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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Arisis des deutschbaltischen Menschen

härtet sich in diesem Dawiderrennen. Denn die ganze Geschichte des Baltentums,
die es zu einer kulturellen Überbauung der bloß junkerisch-feudalen Vital¬
instinkte zwang, hat es ihm unmöglich gemacht, an den ideellen Mächten der
modernsten Welt des Westens nun völlig vorbeizusehen, zumal es an deren
Entwicklung bis zur beginnenden politischen Konsolidierung des Deutschtums
vollen Anteil nahm. Gewiß bildete in der Auseinandersetzung mit diesen
westlichen Ideen, denen sich die russische Intelligenz würdelos in die Arme
warf, der ererbte Traditionalismus, die Stütze deutschbaltischer Selbstbehauptung,
-ein stärkeres Gegengewicht, als es bei den -.vielfach bourgeoishaft-ressentiment-
bedingten Trägern dieser Ideen im Westen, zumal in Frankreich der Fall war.
Aber der geistige Einstrom setzte nie aus. Baltische Studenten studieren nach
wie vor in 'großer Zahl an deutschen Hochschulen, wie überhaupt der Balle
fast jeden Sommer ins "Ausland" reist, baltische Professoren nehmen am
gesamtdeutschen Geistesleben teil und werden in ihrer Heimat bewundert, aber
auch gelesen*). So sind die reichsdeutschen Streitigkeiten der letzten Jahre um
das Apostolikum, der Fall Jatho und alle die andern Anzeichen einer Krisis
des deutschen Protestantismus auch im Baltenland beachtet, eifrig, ja heftig
diskutiert worden und haben eine Spaltung in die Theologenschaft hinein¬
getragen. Das literarische Leben des Landes nimmt an allen Bewegungen
Deutschlands Anteil. Bemerkenswert ist die Hinneigung junger baltischer Dichter
zu Stefan George. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dessen Doktrin den
aegenwartsabgewandten Instinkten, die im modernen Baltentum schlummern,
sich als verlockende Stütze anbote. Wenn so von der Theorie, vom Geist her
die neue Zeit ins Land dringt, so kann sich die soziale Praxis unmöglich dessen
Konsequenzen entziehen. Es kann hier nur angedeutet werden, welchen Einfluß
dabei die ökonomische Umwandlung der Verhältnisse ausübt. Die erstaunliche
Billigkeit der gesamten Lebensbedingungen, die sich noch bis vor etwa fünfzehn
Jahren hielt, ist in reißenden Schwinden begriffen. Der unselige moderne
Komfort dringt durch Vermittlung der größeren Städte ins Land ein. Die
noble Kampflofigkeit der sozialen Konkurrenz hört auf. Das mag die los¬
gelöste Leistung steigern, die Person leidet dabei Schaden. Die Industrie bringt
sich zu immer stärkerer Geltung und befördert die Verproletarifterung der bisher
wesentlich bäuerlichen Unterschicht, die durch Vermittlung der unter russischem
Einfluß verwilderten Volksschullehrerschaft mit den sozialdemokratischen Theorien
des Westens verseucht wird. Zumal wird der demokratisierende Bettelstolz
großgezogen und vergiftet die letzten Reste patriarchalischer Beziehungen auch
auf dem Lande, die natürlich schon durch die Revolution aufs schwerste gelitten
haben. Der kapitalistische Geist hält unter den schnell emporgekommenen
Jungletten und Jungesten seinen Einzug. Während die wirtschaftlichen Grün¬
dungen der ersteren vielfach schwindelhast emporgetrieben werden, um bald



*) Dem deutschen Buchhandel find die Ostseeprovinzen als guter Absatzmarkt Wohl
Bekannt.
Die Arisis des deutschbaltischen Menschen

härtet sich in diesem Dawiderrennen. Denn die ganze Geschichte des Baltentums,
die es zu einer kulturellen Überbauung der bloß junkerisch-feudalen Vital¬
instinkte zwang, hat es ihm unmöglich gemacht, an den ideellen Mächten der
modernsten Welt des Westens nun völlig vorbeizusehen, zumal es an deren
Entwicklung bis zur beginnenden politischen Konsolidierung des Deutschtums
vollen Anteil nahm. Gewiß bildete in der Auseinandersetzung mit diesen
westlichen Ideen, denen sich die russische Intelligenz würdelos in die Arme
warf, der ererbte Traditionalismus, die Stütze deutschbaltischer Selbstbehauptung,
-ein stärkeres Gegengewicht, als es bei den -.vielfach bourgeoishaft-ressentiment-
bedingten Trägern dieser Ideen im Westen, zumal in Frankreich der Fall war.
Aber der geistige Einstrom setzte nie aus. Baltische Studenten studieren nach
wie vor in 'großer Zahl an deutschen Hochschulen, wie überhaupt der Balle
fast jeden Sommer ins „Ausland" reist, baltische Professoren nehmen am
gesamtdeutschen Geistesleben teil und werden in ihrer Heimat bewundert, aber
auch gelesen*). So sind die reichsdeutschen Streitigkeiten der letzten Jahre um
das Apostolikum, der Fall Jatho und alle die andern Anzeichen einer Krisis
des deutschen Protestantismus auch im Baltenland beachtet, eifrig, ja heftig
diskutiert worden und haben eine Spaltung in die Theologenschaft hinein¬
getragen. Das literarische Leben des Landes nimmt an allen Bewegungen
Deutschlands Anteil. Bemerkenswert ist die Hinneigung junger baltischer Dichter
zu Stefan George. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dessen Doktrin den
aegenwartsabgewandten Instinkten, die im modernen Baltentum schlummern,
sich als verlockende Stütze anbote. Wenn so von der Theorie, vom Geist her
die neue Zeit ins Land dringt, so kann sich die soziale Praxis unmöglich dessen
Konsequenzen entziehen. Es kann hier nur angedeutet werden, welchen Einfluß
dabei die ökonomische Umwandlung der Verhältnisse ausübt. Die erstaunliche
Billigkeit der gesamten Lebensbedingungen, die sich noch bis vor etwa fünfzehn
Jahren hielt, ist in reißenden Schwinden begriffen. Der unselige moderne
Komfort dringt durch Vermittlung der größeren Städte ins Land ein. Die
noble Kampflofigkeit der sozialen Konkurrenz hört auf. Das mag die los¬
gelöste Leistung steigern, die Person leidet dabei Schaden. Die Industrie bringt
sich zu immer stärkerer Geltung und befördert die Verproletarifterung der bisher
wesentlich bäuerlichen Unterschicht, die durch Vermittlung der unter russischem
Einfluß verwilderten Volksschullehrerschaft mit den sozialdemokratischen Theorien
des Westens verseucht wird. Zumal wird der demokratisierende Bettelstolz
großgezogen und vergiftet die letzten Reste patriarchalischer Beziehungen auch
auf dem Lande, die natürlich schon durch die Revolution aufs schwerste gelitten
haben. Der kapitalistische Geist hält unter den schnell emporgekommenen
Jungletten und Jungesten seinen Einzug. Während die wirtschaftlichen Grün¬
dungen der ersteren vielfach schwindelhast emporgetrieben werden, um bald



