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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Ostfront des Weltkrieges

Erdhöhle im Lande der Hottentotten bedarf. Denn der Russe ist ein Flu߬
mann, kein Seemann. Die russische Staatspolitik ist darauf ausgegangen, die
Moskowiter (die Großrussen) zu Herren über die anderen Völker in Rußland
zu machen und so eine gewaltige homogene Staatsbildung, ein Weltreich ohne¬
gleichen, zustandezubringen. Aber das Resultat ist ein Chaos ohnegleichen
geworden. Die gesetzliche Autonomie der verschiedenen Völker ist in brutaler
Weise unterdrückt worden, und an die Stelle nationaler Verwaltung ist eine
gegen die nationalen Züge ganz gefühllose und gegen die nationale Entwicklung
blinde Reichsverwaltung getreten. Diese großrussische Expansion, welche der mosko¬
witische Staatsgedanke mit herbeigeführt hat, ruht auf einer völkerpsychologischen
Unnatur, die das Zarenreich zu einem ständigen Revolutionsherde macht. Die
Mine unter dem dereinst zum Einsturz bereiten großen Bau wächst an Spreng¬
ladung mit jedem Tage des jetzt herrschenden Krieges, der ohne Zweifel für
Rußland zur Katastrophe werden wird. Damit erhält das russische Volk ein
durchaus anschauliches Bild der Politik der großfürstlichen Kriegspartei und
wird wohl danach handeln.

Der Begriff "Russen" umfaßt die vielleicht 70 Millionen zählenden
Moskowiter (Großrussen). 30 Millionen Ukrainern (Kleinrussen) und die
Weißrussen, welche ungefähr sechs Millionen stark an den Flüssen Pripet, Dniepr,
Dura und Njemen wohnen. Unter den russischen Stämmen stehen die durch
Hungersnot und Trunksucht sehr verheerten Weißrussen am niedrigsten. Wenn
auch die Ukrainer, die von den Moskowitern verächtlich "Kleinrussen" genannt
werden, trotzdem sie körperlich größer und geistig bedeutender sind als diese, zu
den Russen gerechnet werden, so haben sie doch ihre eigene Geschichte, ihre
eigene Sprache und ihr eigenes nationales Aussehen mit feineren Gesichtszügen
und dunklerer Hautfarbe, als man sie bei den Moskowitern findet. Der Unter¬
schied zwischen diesen beiden slawischen Völkern dürfte noch größer sein als der
Wischer den skandinavischen. Dagegen ist die Verschiedenheit zwischen Groß-
wssen und Weißrussen unbedeutend. Außer den Polen, Deutschen, Finnen,
Juden. Letten. Litauern und Ehlen hat Rußland unter seinen Bewohnern
noch viele andere nichtrussische Völker, wie 15 Millionen Turkotataren im
europäischen Rußland sowohl wie im asiatischen, vier Millionen Kirgisen, eine
Million Sarren, anderthalb Millionen Tschugatschen und Jakuten, ferner Turkmenen,
Kalmücken, Tungusen. Eskimos, Samojeden und allein in den Kaukasusländern
einige dreißig verschiedene Nationalitäten. Es gehört zur Kulturaufgabe Rußlands,
diese vielen zum großen Teile noch im Naturzustände lebenden Völker zu er¬
ziehen und auszubilden, und hier muß der russische Staatsgedanke vielleicht in
einem gewissen Maße mit einem notwendigen, natürlichen Verschmelzungsvrozesse
rechnen. Doch einer solchen Kulturaufgabe hat das Zarenreich die Barbaren¬
aufgabe einer Vernichtung der höheren, bereits ausgestalteten Kulturvölker, dre
innerhalb der Grenzen Rußlands wohnen, zugesellt. Dieser Gefahr kann der
Weltkrieg an der Ostfront Deutschlands und Österreichs abhelfen.


Die Ostfront des Weltkrieges

Erdhöhle im Lande der Hottentotten bedarf. Denn der Russe ist ein Flu߬
mann, kein Seemann. Die russische Staatspolitik ist darauf ausgegangen, die
Moskowiter (die Großrussen) zu Herren über die anderen Völker in Rußland
zu machen und so eine gewaltige homogene Staatsbildung, ein Weltreich ohne¬
gleichen, zustandezubringen. Aber das Resultat ist ein Chaos ohnegleichen
geworden. Die gesetzliche Autonomie der verschiedenen Völker ist in brutaler
Weise unterdrückt worden, und an die Stelle nationaler Verwaltung ist eine
gegen die nationalen Züge ganz gefühllose und gegen die nationale Entwicklung
blinde Reichsverwaltung getreten. Diese großrussische Expansion, welche der mosko¬
witische Staatsgedanke mit herbeigeführt hat, ruht auf einer völkerpsychologischen
Unnatur, die das Zarenreich zu einem ständigen Revolutionsherde macht. Die
Mine unter dem dereinst zum Einsturz bereiten großen Bau wächst an Spreng¬
ladung mit jedem Tage des jetzt herrschenden Krieges, der ohne Zweifel für
Rußland zur Katastrophe werden wird. Damit erhält das russische Volk ein
durchaus anschauliches Bild der Politik der großfürstlichen Kriegspartei und
wird wohl danach handeln.

