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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Gstpreußenhilfe

ostpreußischen Städte durchaus verschieden. Herr Professor Wolfs weist mit
Recht darauf hin, daß es außer Königsberg nur eine Stadt mit mehr als
40000 Einwohnern gäbe (Tilsit), und zwei mit wenig über 30000 (Altenstein
und Jnsterburg). Von etwas größeren Städten wäre noch Memel und allen¬
falls Osterode zu erwähnen. Alle diese größeren Städte liegen nun in Litauen
und Masuren, das heißt in Gegenden, wo der Kleinbesitz überwiegt oder
wenigstens nicht lediglich Großgrundbesitz vorhanden ist. In den Kreisen
dagegen, wo letzterer vorwiegt, finden sich auch die ärmsten und lebensunfähigsten
Städtchen -- wie in den Kreisen Gerdauen, Friedland, Pr. Eylau, Mohrungen.

Diese Städtchen sollen nun. soweit sie von den russischen Kulturträgern
zerstört sind, wiederaufgebaut werden, und zwar schöner und besser. In
rührender Weise nimmt man sich in allen Gegenden des Vaterlandes dieser
Orte an, übernimmt die Patenschaft, will Geld aufbringen und alles mögliche
Schöne und Zweckmäßige schaffen. Man hört von besseren hygienischen Be¬
dingungen, sogar Wasserleitung und Kanalisation sollen alle Städte erhalten,
ein Wandertheater ist in Aussicht genommen, Büchereien sollen entstehen. Wer
diese Städtchen wie Gerdauen, Schippenbeil, Mohrungen, Hohenstein kennt
oder gekannt hat, wünscht ihnen gewiß von Herzen alles Schöne und Gute,
was für sie geplant ist. Aber eines soll man nicht vergessen. Die Hauptsache
ist, daß für die Städte die Bedingungen zum Leben geschaffen werden, sonst
werden die schönen Häuser leer stehen, die Büchereien wird niemand benutzen
und das Wandertheater wird vor einem leeren Saal spielen. Diese Lebens¬
bedingungen können aber nur geschaffen werden durch eine energische innere
Kolonisation. Wie Professor Wolff in dem oben angeführten Aussatz richtig
sagt, ist Ostpreußen ein ausschließlich agrarisches Land. Eine "Jndustrieali-
sierung" Ostpreußens ist undurchführbar, weil die Bedingungen für eine
Industrie fehlen und eine solche sich nicht künstlich schaffen läßt. Die Keinen
Städte Ostpreußens sind für ihr wirtschaftliches Gedeihen daher auf das um¬
liegende Land angewiesen. Sie können aber nur gedeihen, wenn dieses um¬
liegende Land vorwiegend von Kleingrundbesttzern bewohnt ist. Der Gro߬
grundbesitzer kauft nicht in der Kleinstadt. Er kauft in Königsberg oder sogar
in Berlin. Berlin liegt Ostpreußen wirtschaftlich viel näher als anderen
geographisch weniger entfernten Landesteilen. Dazu kommt der heute so sehr
erleichterte Warenversand der großen Geschäfte. Wenn Wertheim regelmäßig
sogar nach Südwestafrika schickt, so gewiß auch nach Ostpreußen, ebenso tun es Rudolf
Hertzog, Nicolai und ähnliche Firmen. Die Damen holen sich ihre Toiletten
für den Winter bei einer Herbstreise nach Berlin, die Herren versorgen sich
dort bei Boenicke und Eichner oder Gerold mit Zigarren usw. In der be¬
nachbarten Kleinstadt bleibt sehr wenig hängen. Ganz anders der Bauer, der
Sum Markt oder zu Geschäften mit irgendwelchen Behörden in die Stadt kommt,
der besorgt dort seine sämtlichen Einkäufe und trinkt auch noch im Gasthof
einen Schoppen. Je mehr solche bäuerlichen Besitzer in der Umgegend vor-


