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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der Arieg und der Neubau der höheren Schule

besprechen, zu erläutern, womöglich Gesetze daraus abzuleiten I Oder er wählt
doch während des Krieges für den Unterricht lauter auf den Krieg Bezügliches,
und müßte er es auch an den Haaren herbeiziehen. Wenn unfere Jungen bei
moderner Kriegslyrik, bei Ballistik, Sprengstoffchemie und der Lehre von den
Geschlechtskrankheiten den Krieg nicht in seiner Tiefe miterleben, dann ist ihnen
eben nicht zu helfen; die Schule hat das ihre getan. Man müßte das für
einen Scherz halten; ich entnehme diese Vorschläge zeitgemäßer Unterrichts¬
stoffe jedoch dem kürzlich erschienenen Buche "Der Weltkrieg im Unterricht"
(Gotha 1915, Perthes).

Wenn wir von derartigen gezwungenen und äußerlichen Versuchen absehen
und die Aufgabe, den Schüler an Kriegserlebnis teilnehmen zu lassen, tiefer
fassen, so hapert es denn doch am Wesentlichen. Denn durch den Unterricht --
es sei denn der eines besonders begnadeten Religionslehrers -- läßt sich der
Ernst dieses Geschehens überhaupt nicht vermitteln. Die Schüler selbst fühlen,
daß sie in einem Kahne sitzen, der vom Zeitenstrom willenlos fortgerissen wird;
und dieses Gefühl der unmittelbaren Abhängigkeit ist schlechthin wertvoll, und
es erwächst von selbst in der jugendlichen S.'ele. Die Schüler sind ja nicht
weltabgeschieden in Zellen gesperrt, sondern erhalten aus Zeitungen, Briefen,
Erzählungen mehr Kriegseindrücke, als der Pädagoge glaubt. Und der Lehrer
sitzt mit im Kahne, er weiß ebensowenig wie der Schüler, wohin die atem¬
lose Fahrt geht, auch stehen ihm für den Verlauf selbst keine gewisseren
Quellen zur Verfügung als dem Schüler. Was beide überschauen, sind die
groben Züge des militärischen Verlaufes, soweit sie ohne Bedenken aufgedeckt
werden können, und die von den Zeitungen widergespiegelten Eindrücke nebst
den Äußerlichkeiten des wirtschaftlichen Krieges; zweifellos geschichtlich wertvolle
Kenntnisse, nur ist es noch unmöglich, sie in ihrer Gesamtheit zu überschauen.
Und sie haben doch auch mit den inneren Werten, die uns der Krieg geben
kann und soll, nichts zu tun.

Auch wenn man sich darauf beschränkt, die Ereignisse des Krieges einst¬
weilen nur von der ethischen Seite zu berühren, muß sich die Schule doch
hüten, dem spontan erwachenden gesunden Gefühl der Jugend Gewalt anzutun.
F. W. Förster will zum Beispiel (in dem vorgenannten Buche), daß Kriegs¬
besprechungen in der Schule stets "in einer gewissen gedämpften Tonart abgehalten
werden, so wie man Weihnachten in einem Hause feiert, in dem ein großes
Unglück geschehen ist." Gerade jetzt, wo sich das Volk nach so langer un¬
kriegerischer Beschäftigung wieder im Kampf die Muskeln dehnt, wo jeder
frische Junge mit lautem Jubel dem Erwachen der männlichen Kräfte seines
Volkes beiwohnt, wo das Heldenhafte triumphiert über die Verflachung fried¬
seliger Zeiten, da sollten die Knaben eingeschüchtert werden durch den Gedanken
an Schmerzen und Verluste? Sie haben vielleicht den Verlust des Vaters, des
Bruders schon verarbeitet und verwunden mit dem stolzen Blick auf das große
Ziel, dem sie die Liebsten hingeben durften; der Lehrer darf nicht die schon


