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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der Krieg und der Neubau der höheren Schule

Sprachen und nicht Mathematik gelten, die vielmehr in ziemlich hohem Grade
SpezialWissenschaften find, sondern Deutsch und Geschichte, Erdkunde und Natur-
wissenschaft, dazu die leider so ganz ins Hintertreffen geratene philosophische
Propädeutik. Wenn überhaupt, so gibt nur in Bezug auf diese Disziplinen der
vielgescholtene Ausdruck "allgemeine Bildung" einen verständigen Sinn, indem
er nicht ein aus allen Wissenstöpfen zusammengenaschtes Allerlei von Kennt¬
nissen bezeichnet, sondern ein Vertrautsein mit den Hauptgebieten der natürlichen
und geistigen Umwelt, in der alle Gebildeten, ohne Rücksicht auf ihren besonderen
Beruf, leben." Diese vor dem Kriege geschriebenen Worte werden heute als eine
noch dringendere Forderung empfunden werden.

Einige Ergänzungen mögen die ausgesprochenen Wünsche noch klarer aus¬
gestalten.

Alle Kenner der jugendlichen Natur sind darüber einig, daß das Interesse
der Jugend bis etwa zum sechzehnten Jahr sich auf das Geschehen selbst richtet,
nicht auf das Zuständliche*) und nicht auf die inneren Beziehungen des
Geschehens. Somit kann eine Schulung im historischen Denken sowohl wie
eine genetische Entwicklung kultureller Tatbestände erst bei größerer Reife, das
heißt nicht früher als in Prima, versucht werden. Das gleiche gilt von den
damit zusammenhängenden staatlich-politischen, sozialen, wirtschaftlichen, philo¬
sophischen Erörterungen. Hieraus ergibt sich, daß die Zentralfächer, wenn sie
auch schon in den Unter- und Mittelklassen als solche hervortreten können, doch
erst in den Pruner einen breitausladenden Ausbau erfahren müssen.

Hierbei könnte man einen Schritt weitergehen. Sobald man die Forderung
erfüllt, dem Deutschunterricht die allgemeine Orientierung über die deutsche
Kultur und ihr Werden einzugliedern, hat man eine historische Disziplin in
ihn hineinverlegt, die bei der starken Verflechtung des europäischen Kulturlebens
keineswegs an den deutschen Grenzen haltmachen könnte. Anderseits hat man
der Geschichte ein Gebiet entrissen, das sie eigentlich nicht missen kann. Da
somit herüber und hinüber verwiesen werden muß, der deutsche Unterricht öfters
die speziellere Ausführung eines in der Geschichte nur gestreiften Gegenstandes
übernehmen kann, so sollten in den Pruner Geschichte und Deutsch nicht nur
in die Hand desselben Lehrers gelegt, sondern überhaupt zu einem Fach ver"
einigt worden.

AIs seine Krönung würde ich Mir in Oberprima eine systematische Zu-
sammenfassung der Ergebnisse der vereinigten Fächer denken. Man könnte sie
Gegenwartskunde benennen (wobei dieser Begriff weiter zu fassen wäre als bei
Friedrich Seite 16). Sie würde dem Schüler einen großen Überblick über den Stand
unseres politischen und Kulturlebens und ihrer weltweiten Beziehungen geben,
wobei sie fortwährend das vorher im Unterricht Besprochene aufsammeln könnte.



*) Friedrich hat Seite 87 f. mit glücklichem Ausdruck das Interesse für explodierende
Zustände hervorgehoben, das heißt solche, die Ereignisse auslösen.
Der Krieg und der Neubau der höheren Schule

Sprachen und nicht Mathematik gelten, die vielmehr in ziemlich hohem Grade
SpezialWissenschaften find, sondern Deutsch und Geschichte, Erdkunde und Natur-
wissenschaft, dazu die leider so ganz ins Hintertreffen geratene philosophische
Propädeutik. Wenn überhaupt, so gibt nur in Bezug auf diese Disziplinen der
vielgescholtene Ausdruck „allgemeine Bildung" einen verständigen Sinn, indem
er nicht ein aus allen Wissenstöpfen zusammengenaschtes Allerlei von Kennt¬
nissen bezeichnet, sondern ein Vertrautsein mit den Hauptgebieten der natürlichen
und geistigen Umwelt, in der alle Gebildeten, ohne Rücksicht auf ihren besonderen
Beruf, leben." Diese vor dem Kriege geschriebenen Worte werden heute als eine
noch dringendere Forderung empfunden werden.

Einige Ergänzungen mögen die ausgesprochenen Wünsche noch klarer aus¬
gestalten.

Alle Kenner der jugendlichen Natur sind darüber einig, daß das Interesse
der Jugend bis etwa zum sechzehnten Jahr sich auf das Geschehen selbst richtet,
nicht auf das Zuständliche*) und nicht auf die inneren Beziehungen des
Geschehens. Somit kann eine Schulung im historischen Denken sowohl wie
eine genetische Entwicklung kultureller Tatbestände erst bei größerer Reife, das
heißt nicht früher als in Prima, versucht werden. Das gleiche gilt von den
damit zusammenhängenden staatlich-politischen, sozialen, wirtschaftlichen, philo¬
sophischen Erörterungen. Hieraus ergibt sich, daß die Zentralfächer, wenn sie
auch schon in den Unter- und Mittelklassen als solche hervortreten können, doch
erst in den Pruner einen breitausladenden Ausbau erfahren müssen.

