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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

Wo gab es da noch eine Judenfrage? Wo die früher bis zum Überdruß
gehetzten Begriffe: liberal, konservativ, sozial?




Nun freilich gilt es die Hauptsache: wird es der Kirche gelingen, ihre
so unverhofft gewonnene Stellung zu behaupten, eine Volkskirche zu werden
und zu bleiben?

Damit stehen wir vor den nationalen Aufgaben, die der Kirche aus
dieser schicksalsschweren Zeit erwachsen. Sie fordern keine Umwandlung, kein
Abweichen von richtig erkannten Bahnen; wohl aber ein Sichanpassen, mehr
ein Hineinwachsen in die Zeit.

Es liegt auf der Hand, daß die über alles Erwarten schnell erreichte neue
und gewaltige Bedeutung der Kirche eine schwere Verantwortung auferlegt.
Denn was so rasch geworden könnte unter glücklich veränderten Verhältnissen,
die wir doch alle erhoffen, wieder wie Spreu verfliegen. Mit der Not der Zeit
könnte der Wert der Kirche für die weiten Kreise weichen und alles bald auf
dem alten Standpunkte sein. Der Kirche aber müßte es darauf ankommen,
sich ihre Stellung als Volkskirche unter allen Umständen, komme es in der
politischen Lage unseres Vaterlandes wie es wolle, zu erhalten.

Jetzt ist die Zeit für sie gekommen. Jetzt oder nie. Was heute versäumt
wird, kann nie wieder gut gemacht werden. In den Tagen, die alle Kräfte
anspannen, Wert und Unwert nicht nur der einzelnen Persönlichkeit, sondern
zugleich aller Einrichtungen, der gesellschaftlichen, staatlichen oder kirchlichen
Organisationen auf eine entscheidende Probe stellen, hat die Kirche Gelegenheit,
ihre Kraft und Notwendigkeit zu erweisen, was sie bewahren will, zu bewähren.

Und wie die Zeit sind die Umstände ihr günstig. Der starke Anschluß
an die Kirche ist keineswegs, wie Schwarzseher voraussagten, eine vorüber¬
gehende Folge der Erregung und des Ungewohnten geworden, der sich im
Laufe des Krieges abschwächen würde. Ist er naturgemäß auch nicht ganz so
stark mehr wie in den ersten Tagen, so hält er sich jetzt noch, nach fast neun
Monaten, auf beträchtlicher Höhe. Menschen, die früher keine besondere Neigung
für eine gottesdienstliche Betätigung zeigten, fühlen jetzt einen Zug zu ihr hin.
Es ist so viel der zehrenden Unruhe in ihnen und der bangen Ungeduld, sie
suchen die Ruhe, "die noch vorhanden ist dem Volke Gottes". Oder sie haben
viel Schweres erfahren, ihre Philosophie versagt, ihre Arbeit gibt ihnen nicht
mehr die alte Kraft. Sie versuchen es mit dem feiernden Gotteshause.

Ein anderer Prediger treibt in die Kirche: der Tod. Gewiß, er ist
immer da gewesen. Aber man hat nicht gerne an ihn gedacht, hat ihn ignoriert,
solange es eben ging. Jetzt geht es nicht mehr. Wir find von seiner
Wirklichkeit umfangen. Der Tod ist in der Welt. Nicht nur auf dem Schlacht¬
felde, sondern auch bei uns daheim. Die Kreise um uns lichten sich, die


Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

Wo gab es da noch eine Judenfrage? Wo die früher bis zum Überdruß
gehetzten Begriffe: liberal, konservativ, sozial?




Nun freilich gilt es die Hauptsache: wird es der Kirche gelingen, ihre
so unverhofft gewonnene Stellung zu behaupten, eine Volkskirche zu werden
und zu bleiben?

Damit stehen wir vor den nationalen Aufgaben, die der Kirche aus
dieser schicksalsschweren Zeit erwachsen. Sie fordern keine Umwandlung, kein
Abweichen von richtig erkannten Bahnen; wohl aber ein Sichanpassen, mehr
ein Hineinwachsen in die Zeit.

Es liegt auf der Hand, daß die über alles Erwarten schnell erreichte neue
und gewaltige Bedeutung der Kirche eine schwere Verantwortung auferlegt.
Denn was so rasch geworden könnte unter glücklich veränderten Verhältnissen,
die wir doch alle erhoffen, wieder wie Spreu verfliegen. Mit der Not der Zeit
könnte der Wert der Kirche für die weiten Kreise weichen und alles bald auf
dem alten Standpunkte sein. Der Kirche aber müßte es darauf ankommen,
sich ihre Stellung als Volkskirche unter allen Umständen, komme es in der
politischen Lage unseres Vaterlandes wie es wolle, zu erhalten.

Jetzt ist die Zeit für sie gekommen. Jetzt oder nie. Was heute versäumt
wird, kann nie wieder gut gemacht werden. In den Tagen, die alle Kräfte
anspannen, Wert und Unwert nicht nur der einzelnen Persönlichkeit, sondern
zugleich aller Einrichtungen, der gesellschaftlichen, staatlichen oder kirchlichen
Organisationen auf eine entscheidende Probe stellen, hat die Kirche Gelegenheit,
ihre Kraft und Notwendigkeit zu erweisen, was sie bewahren will, zu bewähren.

