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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

sein lassen werden, die trotz verschiedener Begründungen und theoretischen
Fassungen doch über das Ethische und über das Vorhandensein einer über-
individuellen Bedeutung des Einzeldaseins einig sind und praktisch danach
handeln. Goethe erzählt darin von seinem Besuch bei einem Bergdirektor, der
die nach Goethes Ansicht verkehrtesten geologischen Theorien entwickelt, der aber
seinen Betrieb auf die zweckmäßigste und verständigste Weise gestaltet hat.
"Merkwürdig fiel mir dabei wieder auf, daß tüchtig praktische Menschen von
den theoretischen Irrtümern keineswegs gehindert werden, vorwärts zu gehen...
Dies belehrt uns. in dem menschlichsten Sinne, tolerant gegen Meinungen zu
sein, nur zu beobachten, ob etwas geschieht, und das übrige, was bloß Worte
sind, guten und vorzüglichen Menschen ruhig nachzusehen." Es sind ja auch
meist nur die Theoretiker der Religion, die Theologen, die immer nur das
Trennende der verschiedenen christlichen Konfessionen sehen und betonen.

Die europäische Geistesgeschichte "ist eine große Fuge, in der die Stimmen
der Völker nacheinander erklingen", heißt es einmal im Wilhelm Meister. Die
Renaissance hat ihre eigentliche Heimat und ihre wesentlichsten Wirkungen in
Italien, die Reformation in Deutschland, die Revolution in Frankreich. Diese
drei großen geistigen Bewegungen bilden in dieser ihrer zeitlichen Aufeinander¬
folge zwar keineswegs eine organische Entwicklungsreihe, und sie hatten jeweils
ihre Hauptwirkung auf sehr verschiedenen Gebieten. Man versteht gewöhnlich
oder wenigstens man verstand bis vor kurzem unter Renaissance im besonderen
Sinne die "zunehmende Beschäftigung mit den das Mittelalter hindurch erhalten
gebliebenen Schriftwerken des Altertums". Das ist aber sicher zu eng. "Es
war doch nicht so," sagt Rohrbach in seiner Geschichte der Menschheit mit
Recht, "daß man über die antike Literatur zu der neuen Bildung kam, sondern
so. daß das Verlangen nach dieser neuen Bildung zu den Quellen des antiken
Kulturideals führte." Die Renaissance wirkte wesentlich auf die künstlerische
und wissenschaftliche Betätigung, während die Reformation eine religiös-ethische,
die Revolution eine politische und soziale Bewegung war. Aber trotz dieser
Verschiedenheiten war der Ausgangspunkt dieser Bewegungen ein gemeinsamer,
und dieser Punkt, der Erdbebenherd könnte man sagen, war das Individuum.

Jakob Burckhard kennzeichnete das Wesen der Renaissance als das Erwachen
und die Befreiung des Individuums.

Die durch die deutsche Reformation angestoßene Bewegung -- die natürlich
keineswegs erschöpft oder gleichbedeutend ist mit der Reformationsbewegung des
sechzehnten Jahrhunderts und noch weniger mit einer heutigen protestantischen
Kirche bestimmter Fassung -- hat die gleiche Grundlage: daß das einzelne
Gewisien nach eigener subjektiver Überzeugung verlangte, nach einem, seinem
eigenen Innern zwingenden, nicht nach Autorität und Überlieferung gefundenen
Urteil über Gut und Böse, über Wahr oder Unwahr.

Die französische Revolution ist nach den bestimmenden Ideen, die durch
alle geschichtlichen Zufälligkeiten, alle Übertreibungen und Rückfälle schließlich


von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

sein lassen werden, die trotz verschiedener Begründungen und theoretischen
Fassungen doch über das Ethische und über das Vorhandensein einer über-
individuellen Bedeutung des Einzeldaseins einig sind und praktisch danach
handeln. Goethe erzählt darin von seinem Besuch bei einem Bergdirektor, der
die nach Goethes Ansicht verkehrtesten geologischen Theorien entwickelt, der aber
seinen Betrieb auf die zweckmäßigste und verständigste Weise gestaltet hat.
„Merkwürdig fiel mir dabei wieder auf, daß tüchtig praktische Menschen von
den theoretischen Irrtümern keineswegs gehindert werden, vorwärts zu gehen...
Dies belehrt uns. in dem menschlichsten Sinne, tolerant gegen Meinungen zu
sein, nur zu beobachten, ob etwas geschieht, und das übrige, was bloß Worte
sind, guten und vorzüglichen Menschen ruhig nachzusehen." Es sind ja auch
meist nur die Theoretiker der Religion, die Theologen, die immer nur das
Trennende der verschiedenen christlichen Konfessionen sehen und betonen.

