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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Warum bekämpft uns Rußland?

Mit großer Mühe hatte Rußland diesen Krieg gewonnen, ging aber so
geschwächt daraus hervor, daß es sich fügen mußte, als ihm die europäische
Diplomatie in dem Augenblick in den Arm fiel, da es sich anschickte, Konstantinopel
zu besetzen. Besonders waren es England und Österreich, die eine drohende
Haltung einnahmen. Am wenigsten interessiert an der Frage war damals
Deutschland; aus diesem Grunde einigte man sich, einen Kongreß nach Berlin
zu berufen, der den zwischen Rußland und der Türkei geschlossenen Frieden von
Se. Stefano berichtigen sollte, er tagte vom 13. Juni bis 13. Juli 1878.
Rußland hatte erwartet, daß Bismarck bei dieser Gelegenheit bedingungslos
seine Interessen vertreten würde und zwar als Gegendienst für die russische
Neutralität von 1866 und 1870; es war sehr enttäuscht und verstimmt, als
dies nicht der Fall war. Bismarck mag wohl der Ansicht gewesen sein, daß
ein zu mächtiges Rußland in Deutschland nicht mehr einen Bundesgenossen,
sondern einen Vasallen gesehen hätte. Ohne Zweifel bedeutet der Ausgang
des Berliner Kongresses eine schwere Demütigung Rußlands; es mußte einen
großen Teil des mühsam Erkämpften aufgeben und wurde für lange Zeit von
den Meerengen fern gehalten. Die Verantwortung hierfür schoben die Russen
in erster Linie Deutschland zu, noch heute herrscht in Rußland allgemein die
Ansicht, daß man längst im Besitze der Meerengen wäre, hätte Bismarck dies
nicht verhindert; es sei dahingestellt, ob es anders gekommen wäre, wenn
Bismarck die ganze Wucht seiner Persönlichkeit in die Wagschale der russischen
Interessen geworfen hätte.

Seit dem Berliner Kongreß datiert denn auch die Abkühlung des deutsch¬
russischen Verhältnisses. Die Russen mußten sich jetzt sagen, daß der Weg zu
den Meerengen, der über den Balkan führt, für sie nur betretbar würde, nach¬
dem sie Osterreich besiegt haben würden, ferner, daß sie neben Österreich nunmehr
auch Deutschland als Gegner finden würden oder kürzer gesagt: keine Meerengen
ohne Besiegung Deutschlands. Dieser Erkenntnis mußte notwendig eine Front¬
veränderung der ganzen russischen Politik folgen, sie mußte Bündnisse suchen,
die ihr den kommenden Krieg gegen Deutschland-Österreich erleichterten. Mit welchem
Geschick diese Aufgabe gelöst wurde, dürfte allgemein bekannt sein, braucht daher
nicht weiter behandelt zu werden. Hier also liegt der Schlüssel für das russische
Gebaren während der letzten sechsunddreißig Jahre; betrachtet man die Er¬
eignisse von diesem Gesichtspunkt aus, so findet man eine konsequente Folge¬
richtigkeit in allen russischen Handlungen; alle etwa auftretenden Gefühls¬
regungen mußten zurückstehen bei Verfolgung des großen Zieles -- der
Meerengen.

Viele Hindernisse gab es zu überwinden sowohl im Inlande wie im Aus¬
lande, daher kommt es, daß der wahre Grund für längere Zeit zurücktritt
hinter den verschiedensten Schein- und Hilfsgründen, die nötig waren, um die
öffentliche Meinung des In- und Auslandes genügend vorzubereiten. Diese
Gründe zweiten Ranges wurden mit soviel Erfolg in das Vordertreffen


Warum bekämpft uns Rußland?

Mit großer Mühe hatte Rußland diesen Krieg gewonnen, ging aber so
geschwächt daraus hervor, daß es sich fügen mußte, als ihm die europäische
Diplomatie in dem Augenblick in den Arm fiel, da es sich anschickte, Konstantinopel
zu besetzen. Besonders waren es England und Österreich, die eine drohende
Haltung einnahmen. Am wenigsten interessiert an der Frage war damals
Deutschland; aus diesem Grunde einigte man sich, einen Kongreß nach Berlin
zu berufen, der den zwischen Rußland und der Türkei geschlossenen Frieden von
Se. Stefano berichtigen sollte, er tagte vom 13. Juni bis 13. Juli 1878.
Rußland hatte erwartet, daß Bismarck bei dieser Gelegenheit bedingungslos
seine Interessen vertreten würde und zwar als Gegendienst für die russische
Neutralität von 1866 und 1870; es war sehr enttäuscht und verstimmt, als
dies nicht der Fall war. Bismarck mag wohl der Ansicht gewesen sein, daß
ein zu mächtiges Rußland in Deutschland nicht mehr einen Bundesgenossen,
sondern einen Vasallen gesehen hätte. Ohne Zweifel bedeutet der Ausgang
des Berliner Kongresses eine schwere Demütigung Rußlands; es mußte einen
großen Teil des mühsam Erkämpften aufgeben und wurde für lange Zeit von
den Meerengen fern gehalten. Die Verantwortung hierfür schoben die Russen
in erster Linie Deutschland zu, noch heute herrscht in Rußland allgemein die
Ansicht, daß man längst im Besitze der Meerengen wäre, hätte Bismarck dies
nicht verhindert; es sei dahingestellt, ob es anders gekommen wäre, wenn
Bismarck die ganze Wucht seiner Persönlichkeit in die Wagschale der russischen
Interessen geworfen hätte.

