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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Warum bekämpft uns Rußland?

1. Seit Errichtung der russischen Duma war der Zar eigentlich nicht mehr
Selbstherrscher. Dies paßte der Hofpartei ebensowenig wie gewissen Kreisen
des Volkes. Ihnen sind die sogenannten "echt russischen Leute" und die Geist¬
lichkeit in erster Linie beizuzählen. Ihre Motive liegen klar auf der Hand, es
sind dieselben, die wir in der Weltgeschichte überall da wiederfinden, wo ein
geknechtetes Volk den Kampf gegen seine Machthaber aufnimmt. Mit einer
freien Regierung schwinden für die bisher herrschenden Klassen die guten, alten
Zeiten dahin, in denen sie, auf Kosten des geknechteten, verdummten Volkes'
sorglos in den Tag hinein leben konnten. Sowie die Revolution in den Jahren
1906 bis 1907 sich einigermaßen beruhigt hatte, begann ein langsamer, zäher Kampf
gegen jedwede Freiheit des Volkes. Das Wahlrecht wurde verschiedentlich
geändert, Rechte, die man einigen Fremdoölkern eingeräumt hatte, wurden
beseitigt, die Presse wurde immer kürzer gehalten und so fort auf allen Gebieten
des öffentlichen Lebens. Man fühlte ordentlich den Druck der Regierungs¬
gewalt immer stärker werden. Zu einem entscheidenden Schritte, wie etwa Ab¬
schaffung der Duma, oder Entziehung ihrer letzten Rechte, hatte man sich noch
nicht entschließen können, es ist aber durchaus wahrscheinlich, daß die erwähnten,
sehr mächtigen Kreise sich von einem siegreichen Feldzuge in dieser Hinsicht
vieles versprachen. Verfasser ist der Ansicht, daß ein siegreicher Krieg das größte
Unglück für die Völker Rußlands geworden wäre, ihre letzten Freiheiten wären
dahingeschmolzen vor dem Glänze der siegreich zurückkehrenden Feldherren. Die
französischen Tiraden über den gemeinsam mit Rußland geführten Kampf um
die hohen Ideale menschlicher Freiheit und Gleichheit sind das albernste
Geschwätz, welches man im Laufe des Krieges zu hören bekam. Gerade das
Gegenteil dieser Ziele mag vielleicht eine größere Rolle bei der Entscheidung
über Krieg und Frieden gespielt haben, wie man ahnen kann. Dieser, so
ssrglich verheimlichte Grund ist wahrscheinlich viel wichtiger, wie manch anderer,
von dem unendlich viel geredet und geschrieben wurde. Fast möchte Verfasser
annehmen, daß, nächst dem Hauptgrund -- Meerengenfrage -- dieser Grund
die wichtigste Rolle spielt.

2. Die russische Waffenehre war durch den Ausgang des russisch japanischen
Krieges aufs tiefste verletzt; es gab Kreise, besonders unter den Militärs, die
dies nicht verwinden konnten und sehnsüchtig auf eine Gelegenheit warteten,
um diesen Flecken auf Rußlands Ehre durch neue Siege zu tilgen. Man
dachte allerdings in erster Linie in diesen Kreisen an einen Krieg mit Österreich
und hoffte, daß Deutschland im letzten Augenblick seinen Bundesgenossen doch
im Stiche lassen würde. Schon einmal, während der Balkankrise von 1909,
mußte der "Ritter in schimmernder Rüstung" auf dem Plane erscheinen, um
einen russischen Überfall auf Österreich zu verhindern. Als jedoch Rußland die
Sicherheit hatte, daß auch England aktiv in einen Krieg gegen seinen wirt¬
schaftlichen Nebenbuhler eingreifen würde, schwand die Furcht vor Deutschland,
man glaubte nunmehr die Stunde gekommen, um Mukven und Tsuschima


Warum bekämpft uns Rußland?

1. Seit Errichtung der russischen Duma war der Zar eigentlich nicht mehr
Selbstherrscher. Dies paßte der Hofpartei ebensowenig wie gewissen Kreisen
des Volkes. Ihnen sind die sogenannten „echt russischen Leute" und die Geist¬
lichkeit in erster Linie beizuzählen. Ihre Motive liegen klar auf der Hand, es
sind dieselben, die wir in der Weltgeschichte überall da wiederfinden, wo ein
geknechtetes Volk den Kampf gegen seine Machthaber aufnimmt. Mit einer
freien Regierung schwinden für die bisher herrschenden Klassen die guten, alten
Zeiten dahin, in denen sie, auf Kosten des geknechteten, verdummten Volkes'
sorglos in den Tag hinein leben konnten. Sowie die Revolution in den Jahren
1906 bis 1907 sich einigermaßen beruhigt hatte, begann ein langsamer, zäher Kampf
gegen jedwede Freiheit des Volkes. Das Wahlrecht wurde verschiedentlich
geändert, Rechte, die man einigen Fremdoölkern eingeräumt hatte, wurden
beseitigt, die Presse wurde immer kürzer gehalten und so fort auf allen Gebieten
des öffentlichen Lebens. Man fühlte ordentlich den Druck der Regierungs¬
gewalt immer stärker werden. Zu einem entscheidenden Schritte, wie etwa Ab¬
schaffung der Duma, oder Entziehung ihrer letzten Rechte, hatte man sich noch
nicht entschließen können, es ist aber durchaus wahrscheinlich, daß die erwähnten,
sehr mächtigen Kreise sich von einem siegreichen Feldzuge in dieser Hinsicht
vieles versprachen. Verfasser ist der Ansicht, daß ein siegreicher Krieg das größte
Unglück für die Völker Rußlands geworden wäre, ihre letzten Freiheiten wären
dahingeschmolzen vor dem Glänze der siegreich zurückkehrenden Feldherren. Die
französischen Tiraden über den gemeinsam mit Rußland geführten Kampf um
die hohen Ideale menschlicher Freiheit und Gleichheit sind das albernste
Geschwätz, welches man im Laufe des Krieges zu hören bekam. Gerade das
Gegenteil dieser Ziele mag vielleicht eine größere Rolle bei der Entscheidung
über Krieg und Frieden gespielt haben, wie man ahnen kann. Dieser, so
ssrglich verheimlichte Grund ist wahrscheinlich viel wichtiger, wie manch anderer,
von dem unendlich viel geredet und geschrieben wurde. Fast möchte Verfasser
annehmen, daß, nächst dem Hauptgrund — Meerengenfrage — dieser Grund
die wichtigste Rolle spielt.

