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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Zukunft der Jugendpflege

Ziel der sozialdemokratischen Jugendbewegung die Erzielung des sozialistischen
Klassenbewußtseins war. Zu dem Zwecke wurde die sozialistische Jugend plan¬
mäßig als die Märtyrerin der Polizei und der staatlichen Gewalt hingestellt.

Wir wiesen schon im ersten Aufsatz darauf hin, daß sich auch auf dem
Gebiete der Jugendbewegung in der Stellung der Sozialdemokratie erfreulicher¬
weise ein gewaltiger Umschwung vollzogen hat, und daß auch nach dem Kriege
diese Erscheinungen zu den überwundenen gehören mögen, dazu will ja dieser
Aufsatz an feinem Teile mithelfen.

Als jüngste Gruppe wollen wir endlich die sogenannte "Freideutsche
Jugendbewegung" schilvern. Aus der Wanderbewegung, namentlich dem
"Wandervogel" hervorgegangen, hat sie Anschluß gefunden an reformakademische,
lebensreformerische und reformerzieherische Kreise, an die Abstinenzbewegung usw.
So haben sich heute im Verbände der "Freideutschen Jugend" eine ziemliche
Anzahl sehr verschiedenartige Jugendvereine und auch akademische Vereine, in
erster Reihe die "Akademische Freischar", zusammengeschlossen, um Selbst¬
erziehung zu einem neuen Lebensideale und zwar zu einem neuen Persönlichkeits¬
ideale zu erstreben. Da dieses neue Lebens- oder Persönlichkeitsideal sich noch
nicht einheitlich bestimmen läßt, so hat leider der selbsterzieherische Grund¬
gedanke, das Selbstbewußtsein, das sich im Zusammenhang mit ihm in der
Jugend entwickelt hat, auf einem extremen Flügel der "Freideutschen Jugend"
zu einer stark übertriebenen Kritik an der Autorität von Familie und Schule
geführt. Der von Erwachsenen geleiteten Jugendpflege steht aus diesem Grunde
diese selbständige Jugendbewegung mit Mißtrauen und Ablehnung gegenüber*).

Als das gemeinsame Ziel aller dieser Jugendpflegebestrebungen und auch
der Jugendbewegung kann man hinstellen: die erzieherische Beeinflussung der
Jugend nach der Schule oder neben Familie und Schule. Man sucht diesen
erzieherischen Einfluß auf die Jugend gerade in der Zeit zu gewinnen, in der
Schule und Familie bei der Gestaltung unseres modernen Lebens, wie sie nun
einmal ist, versagen oder versagen müssen, und in der doch die erzieherische
Beeinflussung auf das fruchtbarste Feld stößt, weil in dieser Zeit sich die
Grundlage des Charakters, der Persönlichkeit im Jugendlichen entwickelt: es ist
die Pubertäts-, die Entwicklungszeit.

Bei dem Überblick über die Jugendpflegearbeit muß es nun klar geworden
sein, daß diese erzieherische Einwirkung von den allerverschiedensten Grund¬
lagen, von den verschiedensten Weltanschauungen aus erfolgt: auf der kirchlichen,
auf einer national-sittlichen, auf einer Persönlichkeitsweltanschauung, endlich auf
dem Boden der sozialdemokratischen Weltanschauung erheben sich die verschiedenen
Gruppen der Jugendpflegeorganisationen.

Es ist verständlich, aber keineswegs erfreulich, daß der Kampf dieser
Weltanschauungen sich auch auf die Jugendpflege übertragen hat und daß er



, ") Heute haben sich allerdings in der "Kreideutschen Jugend" die Geister geklärt, und
jener radikale Flügel ist abgestoßen worden.
Die Zukunft der Jugendpflege

Ziel der sozialdemokratischen Jugendbewegung die Erzielung des sozialistischen
Klassenbewußtseins war. Zu dem Zwecke wurde die sozialistische Jugend plan¬
mäßig als die Märtyrerin der Polizei und der staatlichen Gewalt hingestellt.

Wir wiesen schon im ersten Aufsatz darauf hin, daß sich auch auf dem
Gebiete der Jugendbewegung in der Stellung der Sozialdemokratie erfreulicher¬
weise ein gewaltiger Umschwung vollzogen hat, und daß auch nach dem Kriege
diese Erscheinungen zu den überwundenen gehören mögen, dazu will ja dieser
Aufsatz an feinem Teile mithelfen.

Als jüngste Gruppe wollen wir endlich die sogenannte „Freideutsche
Jugendbewegung" schilvern. Aus der Wanderbewegung, namentlich dem
„Wandervogel" hervorgegangen, hat sie Anschluß gefunden an reformakademische,
lebensreformerische und reformerzieherische Kreise, an die Abstinenzbewegung usw.
So haben sich heute im Verbände der „Freideutschen Jugend" eine ziemliche
Anzahl sehr verschiedenartige Jugendvereine und auch akademische Vereine, in
erster Reihe die „Akademische Freischar", zusammengeschlossen, um Selbst¬
erziehung zu einem neuen Lebensideale und zwar zu einem neuen Persönlichkeits¬
ideale zu erstreben. Da dieses neue Lebens- oder Persönlichkeitsideal sich noch
nicht einheitlich bestimmen läßt, so hat leider der selbsterzieherische Grund¬
gedanke, das Selbstbewußtsein, das sich im Zusammenhang mit ihm in der
Jugend entwickelt hat, auf einem extremen Flügel der „Freideutschen Jugend"
zu einer stark übertriebenen Kritik an der Autorität von Familie und Schule
geführt. Der von Erwachsenen geleiteten Jugendpflege steht aus diesem Grunde
diese selbständige Jugendbewegung mit Mißtrauen und Ablehnung gegenüber*).