Die europäische Geistesgeschichte „ist eine große Fuge, in der die Stimmen
der Völker nacheinander erklingen", heißt es einmal im Wilhelm Meister. Die
Renaissance hat ihre eigentliche Heimat und ihre wesentlichsten Wirkungen in
Italien, die Reformation in Deutschland, die Revolution in Frankreich. Diese
drei großen geistigen Bewegungen bilden in dieser ihrer zeitlichen Aufeinander¬
folge zwar keineswegs eine organische Entwicklungsreihe, und sie hatten jeweils
ihre Hauptwirkung auf sehr verschiedenen Gebieten. Man versteht gewöhnlich
oder wenigstens man verstand bis vor kurzem unter Renaissance im besonderen
Sinne die „zunehmende Beschäftigung mit den das Mittelalter hindurch erhalten
gebliebenen Schriftwerken des Altertums". Das ist aber sicher zu eng. „Es
war doch nicht so," sagt Rohrbach in seiner Geschichte der Menschheit mit
Recht, „daß man über die antike Literatur zu der neuen Bildung kam, sondern
so. daß das Verlangen nach dieser neuen Bildung zu den Quellen des antiken
Kulturideals führte." Die Renaissance wirkte wesentlich auf die künstlerische
und wissenschaftliche Betätigung, während die Reformation eine religiös-ethische,
die Revolution eine politische und soziale Bewegung war. Aber trotz dieser
Verschiedenheiten war der Ausgangspunkt dieser Bewegungen ein gemeinsamer,
und dieser Punkt, der Erdbebenherd könnte man sagen, war das Individuum.

Jakob Burckhard kennzeichnete das Wesen der Renaissance als das Erwachen
und die Befreiung des Individuums.

Die durch die deutsche Reformation angestoßene Bewegung — die natürlich
keineswegs erschöpft oder gleichbedeutend ist mit der Reformationsbewegung des
sechzehnten Jahrhunderts und noch weniger mit einer heutigen protestantischen
Kirche bestimmter Fassung — hat die gleiche Grundlage: daß das einzelne
Gewisien nach eigener subjektiver Überzeugung verlangte, nach einem, seinem
eigenen Innern zwingenden, nicht nach Autorität und Überlieferung gefundenen
Urteil über Gut und Böse, über Wahr oder Unwahr.

Die französische Revolution ist nach den bestimmenden Ideen, die durch
alle geschichtlichen Zufälligkeiten, alle Übertreibungen und Rückfälle schließlich


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[0277] von deutscher Kultur und deutscher Freiheit sein lassen werden, die trotz verschiedener Begründungen und theoretischen Fassungen doch über das Ethische und über das Vorhandensein einer über- individuellen Bedeutung des Einzeldaseins einig sind und praktisch danach handeln. Goethe erzählt darin von seinem Besuch bei einem Bergdirektor, der die nach Goethes Ansicht verkehrtesten geologischen Theorien entwickelt, der aber seinen Betrieb auf die zweckmäßigste und verständigste Weise gestaltet hat. „Merkwürdig fiel mir dabei wieder auf, daß tüchtig praktische Menschen von den theoretischen Irrtümern keineswegs gehindert werden, vorwärts zu gehen... Dies belehrt uns. in dem menschlichsten Sinne, tolerant gegen Meinungen zu sein, nur zu beobachten, ob etwas geschieht, und das übrige, was bloß Worte sind, guten und vorzüglichen Menschen ruhig nachzusehen." Es sind ja auch meist nur die Theoretiker der Religion, die Theologen, die immer nur das Trennende der verschiedenen christlichen Konfessionen sehen und betonen. Die europäische Geistesgeschichte „ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nacheinander erklingen", heißt es einmal im Wilhelm Meister. Die Renaissance hat ihre eigentliche Heimat und ihre wesentlichsten Wirkungen in Italien, die Reformation in Deutschland, die Revolution in Frankreich. Diese drei großen geistigen Bewegungen bilden in dieser ihrer zeitlichen Aufeinander¬ folge zwar keineswegs eine organische Entwicklungsreihe, und sie hatten jeweils ihre Hauptwirkung auf sehr verschiedenen Gebieten. Man versteht gewöhnlich oder wenigstens man verstand bis vor kurzem unter Renaissance im besonderen Sinne die „zunehmende Beschäftigung mit den das Mittelalter hindurch erhalten gebliebenen Schriftwerken des Altertums". Das ist aber sicher zu eng. „Es war doch nicht so," sagt Rohrbach in seiner Geschichte der Menschheit mit Recht, „daß man über die antike Literatur zu der neuen Bildung kam, sondern so. daß das Verlangen nach dieser neuen Bildung zu den Quellen des antiken Kulturideals führte." Die Renaissance wirkte wesentlich auf die künstlerische und wissenschaftliche Betätigung, während die Reformation eine religiös-ethische, die Revolution eine politische und soziale Bewegung war. Aber trotz dieser Verschiedenheiten war der Ausgangspunkt dieser Bewegungen ein gemeinsamer, und dieser Punkt, der Erdbebenherd könnte man sagen, war das Individuum. Jakob Burckhard kennzeichnete das Wesen der Renaissance als das Erwachen und die Befreiung des Individuums. Die durch die deutsche Reformation angestoßene Bewegung — die natürlich keineswegs erschöpft oder gleichbedeutend ist mit der Reformationsbewegung des sechzehnten Jahrhunderts und noch weniger mit einer heutigen protestantischen Kirche bestimmter Fassung — hat die gleiche Grundlage: daß das einzelne Gewisien nach eigener subjektiver Überzeugung verlangte, nach einem, seinem eigenen Innern zwingenden, nicht nach Autorität und Überlieferung gefundenen Urteil über Gut und Böse, über Wahr oder Unwahr. Die französische Revolution ist nach den bestimmenden Ideen, die durch alle geschichtlichen Zufälligkeiten, alle Übertreibungen und Rückfälle schließlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/277>, abgerufen am 22.07.2024.