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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Druck hin nach den Gesetzen der Mechanik
bewegen -- zu folgender ungeheuerlicher
Übertreibung des wirtschaftlichen Anpassungs¬
vermögens verleiten lassen: Wenn sich auf
das Geheiß des zürnenden Poseidon im Meer
eine Phäakenmauer erhöbe und England von
der übrigen Welt hermetisch absperrte, so
würde keineswegs eine Hungersnot aus¬
brechen, sondern die hohen Lebensmittelpreise
würden die Kapitalien in die Landwirtschaft
locken, und über die Zeit bis zum erhöhten
Ernteertrag würden Verteilungsmatzregeln
der Regierung hinweghelfen. Abgesehen vom
Psychologischen Grundirrtum stehen der Ver¬
wirklichung der Phantasie drei Hindernisse
im Wege, deren jedes sür sich allein schon
mächtig genug wäre, das Gelingen zu ver¬
eiteln. 1. In Deutschland ist die Anpassung
der Wirtschaft an die Kriegsnot gelungen,
weil den Anpasfungsprozetz eine Regierung
leitete, deren Organisationskraft beispiellos
dasteht in der Weltgeschichte, und weil sie
dabei von berufständischen Organisationen
unterstützt wurde, die ebenfalls ihresgleichen
nicht haben in den übrigen Staaten heutiger
Zeit. In England, wo unter dem Namen
der Freiheit manchesterlich-individualistischer
Schlendrian herrscht, fehlen solche orga¬
nisierende Kräfte. 2. Bei der deutschen An¬
passung handelte eS sich einmal um die
Überführung von Kapitalien und Industrie¬
arbeitern aus den einen Industriezweigen in
andere, und zweitens um die Einteilung und
Verteilung der vorhandenen Lebensmittel¬
vorräte, die zwar knapp, aber doch eben vor¬
handen waren. Den Vorrat zu vermehren
ist auch die erstaunliche deutsche Organisations¬
kraft nicht imstande gewesen, und sie wird
auch den Ertrag der nächsten Ernte nicht
wesentlich über den Durchschnitt erhöhen.
Jndustrieerzeugnisse können mit Dampf- und
Elektrizitätsgeschwindigkeit vermehrt werden,
Pflanzen und Tiere brauchen ihre von der
Ltatur unabänderlich bestimmte Zeit zum

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wachsen und reifen. Und ehe der neue
englische Weizen reifte, mutzte er erst gesät
werden auf den Flächen, die jetzt Weide oder
Park und Jagdrevier sind; dazu wäre die-
Anlegung von einigen hunderttausend Bauer¬
wirtschaften erforderlich -- in einem Lande,
wo es gar keine Bauern mehr gibt; wir
aber, die wir noch Bauern haben, wissen,
was trotzdem innere Kolonisation in hundert¬
mal kleinerem Umfange für ein schwieriges,
langwieriges und kostspieliges Werk ist.
3. Und woher die Menschen nehmen für
dieses Werk? Nach der Niederwerfung der
Burenrepubliken seufzte die Saturday ReView:
"mehr Land hätten wir nun wieder, aber
woher Bebauer nehmen? Unsere ganz ver¬
städterte Bevölkerung taugt nicht zu bäuer¬
licher Besiedlung." Aus dem dritten Bande
desJahrgangs 1913 der Grenzboten Seite 119
und 201 haben wir erfahren, daß es auch
in Kanada nicht erwachsene großstädtische
Proletarier sind, die der weiteren Besiedlung
dienen, sondern Kinder, die frühzeitig ihrem
ungesunden Milieu entrissen, für diesen Zweck
erzogen werden. Und wären diese drei un°
übersteiglichen Hindernisse überwunden, so
könnte Englands Volk immer noch nicht aus¬
schließlich vom eigenen Weizen leben, weil die
1S100V Quadratkilometer von England und
Wales nun einmal nicht hinreichen, 34 Milli¬
onen Menschen zu ernähren. Der Boden des
alten Babyloniens und Ägyptens hätte ja
noch mehr als 238 Menschen auf den Quadrat¬
kilometer zu ernähren vermocht, und im tro¬
pischen, im subtropischen Amerika mag es
noch viel solchen Boden geben; auch Indien
würde bei rationellen Betrieb der Land¬
wirtschaft und bei musterhafter Verwaltung
von Hungersnöten verschont bleiben, aber
England liegt nun einmal nicht in den
Tropen. Möchten sich unsere Politiker nicht
irre führen lassen durch Phantastische Über¬
treibung der Anpassungsmöglichkeiten!