Als das gemeinsame Ziel aller dieser Jugendpflegebestrebungen und auch
der Jugendbewegung kann man hinstellen: die erzieherische Beeinflussung der
Jugend nach der Schule oder neben Familie und Schule. Man sucht diesen
erzieherischen Einfluß auf die Jugend gerade in der Zeit zu gewinnen, in der
Schule und Familie bei der Gestaltung unseres modernen Lebens, wie sie nun
einmal ist, versagen oder versagen müssen, und in der doch die erzieherische
Beeinflussung auf das fruchtbarste Feld stößt, weil in dieser Zeit sich die
Grundlage des Charakters, der Persönlichkeit im Jugendlichen entwickelt: es ist
die Pubertäts-, die Entwicklungszeit.

Bei dem Überblick über die Jugendpflegearbeit muß es nun klar geworden
sein, daß diese erzieherische Einwirkung von den allerverschiedensten Grund¬
lagen, von den verschiedensten Weltanschauungen aus erfolgt: auf der kirchlichen,
auf einer national-sittlichen, auf einer Persönlichkeitsweltanschauung, endlich auf
dem Boden der sozialdemokratischen Weltanschauung erheben sich die verschiedenen
Gruppen der Jugendpflegeorganisationen.

Es ist verständlich, aber keineswegs erfreulich, daß der Kampf dieser
Weltanschauungen sich auch auf die Jugendpflege übertragen hat und daß er



, ") Heute haben sich allerdings in der „Kreideutschen Jugend" die Geister geklärt, und
jener radikale Flügel ist abgestoßen worden.
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[0407] Die Zukunft der Jugendpflege Ziel der sozialdemokratischen Jugendbewegung die Erzielung des sozialistischen Klassenbewußtseins war. Zu dem Zwecke wurde die sozialistische Jugend plan¬ mäßig als die Märtyrerin der Polizei und der staatlichen Gewalt hingestellt. Wir wiesen schon im ersten Aufsatz darauf hin, daß sich auch auf dem Gebiete der Jugendbewegung in der Stellung der Sozialdemokratie erfreulicher¬ weise ein gewaltiger Umschwung vollzogen hat, und daß auch nach dem Kriege diese Erscheinungen zu den überwundenen gehören mögen, dazu will ja dieser Aufsatz an feinem Teile mithelfen. Als jüngste Gruppe wollen wir endlich die sogenannte „Freideutsche Jugendbewegung" schilvern. Aus der Wanderbewegung, namentlich dem „Wandervogel" hervorgegangen, hat sie Anschluß gefunden an reformakademische, lebensreformerische und reformerzieherische Kreise, an die Abstinenzbewegung usw. So haben sich heute im Verbände der „Freideutschen Jugend" eine ziemliche Anzahl sehr verschiedenartige Jugendvereine und auch akademische Vereine, in erster Reihe die „Akademische Freischar", zusammengeschlossen, um Selbst¬ erziehung zu einem neuen Lebensideale und zwar zu einem neuen Persönlichkeits¬ ideale zu erstreben. Da dieses neue Lebens- oder Persönlichkeitsideal sich noch nicht einheitlich bestimmen läßt, so hat leider der selbsterzieherische Grund¬ gedanke, das Selbstbewußtsein, das sich im Zusammenhang mit ihm in der Jugend entwickelt hat, auf einem extremen Flügel der „Freideutschen Jugend" zu einer stark übertriebenen Kritik an der Autorität von Familie und Schule geführt. Der von Erwachsenen geleiteten Jugendpflege steht aus diesem Grunde diese selbständige Jugendbewegung mit Mißtrauen und Ablehnung gegenüber*). Als das gemeinsame Ziel aller dieser Jugendpflegebestrebungen und auch der Jugendbewegung kann man hinstellen: die erzieherische Beeinflussung der Jugend nach der Schule oder neben Familie und Schule. Man sucht diesen erzieherischen Einfluß auf die Jugend gerade in der Zeit zu gewinnen, in der Schule und Familie bei der Gestaltung unseres modernen Lebens, wie sie nun einmal ist, versagen oder versagen müssen, und in der doch die erzieherische Beeinflussung auf das fruchtbarste Feld stößt, weil in dieser Zeit sich die Grundlage des Charakters, der Persönlichkeit im Jugendlichen entwickelt: es ist die Pubertäts-, die Entwicklungszeit. Bei dem Überblick über die Jugendpflegearbeit muß es nun klar geworden sein, daß diese erzieherische Einwirkung von den allerverschiedensten Grund¬ lagen, von den verschiedensten Weltanschauungen aus erfolgt: auf der kirchlichen, auf einer national-sittlichen, auf einer Persönlichkeitsweltanschauung, endlich auf dem Boden der sozialdemokratischen Weltanschauung erheben sich die verschiedenen Gruppen der Jugendpflegeorganisationen. Es ist verständlich, aber keineswegs erfreulich, daß der Kampf dieser Weltanschauungen sich auch auf die Jugendpflege übertragen hat und daß er , ") Heute haben sich allerdings in der „Kreideutschen Jugend" die Geister geklärt, und jener radikale Flügel ist abgestoßen worden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/407>, abgerufen am 22.07.2024.