Und wie die Zeit sind die Umstände ihr günstig. Der starke Anschluß
an die Kirche ist keineswegs, wie Schwarzseher voraussagten, eine vorüber¬
gehende Folge der Erregung und des Ungewohnten geworden, der sich im
Laufe des Krieges abschwächen würde. Ist er naturgemäß auch nicht ganz so
stark mehr wie in den ersten Tagen, so hält er sich jetzt noch, nach fast neun
Monaten, auf beträchtlicher Höhe. Menschen, die früher keine besondere Neigung
für eine gottesdienstliche Betätigung zeigten, fühlen jetzt einen Zug zu ihr hin.
Es ist so viel der zehrenden Unruhe in ihnen und der bangen Ungeduld, sie
suchen die Ruhe, „die noch vorhanden ist dem Volke Gottes". Oder sie haben
viel Schweres erfahren, ihre Philosophie versagt, ihre Arbeit gibt ihnen nicht
mehr die alte Kraft. Sie versuchen es mit dem feiernden Gotteshause.

Ein anderer Prediger treibt in die Kirche: der Tod. Gewiß, er ist
immer da gewesen. Aber man hat nicht gerne an ihn gedacht, hat ihn ignoriert,
solange es eben ging. Jetzt geht es nicht mehr. Wir find von seiner
Wirklichkeit umfangen. Der Tod ist in der Welt. Nicht nur auf dem Schlacht¬
felde, sondern auch bei uns daheim. Die Kreise um uns lichten sich, die


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[0087] Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung Wo gab es da noch eine Judenfrage? Wo die früher bis zum Überdruß gehetzten Begriffe: liberal, konservativ, sozial? Nun freilich gilt es die Hauptsache: wird es der Kirche gelingen, ihre so unverhofft gewonnene Stellung zu behaupten, eine Volkskirche zu werden und zu bleiben? Damit stehen wir vor den nationalen Aufgaben, die der Kirche aus dieser schicksalsschweren Zeit erwachsen. Sie fordern keine Umwandlung, kein Abweichen von richtig erkannten Bahnen; wohl aber ein Sichanpassen, mehr ein Hineinwachsen in die Zeit. Es liegt auf der Hand, daß die über alles Erwarten schnell erreichte neue und gewaltige Bedeutung der Kirche eine schwere Verantwortung auferlegt. Denn was so rasch geworden könnte unter glücklich veränderten Verhältnissen, die wir doch alle erhoffen, wieder wie Spreu verfliegen. Mit der Not der Zeit könnte der Wert der Kirche für die weiten Kreise weichen und alles bald auf dem alten Standpunkte sein. Der Kirche aber müßte es darauf ankommen, sich ihre Stellung als Volkskirche unter allen Umständen, komme es in der politischen Lage unseres Vaterlandes wie es wolle, zu erhalten. Jetzt ist die Zeit für sie gekommen. Jetzt oder nie. Was heute versäumt wird, kann nie wieder gut gemacht werden. In den Tagen, die alle Kräfte anspannen, Wert und Unwert nicht nur der einzelnen Persönlichkeit, sondern zugleich aller Einrichtungen, der gesellschaftlichen, staatlichen oder kirchlichen Organisationen auf eine entscheidende Probe stellen, hat die Kirche Gelegenheit, ihre Kraft und Notwendigkeit zu erweisen, was sie bewahren will, zu bewähren. Und wie die Zeit sind die Umstände ihr günstig. Der starke Anschluß an die Kirche ist keineswegs, wie Schwarzseher voraussagten, eine vorüber¬ gehende Folge der Erregung und des Ungewohnten geworden, der sich im Laufe des Krieges abschwächen würde. Ist er naturgemäß auch nicht ganz so stark mehr wie in den ersten Tagen, so hält er sich jetzt noch, nach fast neun Monaten, auf beträchtlicher Höhe. Menschen, die früher keine besondere Neigung für eine gottesdienstliche Betätigung zeigten, fühlen jetzt einen Zug zu ihr hin. Es ist so viel der zehrenden Unruhe in ihnen und der bangen Ungeduld, sie suchen die Ruhe, „die noch vorhanden ist dem Volke Gottes". Oder sie haben viel Schweres erfahren, ihre Philosophie versagt, ihre Arbeit gibt ihnen nicht mehr die alte Kraft. Sie versuchen es mit dem feiernden Gotteshause. Ein anderer Prediger treibt in die Kirche: der Tod. Gewiß, er ist immer da gewesen. Aber man hat nicht gerne an ihn gedacht, hat ihn ignoriert, solange es eben ging. Jetzt geht es nicht mehr. Wir find von seiner Wirklichkeit umfangen. Der Tod ist in der Welt. Nicht nur auf dem Schlacht¬ felde, sondern auch bei uns daheim. Die Kreise um uns lichten sich, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/87>, abgerufen am 22.07.2024.