Seit dem Berliner Kongreß datiert denn auch die Abkühlung des deutsch¬
russischen Verhältnisses. Die Russen mußten sich jetzt sagen, daß der Weg zu
den Meerengen, der über den Balkan führt, für sie nur betretbar würde, nach¬
dem sie Osterreich besiegt haben würden, ferner, daß sie neben Österreich nunmehr
auch Deutschland als Gegner finden würden oder kürzer gesagt: keine Meerengen
ohne Besiegung Deutschlands. Dieser Erkenntnis mußte notwendig eine Front¬
veränderung der ganzen russischen Politik folgen, sie mußte Bündnisse suchen,
die ihr den kommenden Krieg gegen Deutschland-Österreich erleichterten. Mit welchem
Geschick diese Aufgabe gelöst wurde, dürfte allgemein bekannt sein, braucht daher
nicht weiter behandelt zu werden. Hier also liegt der Schlüssel für das russische
Gebaren während der letzten sechsunddreißig Jahre; betrachtet man die Er¬
eignisse von diesem Gesichtspunkt aus, so findet man eine konsequente Folge¬
richtigkeit in allen russischen Handlungen; alle etwa auftretenden Gefühls¬
regungen mußten zurückstehen bei Verfolgung des großen Zieles — der
Meerengen.

Viele Hindernisse gab es zu überwinden sowohl im Inlande wie im Aus¬
lande, daher kommt es, daß der wahre Grund für längere Zeit zurücktritt
hinter den verschiedensten Schein- und Hilfsgründen, die nötig waren, um die
öffentliche Meinung des In- und Auslandes genügend vorzubereiten. Diese
Gründe zweiten Ranges wurden mit soviel Erfolg in das Vordertreffen


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[0272] Warum bekämpft uns Rußland? Mit großer Mühe hatte Rußland diesen Krieg gewonnen, ging aber so geschwächt daraus hervor, daß es sich fügen mußte, als ihm die europäische Diplomatie in dem Augenblick in den Arm fiel, da es sich anschickte, Konstantinopel zu besetzen. Besonders waren es England und Österreich, die eine drohende Haltung einnahmen. Am wenigsten interessiert an der Frage war damals Deutschland; aus diesem Grunde einigte man sich, einen Kongreß nach Berlin zu berufen, der den zwischen Rußland und der Türkei geschlossenen Frieden von Se. Stefano berichtigen sollte, er tagte vom 13. Juni bis 13. Juli 1878. Rußland hatte erwartet, daß Bismarck bei dieser Gelegenheit bedingungslos seine Interessen vertreten würde und zwar als Gegendienst für die russische Neutralität von 1866 und 1870; es war sehr enttäuscht und verstimmt, als dies nicht der Fall war. Bismarck mag wohl der Ansicht gewesen sein, daß ein zu mächtiges Rußland in Deutschland nicht mehr einen Bundesgenossen, sondern einen Vasallen gesehen hätte. Ohne Zweifel bedeutet der Ausgang des Berliner Kongresses eine schwere Demütigung Rußlands; es mußte einen großen Teil des mühsam Erkämpften aufgeben und wurde für lange Zeit von den Meerengen fern gehalten. Die Verantwortung hierfür schoben die Russen in erster Linie Deutschland zu, noch heute herrscht in Rußland allgemein die Ansicht, daß man längst im Besitze der Meerengen wäre, hätte Bismarck dies nicht verhindert; es sei dahingestellt, ob es anders gekommen wäre, wenn Bismarck die ganze Wucht seiner Persönlichkeit in die Wagschale der russischen Interessen geworfen hätte. Seit dem Berliner Kongreß datiert denn auch die Abkühlung des deutsch¬ russischen Verhältnisses. Die Russen mußten sich jetzt sagen, daß der Weg zu den Meerengen, der über den Balkan führt, für sie nur betretbar würde, nach¬ dem sie Osterreich besiegt haben würden, ferner, daß sie neben Österreich nunmehr auch Deutschland als Gegner finden würden oder kürzer gesagt: keine Meerengen ohne Besiegung Deutschlands. Dieser Erkenntnis mußte notwendig eine Front¬ veränderung der ganzen russischen Politik folgen, sie mußte Bündnisse suchen, die ihr den kommenden Krieg gegen Deutschland-Österreich erleichterten. Mit welchem Geschick diese Aufgabe gelöst wurde, dürfte allgemein bekannt sein, braucht daher nicht weiter behandelt zu werden. Hier also liegt der Schlüssel für das russische Gebaren während der letzten sechsunddreißig Jahre; betrachtet man die Er¬ eignisse von diesem Gesichtspunkt aus, so findet man eine konsequente Folge¬ richtigkeit in allen russischen Handlungen; alle etwa auftretenden Gefühls¬ regungen mußten zurückstehen bei Verfolgung des großen Zieles — der Meerengen. Viele Hindernisse gab es zu überwinden sowohl im Inlande wie im Aus¬ lande, daher kommt es, daß der wahre Grund für längere Zeit zurücktritt hinter den verschiedensten Schein- und Hilfsgründen, die nötig waren, um die öffentliche Meinung des In- und Auslandes genügend vorzubereiten. Diese Gründe zweiten Ranges wurden mit soviel Erfolg in das Vordertreffen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/272>, abgerufen am 01.07.2024.