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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Krisis des deutschbaltischen Menschen

Denn vielleicht kommt es anders. Vielleicht bleibt die russische Knute im
Lande herrschend. Dann ist es für alle Zeiten dem deutschen Geiste verloren.
Es ist kein Zweifel, daß drakonische Rusfifizierungsmaßnahmen nach dem Kriege
einsetzen würden. Durch Vermittlung der russischen Staatlichkeit würde dann
die russische Kultur in nicht zu langer Zeit den Sieg im Lande des Deutschen
Ordens davontragen. Hat erst einmal das verrußte Schulwesen die Doppel-
sprachigkeit zum Sieg gebracht, ist aus allen offiziellen Einrichtungen des
Baltenlandes das Deutsche entfernt, wird durch Hin- und Herversetzen der
Beamten der Ausgleich der Bevölkerung beschleunigt, dann wird das Deutschtum
des Landes, ebenso wie das Letten- und Estentum in nicht zu langer Zeit der
Vergangenheit angehören. Alle katastrophalen Erschütterungen der letzten Jahre
können dann nur als Segnungen gedeutet werden. Wo Euthanasie das einzige
ist, was zu wünschen bleibt, da ist alles zu begrüßen, was ein langsames
Hinsiechen verhütet.

Kommt es so, dann sind wir Zeugen des Endes des baltischen Menschen.
Dies ist freilich gewiß: in jedem Fall muß die Krisis zu einem so radikalen
Umschwung führen, daß das, was man in hundert Jahren Ballen nennen mag,
mit dem alten scheinbar kaum mehr als den Namen gemeinsam haben wird.
Unserem Altbaltentum ist nicht zu helfen. So wenig wie dem mittelalterlichen
Gemeinschaftsgeist zu helfen war, als -- der neuen Zeit voraneilend -- die
runden Bögen sich zu brechen begannen und die ungeheure Dynamik der Strebe¬
pfeiler den Gläubigen unmittelbar zur Höhe hinanriß, so wenig der Rokoko¬
zierlichkeit der französischen Seigneurs zu helfen war. als der dritte Stand die
Bastille stürmte. Und trotz alledem: wenn die Geschichte es wollte, daß der
alte deutsche Boden wieder deutsch, die versprengte Schar in die Mannschaft
des neuen Reiches eingegliedert würde, bei aller grundstürzenden Umwandlung
würde doch noch jene unfatzliche Kontinuität des gemeinsamen Blutes das neue
Baltikum mit dem alten verbinden. Die Krisis könnte zu einer Verjüngung,
zu einer Entwicklung führen, die vorauszuberechnen vermessen wäre, die nur
unsere Ahnung, unser Glaube vorgreifend abtastet.

Das baltische Geschick liegt, wie schon so oft, in den Händen der großen
historischen Mächte. Wir müssen warten und uns ihrem Spruch fügen.




Die Krisis des deutschbaltischen Menschen

Denn vielleicht kommt es anders. Vielleicht bleibt die russische Knute im
Lande herrschend. Dann ist es für alle Zeiten dem deutschen Geiste verloren.
Es ist kein Zweifel, daß drakonische Rusfifizierungsmaßnahmen nach dem Kriege
einsetzen würden. Durch Vermittlung der russischen Staatlichkeit würde dann
die russische Kultur in nicht zu langer Zeit den Sieg im Lande des Deutschen
Ordens davontragen. Hat erst einmal das verrußte Schulwesen die Doppel-
sprachigkeit zum Sieg gebracht, ist aus allen offiziellen Einrichtungen des
Baltenlandes das Deutsche entfernt, wird durch Hin- und Herversetzen der
Beamten der Ausgleich der Bevölkerung beschleunigt, dann wird das Deutschtum
des Landes, ebenso wie das Letten- und Estentum in nicht zu langer Zeit der
Vergangenheit angehören. Alle katastrophalen Erschütterungen der letzten Jahre
können dann nur als Segnungen gedeutet werden. Wo Euthanasie das einzige
ist, was zu wünschen bleibt, da ist alles zu begrüßen, was ein langsames
Hinsiechen verhütet.

