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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Belgiens Verfassung und Staatsleben

jeweiligen Mehrheit der zweiten Kammer, der sich auch der Senat fügen nutz,
bestellt werden. Die Aufgabe des Königs beschränkte sich daher darauf, die
ihm vom Ministerium unterbreiteten Vorlagen zu unterschreiben und, wenn das
Zünglein der parlamentarischen Wagschale schwankte, den Führer der neuen
Mehrheit mit der Kabinettsbildung zu beauftragen.

Der Herrschaft der Bourgeoisie in Kammern und Ministerium und damit
im ganzen Staate stand somit keinerlei Hindernis mehr im Wege. Lediglich
nach ihrer Stellung zur Kirche zerfiel die herrschende Klasse in die beiden
Parteien der Katholiken und Liberalen, deren Vereinigung sich bald nach dem
Gelingen der Revolution und dem Zustandekommen des Verfassungswerkes
wieder löste. Die Verfassung hatte zwar mit der grundrechtlichen Kirchen- und
Unterrichtsfreiheit alle wesentlichen Streitpunkte zu beseitigen gesucht. Doch
blieben immer noch Lücken in der Richtung des staatlichen und kirchlichen
Unterrichtswesens, um die sich der Parteikampf drehte.

So begann denn die Entwicklung, nachdem die Union der Parteien gelöst
war, 1834 mit einem katholischen Ministerium. Ihm folgte 1840 ein liberales.
Und so ging es weiter im anmutigen Wechselspiele der Parteien, einmal
die Katholiken, das andere Mal die Liberalen, einmal die einen etwas
länger, die anderen etwas kürzer am Ruder, das andere Mal gerade umge¬
kehrt, wie es gerade der Zufall mit sich brachte. So war es bis zum Tode
König Leopolds des Ersten, der 1865 starb, so auch im wesentlichen noch in
den ersten Jahrzehnten König Leopolds des Zweiten. Auf Einzelheiten näher
einzugehen, wäre ohne jedes Interesse. Das Ganze pflegt man euphemistisch
belgische Geschichte zu nennen.

Eigentümlicherweise galt diese Verfassung und dieses politische Leben
Belgiens mit seiner allein berechtigten, aber pflichtenlosen Bourgeoisie den
deutschen Mittelklassen um 1848 als Ideal, weshalb man auch die belgische
Verfassung der preußischen zugrunde legte, allerdings ohne Volkssouveränität
und ohne so weitgehende Beschneidung der königlichen Rechte. Preisend rühmte
man, Belgien habe infolge seiner vortrefflichen Verfassung alle Stürme des
Jahres 1848 ruhig überstanden, worauf Bismarck allerdings erwiderte, bei
Rußland sei genau dasselbe der Fall. Und als man hinsichtlich der Steuer¬
bewilligung in der preußischen zweiten Kammer immer auf Belgien verwies,
entgegnete Bismarck, der belgische König habe seine Stellung als Geschenk aus
den blutigen Händen der Revolution entgegengenommen und mit einem ge¬
schenkten Gaule habe es eine besondere Bewandnis, beim preußischen Könige
dagegen liege die Sache doch etwas anders*).

Da wurde das Stilleben der französischen oder wenigstens verwälschten
Bourgeoisie Belgiens, das fich bisher allein um die Kirche als Angelpunkt ge-



*) Rede in der zweiten Kammer am 24. September 1849. Svemannsche Sammlung,
Band 1, Seite 78 ff.
Grenzboten II 1915 2S
Belgiens Verfassung und Staatsleben

jeweiligen Mehrheit der zweiten Kammer, der sich auch der Senat fügen nutz,
bestellt werden. Die Aufgabe des Königs beschränkte sich daher darauf, die
ihm vom Ministerium unterbreiteten Vorlagen zu unterschreiben und, wenn das
Zünglein der parlamentarischen Wagschale schwankte, den Führer der neuen
Mehrheit mit der Kabinettsbildung zu beauftragen.

Der Herrschaft der Bourgeoisie in Kammern und Ministerium und damit
im ganzen Staate stand somit keinerlei Hindernis mehr im Wege. Lediglich
nach ihrer Stellung zur Kirche zerfiel die herrschende Klasse in die beiden
Parteien der Katholiken und Liberalen, deren Vereinigung sich bald nach dem
Gelingen der Revolution und dem Zustandekommen des Verfassungswerkes
wieder löste. Die Verfassung hatte zwar mit der grundrechtlichen Kirchen- und
Unterrichtsfreiheit alle wesentlichen Streitpunkte zu beseitigen gesucht. Doch
blieben immer noch Lücken in der Richtung des staatlichen und kirchlichen
Unterrichtswesens, um die sich der Parteikampf drehte.

So begann denn die Entwicklung, nachdem die Union der Parteien gelöst
war, 1834 mit einem katholischen Ministerium. Ihm folgte 1840 ein liberales.
Und so ging es weiter im anmutigen Wechselspiele der Parteien, einmal
die Katholiken, das andere Mal die Liberalen, einmal die einen etwas
länger, die anderen etwas kürzer am Ruder, das andere Mal gerade umge¬
kehrt, wie es gerade der Zufall mit sich brachte. So war es bis zum Tode
König Leopolds des Ersten, der 1865 starb, so auch im wesentlichen noch in
den ersten Jahrzehnten König Leopolds des Zweiten. Auf Einzelheiten näher
einzugehen, wäre ohne jedes Interesse. Das Ganze pflegt man euphemistisch
belgische Geschichte zu nennen.