Der Begriff „Russen" umfaßt die vielleicht 70 Millionen zählenden
Moskowiter (Großrussen). 30 Millionen Ukrainern (Kleinrussen) und die
Weißrussen, welche ungefähr sechs Millionen stark an den Flüssen Pripet, Dniepr,
Dura und Njemen wohnen. Unter den russischen Stämmen stehen die durch
Hungersnot und Trunksucht sehr verheerten Weißrussen am niedrigsten. Wenn
auch die Ukrainer, die von den Moskowitern verächtlich „Kleinrussen" genannt
werden, trotzdem sie körperlich größer und geistig bedeutender sind als diese, zu
den Russen gerechnet werden, so haben sie doch ihre eigene Geschichte, ihre
eigene Sprache und ihr eigenes nationales Aussehen mit feineren Gesichtszügen
und dunklerer Hautfarbe, als man sie bei den Moskowitern findet. Der Unter¬
schied zwischen diesen beiden slawischen Völkern dürfte noch größer sein als der
Wischer den skandinavischen. Dagegen ist die Verschiedenheit zwischen Groß-
wssen und Weißrussen unbedeutend. Außer den Polen, Deutschen, Finnen,
Juden. Letten. Litauern und Ehlen hat Rußland unter seinen Bewohnern
noch viele andere nichtrussische Völker, wie 15 Millionen Turkotataren im
europäischen Rußland sowohl wie im asiatischen, vier Millionen Kirgisen, eine
Million Sarren, anderthalb Millionen Tschugatschen und Jakuten, ferner Turkmenen,
Kalmücken, Tungusen. Eskimos, Samojeden und allein in den Kaukasusländern
einige dreißig verschiedene Nationalitäten. Es gehört zur Kulturaufgabe Rußlands,
diese vielen zum großen Teile noch im Naturzustände lebenden Völker zu er¬
ziehen und auszubilden, und hier muß der russische Staatsgedanke vielleicht in
einem gewissen Maße mit einem notwendigen, natürlichen Verschmelzungsvrozesse
rechnen. Doch einer solchen Kulturaufgabe hat das Zarenreich die Barbaren¬
aufgabe einer Vernichtung der höheren, bereits ausgestalteten Kulturvölker, dre
innerhalb der Grenzen Rußlands wohnen, zugesellt. Dieser Gefahr kann der
Weltkrieg an der Ostfront Deutschlands und Österreichs abhelfen.


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[0251] Die Ostfront des Weltkrieges Erdhöhle im Lande der Hottentotten bedarf. Denn der Russe ist ein Flu߬ mann, kein Seemann. Die russische Staatspolitik ist darauf ausgegangen, die Moskowiter (die Großrussen) zu Herren über die anderen Völker in Rußland zu machen und so eine gewaltige homogene Staatsbildung, ein Weltreich ohne¬ gleichen, zustandezubringen. Aber das Resultat ist ein Chaos ohnegleichen geworden. Die gesetzliche Autonomie der verschiedenen Völker ist in brutaler Weise unterdrückt worden, und an die Stelle nationaler Verwaltung ist eine gegen die nationalen Züge ganz gefühllose und gegen die nationale Entwicklung blinde Reichsverwaltung getreten. Diese großrussische Expansion, welche der mosko¬ witische Staatsgedanke mit herbeigeführt hat, ruht auf einer völkerpsychologischen Unnatur, die das Zarenreich zu einem ständigen Revolutionsherde macht. Die Mine unter dem dereinst zum Einsturz bereiten großen Bau wächst an Spreng¬ ladung mit jedem Tage des jetzt herrschenden Krieges, der ohne Zweifel für Rußland zur Katastrophe werden wird. Damit erhält das russische Volk ein durchaus anschauliches Bild der Politik der großfürstlichen Kriegspartei und wird wohl danach handeln. Der Begriff „Russen" umfaßt die vielleicht 70 Millionen zählenden Moskowiter (Großrussen). 30 Millionen Ukrainern (Kleinrussen) und die Weißrussen, welche ungefähr sechs Millionen stark an den Flüssen Pripet, Dniepr, Dura und Njemen wohnen. Unter den russischen Stämmen stehen die durch Hungersnot und Trunksucht sehr verheerten Weißrussen am niedrigsten. Wenn auch die Ukrainer, die von den Moskowitern verächtlich „Kleinrussen" genannt werden, trotzdem sie körperlich größer und geistig bedeutender sind als diese, zu den Russen gerechnet werden, so haben sie doch ihre eigene Geschichte, ihre eigene Sprache und ihr eigenes nationales Aussehen mit feineren Gesichtszügen und dunklerer Hautfarbe, als man sie bei den Moskowitern findet. Der Unter¬ schied zwischen diesen beiden slawischen Völkern dürfte noch größer sein als der Wischer den skandinavischen. Dagegen ist die Verschiedenheit zwischen Groß- wssen und Weißrussen unbedeutend. Außer den Polen, Deutschen, Finnen, Juden. Letten. Litauern und Ehlen hat Rußland unter seinen Bewohnern noch viele andere nichtrussische Völker, wie 15 Millionen Turkotataren im europäischen Rußland sowohl wie im asiatischen, vier Millionen Kirgisen, eine Million Sarren, anderthalb Millionen Tschugatschen und Jakuten, ferner Turkmenen, Kalmücken, Tungusen. Eskimos, Samojeden und allein in den Kaukasusländern einige dreißig verschiedene Nationalitäten. Es gehört zur Kulturaufgabe Rußlands, diese vielen zum großen Teile noch im Naturzustände lebenden Völker zu er¬ ziehen und auszubilden, und hier muß der russische Staatsgedanke vielleicht in einem gewissen Maße mit einem notwendigen, natürlichen Verschmelzungsvrozesse rechnen. Doch einer solchen Kulturaufgabe hat das Zarenreich die Barbaren¬ aufgabe einer Vernichtung der höheren, bereits ausgestalteten Kulturvölker, dre innerhalb der Grenzen Rußlands wohnen, zugesellt. Dieser Gefahr kann der Weltkrieg an der Ostfront Deutschlands und Österreichs abhelfen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/251>, abgerufen am 25.08.2024.