Kommt es so, dann sind wir Zeugen des Endes des baltischen Menschen.
Dies ist freilich gewiß: in jedem Fall muß die Krisis zu einem so radikalen
Umschwung führen, daß das, was man in hundert Jahren Ballen nennen mag,
mit dem alten scheinbar kaum mehr als den Namen gemeinsam haben wird.
Unserem Altbaltentum ist nicht zu helfen. So wenig wie dem mittelalterlichen
Gemeinschaftsgeist zu helfen war, als — der neuen Zeit voraneilend — die
runden Bögen sich zu brechen begannen und die ungeheure Dynamik der Strebe¬
pfeiler den Gläubigen unmittelbar zur Höhe hinanriß, so wenig der Rokoko¬
zierlichkeit der französischen Seigneurs zu helfen war. als der dritte Stand die
Bastille stürmte. Und trotz alledem: wenn die Geschichte es wollte, daß der
alte deutsche Boden wieder deutsch, die versprengte Schar in die Mannschaft
des neuen Reiches eingegliedert würde, bei aller grundstürzenden Umwandlung
würde doch noch jene unfatzliche Kontinuität des gemeinsamen Blutes das neue
Baltikum mit dem alten verbinden. Die Krisis könnte zu einer Verjüngung,
zu einer Entwicklung führen, die vorauszuberechnen vermessen wäre, die nur
unsere Ahnung, unser Glaube vorgreifend abtastet.

Das baltische Geschick liegt, wie schon so oft, in den Händen der großen
historischen Mächte. Wir müssen warten und uns ihrem Spruch fügen.




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[0391] Die Krisis des deutschbaltischen Menschen Denn vielleicht kommt es anders. Vielleicht bleibt die russische Knute im Lande herrschend. Dann ist es für alle Zeiten dem deutschen Geiste verloren. Es ist kein Zweifel, daß drakonische Rusfifizierungsmaßnahmen nach dem Kriege einsetzen würden. Durch Vermittlung der russischen Staatlichkeit würde dann die russische Kultur in nicht zu langer Zeit den Sieg im Lande des Deutschen Ordens davontragen. Hat erst einmal das verrußte Schulwesen die Doppel- sprachigkeit zum Sieg gebracht, ist aus allen offiziellen Einrichtungen des Baltenlandes das Deutsche entfernt, wird durch Hin- und Herversetzen der Beamten der Ausgleich der Bevölkerung beschleunigt, dann wird das Deutschtum des Landes, ebenso wie das Letten- und Estentum in nicht zu langer Zeit der Vergangenheit angehören. Alle katastrophalen Erschütterungen der letzten Jahre können dann nur als Segnungen gedeutet werden. Wo Euthanasie das einzige ist, was zu wünschen bleibt, da ist alles zu begrüßen, was ein langsames Hinsiechen verhütet. Kommt es so, dann sind wir Zeugen des Endes des baltischen Menschen. Dies ist freilich gewiß: in jedem Fall muß die Krisis zu einem so radikalen Umschwung führen, daß das, was man in hundert Jahren Ballen nennen mag, mit dem alten scheinbar kaum mehr als den Namen gemeinsam haben wird. Unserem Altbaltentum ist nicht zu helfen. So wenig wie dem mittelalterlichen Gemeinschaftsgeist zu helfen war, als — der neuen Zeit voraneilend — die runden Bögen sich zu brechen begannen und die ungeheure Dynamik der Strebe¬ pfeiler den Gläubigen unmittelbar zur Höhe hinanriß, so wenig der Rokoko¬ zierlichkeit der französischen Seigneurs zu helfen war. als der dritte Stand die Bastille stürmte. Und trotz alledem: wenn die Geschichte es wollte, daß der alte deutsche Boden wieder deutsch, die versprengte Schar in die Mannschaft des neuen Reiches eingegliedert würde, bei aller grundstürzenden Umwandlung würde doch noch jene unfatzliche Kontinuität des gemeinsamen Blutes das neue Baltikum mit dem alten verbinden. Die Krisis könnte zu einer Verjüngung, zu einer Entwicklung führen, die vorauszuberechnen vermessen wäre, die nur unsere Ahnung, unser Glaube vorgreifend abtastet. Das baltische Geschick liegt, wie schon so oft, in den Händen der großen historischen Mächte. Wir müssen warten und uns ihrem Spruch fügen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/391>, abgerufen am 22.07.2024.