinen
Blick hat. Dieser mangelhaften Scharfsichtigkeit zeigt sich das Licht der wirklichen
Geschichte nie. Das Zeitgetümmel mit errichteten und wiederumgesturzteu
Thronen, die ganze theatralische Szenerie der Weltgeschichte - es sind wohl
Geschichten, aber keine Geschichte. Die Geschichte ist das Damaskuslicht der
hohen, ewigen Ideen auf dem nach einem fernen Ziele Hinfuhrenden Wege des
Friedens und des Krieges, jenes Licht, von welchem man nur sagen kann, daß


19*
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[0303] Skandinavien und der Krieg Plänen beseeltes Bahnen der Wege zu friedlichem Gewerbefleiß in Gegenden, wo vorher Unfähigkeit und Faulheit geherrscht haben. Welch zivilisatorische Riesenarbeit hat England in Indien ausgeführt, und was hat Rußland mit der sibirischen Eisenbahn ausgerichtet, von der großartigen Ackerbaukolonisation, welche die Staatsmänner des russischen Zaren, nach Nansens kürzlich erschienenen Buche „Sibirien", im Osten des Ural zu betreiben im Begriffe sind, gar nicht zu reden I Doch die Wohltaten des Imperialismus sind kein Opiat, das unser Gewissen vor dem Sündenfalle der Anschauung einschläfern kann. Es gibt etwas, das diese Weltpolitik, besonders in ihrer russischen Form, vergißt: jene moralische Urkraft in jeder kleinen Nation, jenen ewig gesunden Punkt auch bei dem kränksten Volke — das Nationalgefühl. Dieses Gefühl läßt sich irreführen, es kann heute preisen, was es morgen verschweigt oder dessen es sich schämt. Doch wie sehr sich ein erregtes, selbstgerechtes Nationalgefühl auch verirren kann, es trägt doch unter all seiner Wellenbewegung zwischen hoch und niedrig das unsterbliche Ich eines Volkes in das Wellental hinab und auf den Wellen¬ kamm hinauf. Denn auch in dem Hasse gegen ein anderes Volk wohnt etwas reineres als bloße persönliche Selbstsucht. Man liebt und man haßt mit seinem Lande, obwohl die Herzensbildung und das Licht des Denkens uns sagen wüßten, daß der Chauvinismus des Hasses nur eine sehr trübe Nebulose ist. die kein Recht hat. sich noch als strahlende Sonne der Vaterlandsliebe anzusehen. "Nicht mit Haß. sondern mit Zorn, mit heiligem Zorn" kämpft Deutschland, wie sein Reichskanzler gesagt hat. Das ist gerade das richtige Wort. Eine Menge Aussprüche, welche eine schwedische Zeitung von bedeutenden Männern der kriegführenden Staaten wiedergegeben hat. bestätigen in jeder Weise das Zeugnis des Reichskanzlers. Der deutsche Geist sieht den Krieg mit reinerem Blicke an als die Gegner. , . ^ Eins ist also gewiß: wir können nicht ohne Vaterland leben, wir wurden «me qualvolle Hölle im eigenen Lande einem Himmel ohne unser Land vor- Ziehen. Gebt uns den Schlüssel zum Himmelreich und sagt uns. daß wir hinter seiner Tür unser Vaterland nicht finden werden, so werfen wir den Schlüssel in das Meer, wo es am tiefsten ist! Ist es wahr, daß „die Liebe ammer aufhört", wie Paulus sagt, so gilt dies auch von der Vaterlandsliebe. Eine unterdrückte Nation besitzt unsterbliche Urkraft. die tiefe Urgew.ßheit ihres Rechtes auf ewiges Leben, die klar aus dem Auge des moralischen Rechtes und des patriotischen Auflebens leuchtet, wofü? aber der Imperialismus keinen Blick hat. Dieser mangelhaften Scharfsichtigkeit zeigt sich das Licht der wirklichen Geschichte nie. Das Zeitgetümmel mit errichteten und wiederumgesturzteu Thronen, die ganze theatralische Szenerie der Weltgeschichte - es sind wohl Geschichten, aber keine Geschichte. Die Geschichte ist das Damaskuslicht der hohen, ewigen Ideen auf dem nach einem fernen Ziele Hinfuhrenden Wege des Friedens und des Krieges, jenes Licht, von welchem man nur sagen kann, daß 19*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/303>, abgerufen am 22.07.2024.