Hierbei könnte man einen Schritt weitergehen. Sobald man die Forderung
erfüllt, dem Deutschunterricht die allgemeine Orientierung über die deutsche
Kultur und ihr Werden einzugliedern, hat man eine historische Disziplin in
ihn hineinverlegt, die bei der starken Verflechtung des europäischen Kulturlebens
keineswegs an den deutschen Grenzen haltmachen könnte. Anderseits hat man
der Geschichte ein Gebiet entrissen, das sie eigentlich nicht missen kann. Da
somit herüber und hinüber verwiesen werden muß, der deutsche Unterricht öfters
die speziellere Ausführung eines in der Geschichte nur gestreiften Gegenstandes
übernehmen kann, so sollten in den Pruner Geschichte und Deutsch nicht nur
in die Hand desselben Lehrers gelegt, sondern überhaupt zu einem Fach ver«
einigt worden.

AIs seine Krönung würde ich Mir in Oberprima eine systematische Zu-
sammenfassung der Ergebnisse der vereinigten Fächer denken. Man könnte sie
Gegenwartskunde benennen (wobei dieser Begriff weiter zu fassen wäre als bei
Friedrich Seite 16). Sie würde dem Schüler einen großen Überblick über den Stand
unseres politischen und Kulturlebens und ihrer weltweiten Beziehungen geben,
wobei sie fortwährend das vorher im Unterricht Besprochene aufsammeln könnte.



*) Friedrich hat Seite 87 f. mit glücklichem Ausdruck das Interesse für explodierende
Zustände hervorgehoben, das heißt solche, die Ereignisse auslösen.
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[0156] Der Krieg und der Neubau der höheren Schule Sprachen und nicht Mathematik gelten, die vielmehr in ziemlich hohem Grade SpezialWissenschaften find, sondern Deutsch und Geschichte, Erdkunde und Natur- wissenschaft, dazu die leider so ganz ins Hintertreffen geratene philosophische Propädeutik. Wenn überhaupt, so gibt nur in Bezug auf diese Disziplinen der vielgescholtene Ausdruck „allgemeine Bildung" einen verständigen Sinn, indem er nicht ein aus allen Wissenstöpfen zusammengenaschtes Allerlei von Kennt¬ nissen bezeichnet, sondern ein Vertrautsein mit den Hauptgebieten der natürlichen und geistigen Umwelt, in der alle Gebildeten, ohne Rücksicht auf ihren besonderen Beruf, leben." Diese vor dem Kriege geschriebenen Worte werden heute als eine noch dringendere Forderung empfunden werden. Einige Ergänzungen mögen die ausgesprochenen Wünsche noch klarer aus¬ gestalten. Alle Kenner der jugendlichen Natur sind darüber einig, daß das Interesse der Jugend bis etwa zum sechzehnten Jahr sich auf das Geschehen selbst richtet, nicht auf das Zuständliche*) und nicht auf die inneren Beziehungen des Geschehens. Somit kann eine Schulung im historischen Denken sowohl wie eine genetische Entwicklung kultureller Tatbestände erst bei größerer Reife, das heißt nicht früher als in Prima, versucht werden. Das gleiche gilt von den damit zusammenhängenden staatlich-politischen, sozialen, wirtschaftlichen, philo¬ sophischen Erörterungen. Hieraus ergibt sich, daß die Zentralfächer, wenn sie auch schon in den Unter- und Mittelklassen als solche hervortreten können, doch erst in den Pruner einen breitausladenden Ausbau erfahren müssen. Hierbei könnte man einen Schritt weitergehen. Sobald man die Forderung erfüllt, dem Deutschunterricht die allgemeine Orientierung über die deutsche Kultur und ihr Werden einzugliedern, hat man eine historische Disziplin in ihn hineinverlegt, die bei der starken Verflechtung des europäischen Kulturlebens keineswegs an den deutschen Grenzen haltmachen könnte. Anderseits hat man der Geschichte ein Gebiet entrissen, das sie eigentlich nicht missen kann. Da somit herüber und hinüber verwiesen werden muß, der deutsche Unterricht öfters die speziellere Ausführung eines in der Geschichte nur gestreiften Gegenstandes übernehmen kann, so sollten in den Pruner Geschichte und Deutsch nicht nur in die Hand desselben Lehrers gelegt, sondern überhaupt zu einem Fach ver« einigt worden. AIs seine Krönung würde ich Mir in Oberprima eine systematische Zu- sammenfassung der Ergebnisse der vereinigten Fächer denken. Man könnte sie Gegenwartskunde benennen (wobei dieser Begriff weiter zu fassen wäre als bei Friedrich Seite 16). Sie würde dem Schüler einen großen Überblick über den Stand unseres politischen und Kulturlebens und ihrer weltweiten Beziehungen geben, wobei sie fortwährend das vorher im Unterricht Besprochene aufsammeln könnte. *) Friedrich hat Seite 87 f. mit glücklichem Ausdruck das Interesse für explodierende Zustände hervorgehoben, das heißt solche, die Ereignisse auslösen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/156>, abgerufen am 26.06.2024.