Der Arieg und der Neubau der höheren Schule

besprechen, zu erläutern, womöglich Gesetze daraus abzuleiten I Oder er wählt
doch während des Krieges für den Unterricht lauter auf den Krieg Bezügliches,
und müßte er es auch an den Haaren herbeiziehen. Wenn unfere Jungen bei
moderner Kriegslyrik, bei Ballistik, Sprengstoffchemie und der Lehre von den
Geschlechtskrankheiten den Krieg nicht in seiner Tiefe miterleben, dann ist ihnen
eben nicht zu helfen; die Schule hat das ihre getan. Man müßte das für
einen Scherz halten; ich entnehme diese Vorschläge zeitgemäßer Unterrichts¬
stoffe jedoch dem kürzlich erschienenen Buche „Der Weltkrieg im Unterricht"
(Gotha 1915, Perthes).

Wenn wir von derartigen gezwungenen und äußerlichen Versuchen absehen
und die Aufgabe, den Schüler an Kriegserlebnis teilnehmen zu lassen, tiefer
fassen, so hapert es denn doch am Wesentlichen. Denn durch den Unterricht —
es sei denn der eines besonders begnadeten Religionslehrers — läßt sich der
Ernst dieses Geschehens überhaupt nicht vermitteln. Die Schüler selbst fühlen,
daß sie in einem Kahne sitzen, der vom Zeitenstrom willenlos fortgerissen wird;
und dieses Gefühl der unmittelbaren Abhängigkeit ist schlechthin wertvoll, und
es erwächst von selbst in der jugendlichen S.'ele. Die Schüler sind ja nicht
weltabgeschieden in Zellen gesperrt, sondern erhalten aus Zeitungen, Briefen,
Erzählungen mehr Kriegseindrücke, als der Pädagoge glaubt. Und der Lehrer
sitzt mit im Kahne, er weiß ebensowenig wie der Schüler, wohin die atem¬
lose Fahrt geht, auch stehen ihm für den Verlauf selbst keine gewisseren
Quellen zur Verfügung als dem Schüler. Was beide überschauen, sind die
groben Züge des militärischen Verlaufes, soweit sie ohne Bedenken aufgedeckt
werden können, und die von den Zeitungen widergespiegelten Eindrücke nebst
den Äußerlichkeiten des wirtschaftlichen Krieges; zweifellos geschichtlich wertvolle
Kenntnisse, nur ist es noch unmöglich, sie in ihrer Gesamtheit zu überschauen.
Und sie haben doch auch mit den inneren Werten, die uns der Krieg geben
kann und soll, nichts zu tun.

Auch wenn man sich darauf beschränkt, die Ereignisse des Krieges einst¬
weilen nur von der ethischen Seite zu berühren, muß sich die Schule doch
hüten, dem spontan erwachenden gesunden Gefühl der Jugend Gewalt anzutun.
F. W. Förster will zum Beispiel (in dem vorgenannten Buche), daß Kriegs¬
besprechungen in der Schule stets „in einer gewissen gedämpften Tonart abgehalten
werden, so wie man Weihnachten in einem Hause feiert, in dem ein großes
Unglück geschehen ist." Gerade jetzt, wo sich das Volk nach so langer un¬
kriegerischer Beschäftigung wieder im Kampf die Muskeln dehnt, wo jeder
frische Junge mit lautem Jubel dem Erwachen der männlichen Kräfte seines
Volkes beiwohnt, wo das Heldenhafte triumphiert über die Verflachung fried¬
seliger Zeiten, da sollten die Knaben eingeschüchtert werden durch den Gedanken
an Schmerzen und Verluste? Sie haben vielleicht den Verlust des Vaters, des
Bruders schon verarbeitet und verwunden mit dem stolzen Blick auf das große
Ziel, dem sie die Liebsten hingeben durften; der Lehrer darf nicht die schon


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/150>, abgerufen am 23.07.2024.