Gstpreußenhilfe

ostpreußischen Städte durchaus verschieden. Herr Professor Wolfs weist mit
Recht darauf hin, daß es außer Königsberg nur eine Stadt mit mehr als
40000 Einwohnern gäbe (Tilsit), und zwei mit wenig über 30000 (Altenstein
und Jnsterburg). Von etwas größeren Städten wäre noch Memel und allen¬
falls Osterode zu erwähnen. Alle diese größeren Städte liegen nun in Litauen
und Masuren, das heißt in Gegenden, wo der Kleinbesitz überwiegt oder
wenigstens nicht lediglich Großgrundbesitz vorhanden ist. In den Kreisen
dagegen, wo letzterer vorwiegt, finden sich auch die ärmsten und lebensunfähigsten
Städtchen — wie in den Kreisen Gerdauen, Friedland, Pr. Eylau, Mohrungen.

Diese Städtchen sollen nun. soweit sie von den russischen Kulturträgern
zerstört sind, wiederaufgebaut werden, und zwar schöner und besser. In
rührender Weise nimmt man sich in allen Gegenden des Vaterlandes dieser
Orte an, übernimmt die Patenschaft, will Geld aufbringen und alles mögliche
Schöne und Zweckmäßige schaffen. Man hört von besseren hygienischen Be¬
dingungen, sogar Wasserleitung und Kanalisation sollen alle Städte erhalten,
ein Wandertheater ist in Aussicht genommen, Büchereien sollen entstehen. Wer
diese Städtchen wie Gerdauen, Schippenbeil, Mohrungen, Hohenstein kennt
oder gekannt hat, wünscht ihnen gewiß von Herzen alles Schöne und Gute,
was für sie geplant ist. Aber eines soll man nicht vergessen. Die Hauptsache
ist, daß für die Städte die Bedingungen zum Leben geschaffen werden, sonst
werden die schönen Häuser leer stehen, die Büchereien wird niemand benutzen
und das Wandertheater wird vor einem leeren Saal spielen. Diese Lebens¬
bedingungen können aber nur geschaffen werden durch eine energische innere
Kolonisation. Wie Professor Wolff in dem oben angeführten Aussatz richtig
sagt, ist Ostpreußen ein ausschließlich agrarisches Land. Eine „Jndustrieali-
sierung" Ostpreußens ist undurchführbar, weil die Bedingungen für eine
Industrie fehlen und eine solche sich nicht künstlich schaffen läßt. Die Keinen
Städte Ostpreußens sind für ihr wirtschaftliches Gedeihen daher auf das um¬
liegende Land angewiesen. Sie können aber nur gedeihen, wenn dieses um¬
liegende Land vorwiegend von Kleingrundbesttzern bewohnt ist. Der Gro߬
grundbesitzer kauft nicht in der Kleinstadt. Er kauft in Königsberg oder sogar
in Berlin. Berlin liegt Ostpreußen wirtschaftlich viel näher als anderen
geographisch weniger entfernten Landesteilen. Dazu kommt der heute so sehr
erleichterte Warenversand der großen Geschäfte. Wenn Wertheim regelmäßig
sogar nach Südwestafrika schickt, so gewiß auch nach Ostpreußen, ebenso tun es Rudolf
Hertzog, Nicolai und ähnliche Firmen. Die Damen holen sich ihre Toiletten
für den Winter bei einer Herbstreise nach Berlin, die Herren versorgen sich
dort bei Boenicke und Eichner oder Gerold mit Zigarren usw. In der be¬
nachbarten Kleinstadt bleibt sehr wenig hängen. Ganz anders der Bauer, der
Sum Markt oder zu Geschäften mit irgendwelchen Behörden in die Stadt kommt,
der besorgt dort seine sämtlichen Einkäufe und trinkt auch noch im Gasthof
einen Schoppen. Je mehr solche bäuerlichen Besitzer in der Umgegend vor-