*) Dem deutschen Buchhandel find die Ostseeprovinzen als guter Absatzmarkt Wohl
Bekannt.
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[0389] Die Arisis des deutschbaltischen Menschen härtet sich in diesem Dawiderrennen. Denn die ganze Geschichte des Baltentums, die es zu einer kulturellen Überbauung der bloß junkerisch-feudalen Vital¬ instinkte zwang, hat es ihm unmöglich gemacht, an den ideellen Mächten der modernsten Welt des Westens nun völlig vorbeizusehen, zumal es an deren Entwicklung bis zur beginnenden politischen Konsolidierung des Deutschtums vollen Anteil nahm. Gewiß bildete in der Auseinandersetzung mit diesen westlichen Ideen, denen sich die russische Intelligenz würdelos in die Arme warf, der ererbte Traditionalismus, die Stütze deutschbaltischer Selbstbehauptung, -ein stärkeres Gegengewicht, als es bei den -.vielfach bourgeoishaft-ressentiment- bedingten Trägern dieser Ideen im Westen, zumal in Frankreich der Fall war. Aber der geistige Einstrom setzte nie aus. Baltische Studenten studieren nach wie vor in 'großer Zahl an deutschen Hochschulen, wie überhaupt der Balle fast jeden Sommer ins „Ausland" reist, baltische Professoren nehmen am gesamtdeutschen Geistesleben teil und werden in ihrer Heimat bewundert, aber auch gelesen*). So sind die reichsdeutschen Streitigkeiten der letzten Jahre um das Apostolikum, der Fall Jatho und alle die andern Anzeichen einer Krisis des deutschen Protestantismus auch im Baltenland beachtet, eifrig, ja heftig diskutiert worden und haben eine Spaltung in die Theologenschaft hinein¬ getragen. Das literarische Leben des Landes nimmt an allen Bewegungen Deutschlands Anteil. Bemerkenswert ist die Hinneigung junger baltischer Dichter zu Stefan George. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dessen Doktrin den aegenwartsabgewandten Instinkten, die im modernen Baltentum schlummern, sich als verlockende Stütze anbote. Wenn so von der Theorie, vom Geist her die neue Zeit ins Land dringt, so kann sich die soziale Praxis unmöglich dessen Konsequenzen entziehen. Es kann hier nur angedeutet werden, welchen Einfluß dabei die ökonomische Umwandlung der Verhältnisse ausübt. Die erstaunliche Billigkeit der gesamten Lebensbedingungen, die sich noch bis vor etwa fünfzehn Jahren hielt, ist in reißenden Schwinden begriffen. Der unselige moderne Komfort dringt durch Vermittlung der größeren Städte ins Land ein. Die noble Kampflofigkeit der sozialen Konkurrenz hört auf. Das mag die los¬ gelöste Leistung steigern, die Person leidet dabei Schaden. Die Industrie bringt sich zu immer stärkerer Geltung und befördert die Verproletarifterung der bisher wesentlich bäuerlichen Unterschicht, die durch Vermittlung der unter russischem Einfluß verwilderten Volksschullehrerschaft mit den sozialdemokratischen Theorien des Westens verseucht wird. Zumal wird der demokratisierende Bettelstolz großgezogen und vergiftet die letzten Reste patriarchalischer Beziehungen auch auf dem Lande, die natürlich schon durch die Revolution aufs schwerste gelitten haben. Der kapitalistische Geist hält unter den schnell emporgekommenen Jungletten und Jungesten seinen Einzug. Während die wirtschaftlichen Grün¬ dungen der ersteren vielfach schwindelhast emporgetrieben werden, um bald *) Dem deutschen Buchhandel find die Ostseeprovinzen als guter Absatzmarkt Wohl Bekannt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/389>, abgerufen am 24.08.2024.