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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Der Zweck in der Politik

dieser primitiven Politik. Deren Folge wiederum ist die Erweiterung der
Staatsgrenzen.

Kein Begriff dieser naiven Politik ist so zweideutig wie der der "Unter¬
werfung". Schauen wir doch auf das antike Rom. Die "unterworfenen"
italienischen Bundesgenossen erstreiten sich das Bürgerrecht und erlangen ent¬
scheidenden Einfluß auf die römische Staatsmaschine. Die normannischen
Eroberer lassen sich von der "unterworfenen" Bevölkerung Englands aufsaugen.
Denn zwar wird der Hase vom Menschen erlegt und verspeist. Aber sein
Fleisch wird nach einem Umschmelzungsprozeß Teil des siegreichen Organismus;
Teile von ihm können auf diese Weise sogar das Gehirn erneuern und von hier
aus den gesamten Organismus lenken. Das Individuum glaubt einen Akt der
Feindschaft vollzogen zu haben, wo in Wahrheit das solidarische Füreinander
der organischen Natur ihre höchsten Triumphe feiert. So glaubt auch primitive
Politik ihren Zweck, die Macht des eigenen Bluts, der eigenen Rasse zu stärken,
aufs beste zu erfüllen. In Wahrheit sorgt die "List der Vernunft" dafür, daß
gerade das Gegenteil erzielt wird: die Rasse vermischt sich, und das fremde
Blut kann nach vollzogener Eroberung und "Unterwerfung" unter Umständen
besser gedeihen und die ursprünglichen Elemente ganz verdrängen.

Was der Eroberer also letzten Endes bezweckt hat, ist ihm nicht gelungen.
Statt dessen aber erzielt er einen anderen, freilich unbeabsichtigten Sieg. Ehe
die Speise die Funktionen des neuen Organismus mit übernimmt, muß sie sich
ihm assimilieren. Den gleichen Umwandlungsprozeß beobachten wir an dem
besiegten und einverleibten Volke. Ehe es vom bloßen Objekt der Gesetzgebung
und Verwaltung zum Subjekt wird, muß es die obersten Zwecke seiner ehemals
selbständig gerichteten Politik ausgeben und sich den nationalen Gedanken des
neuen Volksorganismus aneignen. Unbeschadet dieser neuen Richtlinie der
politischen Zwecke aber wird das annektierte Volk dann die wertvollste Mitarbeit
zur Weiterentwicklung des nationalen Lebens leisten können, wenn die Eigenart
seiner geistigen Kultur nicht bloß mehr Objekt der Staatskunst und eventuell
der Unterdrückung bleibt, sondern wenn ihm die Lebenskraft gelassen wird, als
mitbestimmender Faktor den nationalen Gedanken bereichern zu helfen. Man
sieht, wie wenig die Verwandtschaftstheorie für die Staatenbildung bedeutet und
wie unberechtigt die Schlagworte "Slawismus", "Romanismus", "Germanismus"
dann find, wenn mit ihnen Gegensätze der Abstammung, statt der Kultur,
gemeint werden.

Um diesen Vorgang der politischen Motivverschiebung richtig zu begreifen,
müssen wir ihn aus den psychologischen Grundtatsachen zu erklären suchen. In
der physikalischen Welt gilt das Gesetz der Konstanz und Erhaltung der Energie
(beziehungsweise das Äquivalenzprinzip). Auf das psychische Geschehen aber
kann dies Gesetz nicht angewandt werden. Gerade im Gegenteil besteht hier
das "Prinzip des Wachstums geistiger Energie", wie Wundt es genannt hat.
Ein ausgeprägtes Beispiel für die Geltung dieses Prinzips haben wir in der


Der Zweck in der Politik

dieser primitiven Politik. Deren Folge wiederum ist die Erweiterung der
Staatsgrenzen.

Kein Begriff dieser naiven Politik ist so zweideutig wie der der „Unter¬
werfung". Schauen wir doch auf das antike Rom. Die „unterworfenen"
italienischen Bundesgenossen erstreiten sich das Bürgerrecht und erlangen ent¬
scheidenden Einfluß auf die römische Staatsmaschine. Die normannischen
Eroberer lassen sich von der „unterworfenen" Bevölkerung Englands aufsaugen.
Denn zwar wird der Hase vom Menschen erlegt und verspeist. Aber sein
Fleisch wird nach einem Umschmelzungsprozeß Teil des siegreichen Organismus;
Teile von ihm können auf diese Weise sogar das Gehirn erneuern und von hier
aus den gesamten Organismus lenken. Das Individuum glaubt einen Akt der
Feindschaft vollzogen zu haben, wo in Wahrheit das solidarische Füreinander
der organischen Natur ihre höchsten Triumphe feiert. So glaubt auch primitive
Politik ihren Zweck, die Macht des eigenen Bluts, der eigenen Rasse zu stärken,
aufs beste zu erfüllen. In Wahrheit sorgt die „List der Vernunft" dafür, daß
gerade das Gegenteil erzielt wird: die Rasse vermischt sich, und das fremde
Blut kann nach vollzogener Eroberung und „Unterwerfung" unter Umständen
besser gedeihen und die ursprünglichen Elemente ganz verdrängen.