Dr. Lari Zentsch [Ende Spaltensatz]




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AerusPrecher d"Z Hkr-ni"ach-rL: Amt Lichterfelde 4S", "e" Berta"" und der S-iriftieituna: Amt S?t>o" MW.
"erlag: Verlag der GrenzSote" S. in. b. H. in Berlin SW 11, TemPelhoj-i liier SS".
Druck: .Der R"ich"b","- ".". ". H. i" Berlin SV 11. Dess-ner Straße 3S/Z7.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Druck hin nach den Gesetzen der Mechanik
bewegen — zu folgender ungeheuerlicher
Übertreibung des wirtschaftlichen Anpassungs¬
vermögens verleiten lassen: Wenn sich auf
das Geheiß des zürnenden Poseidon im Meer
eine Phäakenmauer erhöbe und England von
der übrigen Welt hermetisch absperrte, so
würde keineswegs eine Hungersnot aus¬
brechen, sondern die hohen Lebensmittelpreise
würden die Kapitalien in die Landwirtschaft
locken, und über die Zeit bis zum erhöhten
Ernteertrag würden Verteilungsmatzregeln
der Regierung hinweghelfen. Abgesehen vom
Psychologischen Grundirrtum stehen der Ver¬
wirklichung der Phantasie drei Hindernisse
im Wege, deren jedes sür sich allein schon
mächtig genug wäre, das Gelingen zu ver¬
eiteln. 1. In Deutschland ist die Anpassung
der Wirtschaft an die Kriegsnot gelungen,
weil den Anpasfungsprozetz eine Regierung
leitete, deren Organisationskraft beispiellos
dasteht in der Weltgeschichte, und weil sie
dabei von berufständischen Organisationen
unterstützt wurde, die ebenfalls ihresgleichen
nicht haben in den übrigen Staaten heutiger
Zeit. In England, wo unter dem Namen
der Freiheit manchesterlich-individualistischer
Schlendrian herrscht, fehlen solche orga¬
nisierende Kräfte. 2. Bei der deutschen An¬
passung handelte eS sich einmal um die
Überführung von Kapitalien und Industrie¬
arbeitern aus den einen Industriezweigen in
andere, und zweitens um die Einteilung und
Verteilung der vorhandenen Lebensmittel¬
vorräte, die zwar knapp, aber doch eben vor¬
handen waren. Den Vorrat zu vermehren
ist auch die erstaunliche deutsche Organisations¬
kraft nicht imstande gewesen, und sie wird
auch den Ertrag der nächsten Ernte nicht
wesentlich über den Durchschnitt erhöhen.
Jndustrieerzeugnisse können mit Dampf- und
Elektrizitätsgeschwindigkeit vermehrt werden,
Pflanzen und Tiere brauchen ihre von der
Ltatur unabänderlich bestimmte Zeit zum

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wachsen und reifen. Und ehe der neue
englische Weizen reifte, mutzte er erst gesät
werden auf den Flächen, die jetzt Weide oder
Park und Jagdrevier sind; dazu wäre die-
Anlegung von einigen hunderttausend Bauer¬
wirtschaften erforderlich — in einem Lande,
wo es gar keine Bauern mehr gibt; wir
aber, die wir noch Bauern haben, wissen,
was trotzdem innere Kolonisation in hundert¬
mal kleinerem Umfange für ein schwieriges,
langwieriges und kostspieliges Werk ist.
3. Und woher die Menschen nehmen für
dieses Werk? Nach der Niederwerfung der
Burenrepubliken seufzte die Saturday ReView:
„mehr Land hätten wir nun wieder, aber
woher Bebauer nehmen? Unsere ganz ver¬
städterte Bevölkerung taugt nicht zu bäuer¬
licher Besiedlung." Aus dem dritten Bande
desJahrgangs 1913 der Grenzboten Seite 119
und 201 haben wir erfahren, daß es auch
in Kanada nicht erwachsene großstädtische
Proletarier sind, die der weiteren Besiedlung
dienen, sondern Kinder, die frühzeitig ihrem
ungesunden Milieu entrissen, für diesen Zweck
erzogen werden. Und wären diese drei un°
übersteiglichen Hindernisse überwunden, so
könnte Englands Volk immer noch nicht aus¬
schließlich vom eigenen Weizen leben, weil die
1S100V Quadratkilometer von England und
Wales nun einmal nicht hinreichen, 34 Milli¬
onen Menschen zu ernähren. Der Boden des
alten Babyloniens und Ägyptens hätte ja
noch mehr als 238 Menschen auf den Quadrat¬
kilometer zu ernähren vermocht, und im tro¬
pischen, im subtropischen Amerika mag es
noch viel solchen Boden geben; auch Indien
würde bei rationellen Betrieb der Land¬
wirtschaft und bei musterhafter Verwaltung
von Hungersnöten verschont bleiben, aber
England liegt nun einmal nicht in den
Tropen. Möchten sich unsere Politiker nicht
irre führen lassen durch Phantastische Über¬
treibung der Anpassungsmöglichkeiten!

