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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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vom geistigen Zarismus

merkwürdiges Befangensein in der Vorstellung von der Notwendigkeit des
Zwanges: ein Suchen nach immer neuen Veranlassungen, einen solchen über
sich selber anzuerkennen, und schließlich auch ein ganz unausrottbarer Hang,
geistigen Zwang auf andere auszuüben.

Letzteres ist es hauptsächlich, was ich hier geistigen Zarismus nenne, und
worin ich immer noch das Haupthemmnis einer Verständigung des geistigen
Rußlands mit Westeuropa erblicke. Ich will demnach nur im Vorübergehen
sprechen von dem Zwang, den sich das russische Denken selber auferlegt, von
seinem ausgangslosen Beharren in wechselnden Doktrinen und Dogmen. Wobei
der Mitwelt gegenüber ewig derselbe Elementardenkschnitzer gemacht wird: aus
der Stellung zu einem Dogma (einem nicht evidenten Zusammenhang), was
doch reine Verstandessache ist, wird auf die Gesinnung geschlossen. An anderer
Stelle*) habe ich nachgewiesen, daß dies zu einem unversiegbarer Quell werden
mußte von Ungerechtigkeiten und Mißverständnissen. Die unausrottbare Neigung
des Russen, geistigen Zwang auszuüben, tritt eben in Rußland geradezu
epidemisch auf. Der russische Intelligent nennt solche Tätigkeit "entwickeln"
(russisch: "msvntj"). Das heißt, es wird ein unvorgebildeter Mensch, sei er
ganz jung oder aus dem einfachen Volke stammend, zu einer sozialen Doktrin
bekehrt, in der er dann natürlich die Wahrheit zu erblicken hat. Der
technische Vorgang ist immer derselbe: es werden dem völlig Unvorbereiteten
eine Reihe von Begründungen sür die betreffende Doktrin gegeben. Und wenn
er dann, überrumpelt und denkungeübt, keine Gegengründe hat (und es werden
gar keine solche gelten gelassen), so wird ihm eingeredet, es sei jetzt seine
moralische Pflicht, sich zu dieser Lehre -- auch praktisch zu bekennen. Was da
für geistige und seelische Verheerungen angerichtet werden, läßt sich auch nicht
annähernd bestimmen. Die ganz allgemeine Folge ist die, daß die furchtbarsten
Geistesfesseln, die heute Rußlands Entwicklung niederhalten, hier zu suchen sind,
durchaus nicht in der plumpen, spielend leicht zu umgehenden Zensur (in
deren Nasführung es die russischen Publizisten zu einer wahren Virtuosität
gebracht haben). Rußlands geistiges Hauptübel beruht kurz gesagt darin, daß
es eine ganze Reihe gesellschaftlicher Doktrinen und Dogmen gibt, an die --
und an die Person und die Maßnahmen von deren Vertretern -- kein Mensch
rühren darf, wenn er nicht der gesellschaftlichen Achtung verfallen will, und
die fürchtet man dort viel mehr als Kerker und Verbannung. So ist denn
dem russischen Denken, eben infolge dieser seiner Gewöhnung an "heilige"
Schranken, mit der Zeit die Fähigkeit zu sachlicher Kritik völlig abhanden
gekommen, besser gesagt, sie hat sich nie entwickeln können. Man hat daraus
natürlich eine Tugend gemacht, einen nationalen Vorzug: Michailowsky, der
verstorbene Theoretiker des Terrorismus, verkündete bekanntlich als die eigentliche
geistige Findung Rußlands eine "subjektive" Wissenschaft! Späteren Zeiten



*) Vergleiche mein Buch: "Das heutige Rußland. Eine Einführung an der Hand von
Tolstois Leben und Werken." Georg Müller, München. 1914.
vom geistigen Zarismus

merkwürdiges Befangensein in der Vorstellung von der Notwendigkeit des
Zwanges: ein Suchen nach immer neuen Veranlassungen, einen solchen über
sich selber anzuerkennen, und schließlich auch ein ganz unausrottbarer Hang,
geistigen Zwang auf andere auszuüben.

Letzteres ist es hauptsächlich, was ich hier geistigen Zarismus nenne, und
worin ich immer noch das Haupthemmnis einer Verständigung des geistigen
Rußlands mit Westeuropa erblicke. Ich will demnach nur im Vorübergehen
sprechen von dem Zwang, den sich das russische Denken selber auferlegt, von
seinem ausgangslosen Beharren in wechselnden Doktrinen und Dogmen. Wobei
der Mitwelt gegenüber ewig derselbe Elementardenkschnitzer gemacht wird: aus
der Stellung zu einem Dogma (einem nicht evidenten Zusammenhang), was
doch reine Verstandessache ist, wird auf die Gesinnung geschlossen. An anderer
Stelle*) habe ich nachgewiesen, daß dies zu einem unversiegbarer Quell werden
mußte von Ungerechtigkeiten und Mißverständnissen. Die unausrottbare Neigung
des Russen, geistigen Zwang auszuüben, tritt eben in Rußland geradezu
epidemisch auf. Der russische Intelligent nennt solche Tätigkeit „entwickeln"
(russisch: „msvntj"). Das heißt, es wird ein unvorgebildeter Mensch, sei er
ganz jung oder aus dem einfachen Volke stammend, zu einer sozialen Doktrin
bekehrt, in der er dann natürlich die Wahrheit zu erblicken hat. Der
technische Vorgang ist immer derselbe: es werden dem völlig Unvorbereiteten
eine Reihe von Begründungen sür die betreffende Doktrin gegeben. Und wenn
er dann, überrumpelt und denkungeübt, keine Gegengründe hat (und es werden
gar keine solche gelten gelassen), so wird ihm eingeredet, es sei jetzt seine
moralische Pflicht, sich zu dieser Lehre — auch praktisch zu bekennen. Was da
für geistige und seelische Verheerungen angerichtet werden, läßt sich auch nicht
annähernd bestimmen. Die ganz allgemeine Folge ist die, daß die furchtbarsten
Geistesfesseln, die heute Rußlands Entwicklung niederhalten, hier zu suchen sind,
durchaus nicht in der plumpen, spielend leicht zu umgehenden Zensur (in
deren Nasführung es die russischen Publizisten zu einer wahren Virtuosität
gebracht haben). Rußlands geistiges Hauptübel beruht kurz gesagt darin, daß
es eine ganze Reihe gesellschaftlicher Doktrinen und Dogmen gibt, an die —
und an die Person und die Maßnahmen von deren Vertretern — kein Mensch
rühren darf, wenn er nicht der gesellschaftlichen Achtung verfallen will, und
die fürchtet man dort viel mehr als Kerker und Verbannung. So ist denn
dem russischen Denken, eben infolge dieser seiner Gewöhnung an „heilige"
Schranken, mit der Zeit die Fähigkeit zu sachlicher Kritik völlig abhanden
gekommen, besser gesagt, sie hat sich nie entwickeln können. Man hat daraus
natürlich eine Tugend gemacht, einen nationalen Vorzug: Michailowsky, der
verstorbene Theoretiker des Terrorismus, verkündete bekanntlich als die eigentliche
geistige Findung Rußlands eine „subjektive" Wissenschaft! Späteren Zeiten



*) Vergleiche mein Buch: „Das heutige Rußland. Eine Einführung an der Hand von
Tolstois Leben und Werken." Georg Müller, München. 1914.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/206>, abgerufen am 03.07.2024.