Eigentümlicherweise galt diese Verfassung und dieses politische Leben
Belgiens mit seiner allein berechtigten, aber pflichtenlosen Bourgeoisie den
deutschen Mittelklassen um 1848 als Ideal, weshalb man auch die belgische
Verfassung der preußischen zugrunde legte, allerdings ohne Volkssouveränität
und ohne so weitgehende Beschneidung der königlichen Rechte. Preisend rühmte
man, Belgien habe infolge seiner vortrefflichen Verfassung alle Stürme des
Jahres 1848 ruhig überstanden, worauf Bismarck allerdings erwiderte, bei
Rußland sei genau dasselbe der Fall. Und als man hinsichtlich der Steuer¬
bewilligung in der preußischen zweiten Kammer immer auf Belgien verwies,
entgegnete Bismarck, der belgische König habe seine Stellung als Geschenk aus
den blutigen Händen der Revolution entgegengenommen und mit einem ge¬
schenkten Gaule habe es eine besondere Bewandnis, beim preußischen Könige
dagegen liege die Sache doch etwas anders*).

Da wurde das Stilleben der französischen oder wenigstens verwälschten
Bourgeoisie Belgiens, das fich bisher allein um die Kirche als Angelpunkt ge-



*) Rede in der zweiten Kammer am 24. September 1849. Svemannsche Sammlung,
Band 1, Seite 78 ff.
Grenzboten II 1915 2S
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[0413] Belgiens Verfassung und Staatsleben jeweiligen Mehrheit der zweiten Kammer, der sich auch der Senat fügen nutz, bestellt werden. Die Aufgabe des Königs beschränkte sich daher darauf, die ihm vom Ministerium unterbreiteten Vorlagen zu unterschreiben und, wenn das Zünglein der parlamentarischen Wagschale schwankte, den Führer der neuen Mehrheit mit der Kabinettsbildung zu beauftragen. Der Herrschaft der Bourgeoisie in Kammern und Ministerium und damit im ganzen Staate stand somit keinerlei Hindernis mehr im Wege. Lediglich nach ihrer Stellung zur Kirche zerfiel die herrschende Klasse in die beiden Parteien der Katholiken und Liberalen, deren Vereinigung sich bald nach dem Gelingen der Revolution und dem Zustandekommen des Verfassungswerkes wieder löste. Die Verfassung hatte zwar mit der grundrechtlichen Kirchen- und Unterrichtsfreiheit alle wesentlichen Streitpunkte zu beseitigen gesucht. Doch blieben immer noch Lücken in der Richtung des staatlichen und kirchlichen Unterrichtswesens, um die sich der Parteikampf drehte. So begann denn die Entwicklung, nachdem die Union der Parteien gelöst war, 1834 mit einem katholischen Ministerium. Ihm folgte 1840 ein liberales. Und so ging es weiter im anmutigen Wechselspiele der Parteien, einmal die Katholiken, das andere Mal die Liberalen, einmal die einen etwas länger, die anderen etwas kürzer am Ruder, das andere Mal gerade umge¬ kehrt, wie es gerade der Zufall mit sich brachte. So war es bis zum Tode König Leopolds des Ersten, der 1865 starb, so auch im wesentlichen noch in den ersten Jahrzehnten König Leopolds des Zweiten. Auf Einzelheiten näher einzugehen, wäre ohne jedes Interesse. Das Ganze pflegt man euphemistisch belgische Geschichte zu nennen. Eigentümlicherweise galt diese Verfassung und dieses politische Leben Belgiens mit seiner allein berechtigten, aber pflichtenlosen Bourgeoisie den deutschen Mittelklassen um 1848 als Ideal, weshalb man auch die belgische Verfassung der preußischen zugrunde legte, allerdings ohne Volkssouveränität und ohne so weitgehende Beschneidung der königlichen Rechte. Preisend rühmte man, Belgien habe infolge seiner vortrefflichen Verfassung alle Stürme des Jahres 1848 ruhig überstanden, worauf Bismarck allerdings erwiderte, bei Rußland sei genau dasselbe der Fall. Und als man hinsichtlich der Steuer¬ bewilligung in der preußischen zweiten Kammer immer auf Belgien verwies, entgegnete Bismarck, der belgische König habe seine Stellung als Geschenk aus den blutigen Händen der Revolution entgegengenommen und mit einem ge¬ schenkten Gaule habe es eine besondere Bewandnis, beim preußischen Könige dagegen liege die Sache doch etwas anders*). Da wurde das Stilleben der französischen oder wenigstens verwälschten Bourgeoisie Belgiens, das fich bisher allein um die Kirche als Angelpunkt ge- *) Rede in der zweiten Kammer am 24. September 1849. Svemannsche Sammlung, Band 1, Seite 78 ff. Grenzboten II 1915 2S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/413>, abgerufen am 26.06.2024.