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[0193] Gstpreußenhilfe ostpreußischen Städte durchaus verschieden. Herr Professor Wolfs weist mit Recht darauf hin, daß es außer Königsberg nur eine Stadt mit mehr als 40000 Einwohnern gäbe (Tilsit), und zwei mit wenig über 30000 (Altenstein und Jnsterburg). Von etwas größeren Städten wäre noch Memel und allen¬ falls Osterode zu erwähnen. Alle diese größeren Städte liegen nun in Litauen und Masuren, das heißt in Gegenden, wo der Kleinbesitz überwiegt oder wenigstens nicht lediglich Großgrundbesitz vorhanden ist. In den Kreisen dagegen, wo letzterer vorwiegt, finden sich auch die ärmsten und lebensunfähigsten Städtchen — wie in den Kreisen Gerdauen, Friedland, Pr. Eylau, Mohrungen. Diese Städtchen sollen nun. soweit sie von den russischen Kulturträgern zerstört sind, wiederaufgebaut werden, und zwar schöner und besser. In rührender Weise nimmt man sich in allen Gegenden des Vaterlandes dieser Orte an, übernimmt die Patenschaft, will Geld aufbringen und alles mögliche Schöne und Zweckmäßige schaffen. Man hört von besseren hygienischen Be¬ dingungen, sogar Wasserleitung und Kanalisation sollen alle Städte erhalten, ein Wandertheater ist in Aussicht genommen, Büchereien sollen entstehen. Wer diese Städtchen wie Gerdauen, Schippenbeil, Mohrungen, Hohenstein kennt oder gekannt hat, wünscht ihnen gewiß von Herzen alles Schöne und Gute, was für sie geplant ist. Aber eines soll man nicht vergessen. Die Hauptsache ist, daß für die Städte die Bedingungen zum Leben geschaffen werden, sonst werden die schönen Häuser leer stehen, die Büchereien wird niemand benutzen und das Wandertheater wird vor einem leeren Saal spielen. Diese Lebens¬ bedingungen können aber nur geschaffen werden durch eine energische innere Kolonisation. Wie Professor Wolff in dem oben angeführten Aussatz richtig sagt, ist Ostpreußen ein ausschließlich agrarisches Land. Eine „Jndustrieali- sierung" Ostpreußens ist undurchführbar, weil die Bedingungen für eine Industrie fehlen und eine solche sich nicht künstlich schaffen läßt. Die Keinen Städte Ostpreußens sind für ihr wirtschaftliches Gedeihen daher auf das um¬ liegende Land angewiesen. Sie können aber nur gedeihen, wenn dieses um¬ liegende Land vorwiegend von Kleingrundbesttzern bewohnt ist. Der Gro߬ grundbesitzer kauft nicht in der Kleinstadt. Er kauft in Königsberg oder sogar in Berlin. Berlin liegt Ostpreußen wirtschaftlich viel näher als anderen geographisch weniger entfernten Landesteilen. Dazu kommt der heute so sehr erleichterte Warenversand der großen Geschäfte. Wenn Wertheim regelmäßig sogar nach Südwestafrika schickt, so gewiß auch nach Ostpreußen, ebenso tun es Rudolf Hertzog, Nicolai und ähnliche Firmen. Die Damen holen sich ihre Toiletten für den Winter bei einer Herbstreise nach Berlin, die Herren versorgen sich dort bei Boenicke und Eichner oder Gerold mit Zigarren usw. In der be¬ nachbarten Kleinstadt bleibt sehr wenig hängen. Ganz anders der Bauer, der Sum Markt oder zu Geschäften mit irgendwelchen Behörden in die Stadt kommt, der besorgt dort seine sämtlichen Einkäufe und trinkt auch noch im Gasthof einen Schoppen. Je mehr solche bäuerlichen Besitzer in der Umgegend vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/193>, abgerufen am 22.07.2024.