2. Die russische Waffenehre war durch den Ausgang des russisch japanischen
Krieges aufs tiefste verletzt; es gab Kreise, besonders unter den Militärs, die
dies nicht verwinden konnten und sehnsüchtig auf eine Gelegenheit warteten,
um diesen Flecken auf Rußlands Ehre durch neue Siege zu tilgen. Man
dachte allerdings in erster Linie in diesen Kreisen an einen Krieg mit Österreich
und hoffte, daß Deutschland im letzten Augenblick seinen Bundesgenossen doch
im Stiche lassen würde. Schon einmal, während der Balkankrise von 1909,
mußte der „Ritter in schimmernder Rüstung" auf dem Plane erscheinen, um
einen russischen Überfall auf Österreich zu verhindern. Als jedoch Rußland die
Sicherheit hatte, daß auch England aktiv in einen Krieg gegen seinen wirt¬
schaftlichen Nebenbuhler eingreifen würde, schwand die Furcht vor Deutschland,
man glaubte nunmehr die Stunde gekommen, um Mukven und Tsuschima


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[0279] Warum bekämpft uns Rußland? 1. Seit Errichtung der russischen Duma war der Zar eigentlich nicht mehr Selbstherrscher. Dies paßte der Hofpartei ebensowenig wie gewissen Kreisen des Volkes. Ihnen sind die sogenannten „echt russischen Leute" und die Geist¬ lichkeit in erster Linie beizuzählen. Ihre Motive liegen klar auf der Hand, es sind dieselben, die wir in der Weltgeschichte überall da wiederfinden, wo ein geknechtetes Volk den Kampf gegen seine Machthaber aufnimmt. Mit einer freien Regierung schwinden für die bisher herrschenden Klassen die guten, alten Zeiten dahin, in denen sie, auf Kosten des geknechteten, verdummten Volkes' sorglos in den Tag hinein leben konnten. Sowie die Revolution in den Jahren 1906 bis 1907 sich einigermaßen beruhigt hatte, begann ein langsamer, zäher Kampf gegen jedwede Freiheit des Volkes. Das Wahlrecht wurde verschiedentlich geändert, Rechte, die man einigen Fremdoölkern eingeräumt hatte, wurden beseitigt, die Presse wurde immer kürzer gehalten und so fort auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Man fühlte ordentlich den Druck der Regierungs¬ gewalt immer stärker werden. Zu einem entscheidenden Schritte, wie etwa Ab¬ schaffung der Duma, oder Entziehung ihrer letzten Rechte, hatte man sich noch nicht entschließen können, es ist aber durchaus wahrscheinlich, daß die erwähnten, sehr mächtigen Kreise sich von einem siegreichen Feldzuge in dieser Hinsicht vieles versprachen. Verfasser ist der Ansicht, daß ein siegreicher Krieg das größte Unglück für die Völker Rußlands geworden wäre, ihre letzten Freiheiten wären dahingeschmolzen vor dem Glänze der siegreich zurückkehrenden Feldherren. Die französischen Tiraden über den gemeinsam mit Rußland geführten Kampf um die hohen Ideale menschlicher Freiheit und Gleichheit sind das albernste Geschwätz, welches man im Laufe des Krieges zu hören bekam. Gerade das Gegenteil dieser Ziele mag vielleicht eine größere Rolle bei der Entscheidung über Krieg und Frieden gespielt haben, wie man ahnen kann. Dieser, so ssrglich verheimlichte Grund ist wahrscheinlich viel wichtiger, wie manch anderer, von dem unendlich viel geredet und geschrieben wurde. Fast möchte Verfasser annehmen, daß, nächst dem Hauptgrund — Meerengenfrage — dieser Grund die wichtigste Rolle spielt. 2. Die russische Waffenehre war durch den Ausgang des russisch japanischen Krieges aufs tiefste verletzt; es gab Kreise, besonders unter den Militärs, die dies nicht verwinden konnten und sehnsüchtig auf eine Gelegenheit warteten, um diesen Flecken auf Rußlands Ehre durch neue Siege zu tilgen. Man dachte allerdings in erster Linie in diesen Kreisen an einen Krieg mit Österreich und hoffte, daß Deutschland im letzten Augenblick seinen Bundesgenossen doch im Stiche lassen würde. Schon einmal, während der Balkankrise von 1909, mußte der „Ritter in schimmernder Rüstung" auf dem Plane erscheinen, um einen russischen Überfall auf Österreich zu verhindern. Als jedoch Rußland die Sicherheit hatte, daß auch England aktiv in einen Krieg gegen seinen wirt¬ schaftlichen Nebenbuhler eingreifen würde, schwand die Furcht vor Deutschland, man glaubte nunmehr die Stunde gekommen, um Mukven und Tsuschima

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/279>, abgerufen am 22.07.2024.