Was der Eroberer also letzten Endes bezweckt hat, ist ihm nicht gelungen.
Statt dessen aber erzielt er einen anderen, freilich unbeabsichtigten Sieg. Ehe
die Speise die Funktionen des neuen Organismus mit übernimmt, muß sie sich
ihm assimilieren. Den gleichen Umwandlungsprozeß beobachten wir an dem
besiegten und einverleibten Volke. Ehe es vom bloßen Objekt der Gesetzgebung
und Verwaltung zum Subjekt wird, muß es die obersten Zwecke seiner ehemals
selbständig gerichteten Politik ausgeben und sich den nationalen Gedanken des
neuen Volksorganismus aneignen. Unbeschadet dieser neuen Richtlinie der
politischen Zwecke aber wird das annektierte Volk dann die wertvollste Mitarbeit
zur Weiterentwicklung des nationalen Lebens leisten können, wenn die Eigenart
seiner geistigen Kultur nicht bloß mehr Objekt der Staatskunst und eventuell
der Unterdrückung bleibt, sondern wenn ihm die Lebenskraft gelassen wird, als
mitbestimmender Faktor den nationalen Gedanken bereichern zu helfen. Man
sieht, wie wenig die Verwandtschaftstheorie für die Staatenbildung bedeutet und
wie unberechtigt die Schlagworte „Slawismus", „Romanismus", „Germanismus"
dann find, wenn mit ihnen Gegensätze der Abstammung, statt der Kultur,
gemeint werden.

Um diesen Vorgang der politischen Motivverschiebung richtig zu begreifen,
müssen wir ihn aus den psychologischen Grundtatsachen zu erklären suchen. In
der physikalischen Welt gilt das Gesetz der Konstanz und Erhaltung der Energie
(beziehungsweise das Äquivalenzprinzip). Auf das psychische Geschehen aber
kann dies Gesetz nicht angewandt werden. Gerade im Gegenteil besteht hier
das „Prinzip des Wachstums geistiger Energie", wie Wundt es genannt hat.
Ein ausgeprägtes Beispiel für die Geltung dieses Prinzips haben wir in der


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[0206] Der Zweck in der Politik dieser primitiven Politik. Deren Folge wiederum ist die Erweiterung der Staatsgrenzen. Kein Begriff dieser naiven Politik ist so zweideutig wie der der „Unter¬ werfung". Schauen wir doch auf das antike Rom. Die „unterworfenen" italienischen Bundesgenossen erstreiten sich das Bürgerrecht und erlangen ent¬ scheidenden Einfluß auf die römische Staatsmaschine. Die normannischen Eroberer lassen sich von der „unterworfenen" Bevölkerung Englands aufsaugen. Denn zwar wird der Hase vom Menschen erlegt und verspeist. Aber sein Fleisch wird nach einem Umschmelzungsprozeß Teil des siegreichen Organismus; Teile von ihm können auf diese Weise sogar das Gehirn erneuern und von hier aus den gesamten Organismus lenken. Das Individuum glaubt einen Akt der Feindschaft vollzogen zu haben, wo in Wahrheit das solidarische Füreinander der organischen Natur ihre höchsten Triumphe feiert. So glaubt auch primitive Politik ihren Zweck, die Macht des eigenen Bluts, der eigenen Rasse zu stärken, aufs beste zu erfüllen. In Wahrheit sorgt die „List der Vernunft" dafür, daß gerade das Gegenteil erzielt wird: die Rasse vermischt sich, und das fremde Blut kann nach vollzogener Eroberung und „Unterwerfung" unter Umständen besser gedeihen und die ursprünglichen Elemente ganz verdrängen. Was der Eroberer also letzten Endes bezweckt hat, ist ihm nicht gelungen. Statt dessen aber erzielt er einen anderen, freilich unbeabsichtigten Sieg. Ehe die Speise die Funktionen des neuen Organismus mit übernimmt, muß sie sich ihm assimilieren. Den gleichen Umwandlungsprozeß beobachten wir an dem besiegten und einverleibten Volke. Ehe es vom bloßen Objekt der Gesetzgebung und Verwaltung zum Subjekt wird, muß es die obersten Zwecke seiner ehemals selbständig gerichteten Politik ausgeben und sich den nationalen Gedanken des neuen Volksorganismus aneignen. Unbeschadet dieser neuen Richtlinie der politischen Zwecke aber wird das annektierte Volk dann die wertvollste Mitarbeit zur Weiterentwicklung des nationalen Lebens leisten können, wenn die Eigenart seiner geistigen Kultur nicht bloß mehr Objekt der Staatskunst und eventuell der Unterdrückung bleibt, sondern wenn ihm die Lebenskraft gelassen wird, als mitbestimmender Faktor den nationalen Gedanken bereichern zu helfen. Man sieht, wie wenig die Verwandtschaftstheorie für die Staatenbildung bedeutet und wie unberechtigt die Schlagworte „Slawismus", „Romanismus", „Germanismus" dann find, wenn mit ihnen Gegensätze der Abstammung, statt der Kultur, gemeint werden. Um diesen Vorgang der politischen Motivverschiebung richtig zu begreifen, müssen wir ihn aus den psychologischen Grundtatsachen zu erklären suchen. In der physikalischen Welt gilt das Gesetz der Konstanz und Erhaltung der Energie (beziehungsweise das Äquivalenzprinzip). Auf das psychische Geschehen aber kann dies Gesetz nicht angewandt werden. Gerade im Gegenteil besteht hier das „Prinzip des Wachstums geistiger Energie", wie Wundt es genannt hat. Ein ausgeprägtes Beispiel für die Geltung dieses Prinzips haben wir in der

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/206>, abgerufen am 28.09.2024.