Dr. Lari Zentsch [Ende Spaltensatz]




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«erlag: Verlag der GrenzSote« S. in. b. H. in Berlin SW 11, TemPelhoj-i liier SS».
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[0268] Maßgebliches und Unmaßgebliches Druck hin nach den Gesetzen der Mechanik bewegen — zu folgender ungeheuerlicher Übertreibung des wirtschaftlichen Anpassungs¬ vermögens verleiten lassen: Wenn sich auf das Geheiß des zürnenden Poseidon im Meer eine Phäakenmauer erhöbe und England von der übrigen Welt hermetisch absperrte, so würde keineswegs eine Hungersnot aus¬ brechen, sondern die hohen Lebensmittelpreise würden die Kapitalien in die Landwirtschaft locken, und über die Zeit bis zum erhöhten Ernteertrag würden Verteilungsmatzregeln der Regierung hinweghelfen. Abgesehen vom Psychologischen Grundirrtum stehen der Ver¬ wirklichung der Phantasie drei Hindernisse im Wege, deren jedes sür sich allein schon mächtig genug wäre, das Gelingen zu ver¬ eiteln. 1. In Deutschland ist die Anpassung der Wirtschaft an die Kriegsnot gelungen, weil den Anpasfungsprozetz eine Regierung leitete, deren Organisationskraft beispiellos dasteht in der Weltgeschichte, und weil sie dabei von berufständischen Organisationen unterstützt wurde, die ebenfalls ihresgleichen nicht haben in den übrigen Staaten heutiger Zeit. In England, wo unter dem Namen der Freiheit manchesterlich-individualistischer Schlendrian herrscht, fehlen solche orga¬ nisierende Kräfte. 2. Bei der deutschen An¬ passung handelte eS sich einmal um die Überführung von Kapitalien und Industrie¬ arbeitern aus den einen Industriezweigen in andere, und zweitens um die Einteilung und Verteilung der vorhandenen Lebensmittel¬ vorräte, die zwar knapp, aber doch eben vor¬ handen waren. Den Vorrat zu vermehren ist auch die erstaunliche deutsche Organisations¬ kraft nicht imstande gewesen, und sie wird auch den Ertrag der nächsten Ernte nicht wesentlich über den Durchschnitt erhöhen. Jndustrieerzeugnisse können mit Dampf- und Elektrizitätsgeschwindigkeit vermehrt werden, Pflanzen und Tiere brauchen ihre von der Ltatur unabänderlich bestimmte Zeit zum wachsen und reifen. Und ehe der neue englische Weizen reifte, mutzte er erst gesät werden auf den Flächen, die jetzt Weide oder Park und Jagdrevier sind; dazu wäre die- Anlegung von einigen hunderttausend Bauer¬ wirtschaften erforderlich — in einem Lande, wo es gar keine Bauern mehr gibt; wir aber, die wir noch Bauern haben, wissen, was trotzdem innere Kolonisation in hundert¬ mal kleinerem Umfange für ein schwieriges, langwieriges und kostspieliges Werk ist. 3. Und woher die Menschen nehmen für dieses Werk? Nach der Niederwerfung der Burenrepubliken seufzte die Saturday ReView: „mehr Land hätten wir nun wieder, aber woher Bebauer nehmen? Unsere ganz ver¬ städterte Bevölkerung taugt nicht zu bäuer¬ licher Besiedlung." Aus dem dritten Bande desJahrgangs 1913 der Grenzboten Seite 119 und 201 haben wir erfahren, daß es auch in Kanada nicht erwachsene großstädtische Proletarier sind, die der weiteren Besiedlung dienen, sondern Kinder, die frühzeitig ihrem ungesunden Milieu entrissen, für diesen Zweck erzogen werden. Und wären diese drei un° übersteiglichen Hindernisse überwunden, so könnte Englands Volk immer noch nicht aus¬ schließlich vom eigenen Weizen leben, weil die 1S100V Quadratkilometer von England und Wales nun einmal nicht hinreichen, 34 Milli¬ onen Menschen zu ernähren. Der Boden des alten Babyloniens und Ägyptens hätte ja noch mehr als 238 Menschen auf den Quadrat¬ kilometer zu ernähren vermocht, und im tro¬ pischen, im subtropischen Amerika mag es noch viel solchen Boden geben; auch Indien würde bei rationellen Betrieb der Land¬ wirtschaft und bei musterhafter Verwaltung von Hungersnöten verschont bleiben, aber England liegt nun einmal nicht in den Tropen. Möchten sich unsere Politiker nicht irre führen lassen durch Phantastische Über¬ treibung der Anpassungsmöglichkeiten! Dr. Lari Zentsch «-chvrock s»««ki«er ««fsttzr »ur «it »«Sdr»«rr Sri«»»»i» »»» »„ ,st «rr-»to»rllich: »er H«r-»»««ber «e«rg Tlei»»» er Berlin. Sichterselde »est. — ManusKtptsen»im«en >-n» Briefe werden erecti« unter der Adresse: «» den Her «««««»er der Gr-»,b«te» i» «cru».«ichterfrl»e «»se. Sternftr-S« «. AerusPrecher d«Z Hkr-ni»ach-rL: Amt Lichterfelde 4S», »e» Berta»« und der S-iriftieituna: Amt S?t>o« MW. «erlag: Verlag der GrenzSote« S. in. b. H. in Berlin SW 11, TemPelhoj-i liier SS». Druck: .Der R«ich»b»,«- «.». ». H. i» Berlin SV 11. Dess-ner Straße 3S/Z7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/268>, abgerufen am 22.07.2024.