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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Ariegswirtschaftslehre

gewaltigen eigenartigen Erscheinungen des Wirtschaftslebens, die der gegenwärtige
Weltkrieg veranlaßt hat und noch veranlassen wird, dürfte sich für die Wirt¬
schaftswissenschaft insofern ein neues Forschungsgebiet eröffnen, als ihre Träger
angeregt werden, nicht nur dem Krieg und den mit ihm zusammenhängenden
Erscheinungen größere Aufmerksamkeit zu widmen, sondern auch markante Gruppen
von Fragen schärfer zu präzisteren und deren inneren Zusammenhang aufzuzeigen.

Auf die Notwendigkeit einer solchen systematischen Untersuchung des
gesamten spezifischen Komplexes von Erscheinungen und Tatsachen, die der
Krieg hervorruft, hat ganz kurz vor dem Ausbruch des gegenwärtigen Welt¬
krieges der österreichische Nationalökonom Otto Neurath hingewiesen, der im
Jahre 1913 in der Tübinger Zeitschrift sür die gesamte Staatswissenschaft über
"Probleme der Kriegswirtschaftslehre" und im Weltwirtschaftlichen Archiv über
"Die Kriegswirtschastslehre als Sonderdisziplin" Aufsätze veröffentlichte. Neurath
versteht unter dem Begriff Kriegswirtschastslehre die systematische Erörterung
der Vor- und Nachteile des Krieges. Diese Begriffsbestimmung dürfte indessen
erheblich zu eng sein. Es ist von vornherein klar, daß die Kriegswirtschafts-
lehre sich nicht erschöpfen kann in eine" wirtschaftlichen Schlußbilanz der Aktiva
und Passiva des Kriegserfolges, das heißt in einer Betrachtung des wirtschaftlich
geschäftlichen Erfolges und Mißerfolges, den das Kriegsunternehmen für
die beteiligten kriegführenden Völker hat. Im Hinblick auf ihre spezifische
Aufgabe, den gesamten Komplex von Erscheinungen, Tatsachen und Kausal¬
zusammenhängen, wie sie durch den Krieg hervorgebracht werden, systematisch
zu untersuchen, müßte sie eine besondere Nationalökonomie des Krieges werden,
der als Forschungsgebiet die Gesamtheit der mit dem Kriege zusammenhängenden
wirtschaftlichen Tatbestände zufiele. Geht man so daran, die Kriegswirtschasts¬
lehre in dem Sinne zu betreiben, daß höheren Ansprüchen in bezug auf
systematische und theoretische Durchdringung genügt wird, dürfte sich allerdings
bald herausstellen, daß das Untersuchungsgebiet begrifflich nur sehr roh ab¬
zugrenzen ist. Manches, was bei schärferer Analyse zu eliminieren wäre, wird
vorläufig einbezogen werden; auch wird der Versuch, ein System zu schaffen,
von vornherein mit erheblichen Mängeln behaftet sein. Immerhin kann man
ganz allgemein sagen, daß die Kriegswirtschastslehre als eine spezielle National¬
ökonomie des Krieges in der nämlichen Weise aufgebaut werden müßte wie
die Wirtschaftswissenschaft überhaupt: zerfallend in eine theoretische und eine
praktische Kriegswirtschastslehre würde sie sich als eine Gesamtlehre von den
eigenartigen wirtschaftlichen Zuständen und Erscheinungen darstellen, die der
Krieg hervorbringt, von den Vorbereitungen auf den Krieg bis zu den nachher
verbleibenden wirtschaftlichen Folgewirkungen.

Die augenblickliche Situation ist für die Entfaltung der neuen wissenschaft¬
lichen Disziplin überaus günstig. Nicht nur ist der Sinn für allgemeinere
theoretische Zusammenfassungen gewachsen, gerade unsere Zeit hat auch überaus
bedeutsames empirisches Material geliefert und liefert es in unerschöpflicher


Grenzboten II 1915 12
Ariegswirtschaftslehre

gewaltigen eigenartigen Erscheinungen des Wirtschaftslebens, die der gegenwärtige
Weltkrieg veranlaßt hat und noch veranlassen wird, dürfte sich für die Wirt¬
schaftswissenschaft insofern ein neues Forschungsgebiet eröffnen, als ihre Träger
angeregt werden, nicht nur dem Krieg und den mit ihm zusammenhängenden
Erscheinungen größere Aufmerksamkeit zu widmen, sondern auch markante Gruppen
von Fragen schärfer zu präzisteren und deren inneren Zusammenhang aufzuzeigen.

Auf die Notwendigkeit einer solchen systematischen Untersuchung des
gesamten spezifischen Komplexes von Erscheinungen und Tatsachen, die der
Krieg hervorruft, hat ganz kurz vor dem Ausbruch des gegenwärtigen Welt¬
krieges der österreichische Nationalökonom Otto Neurath hingewiesen, der im
Jahre 1913 in der Tübinger Zeitschrift sür die gesamte Staatswissenschaft über
„Probleme der Kriegswirtschaftslehre" und im Weltwirtschaftlichen Archiv über
„Die Kriegswirtschastslehre als Sonderdisziplin" Aufsätze veröffentlichte. Neurath
versteht unter dem Begriff Kriegswirtschastslehre die systematische Erörterung
der Vor- und Nachteile des Krieges. Diese Begriffsbestimmung dürfte indessen
erheblich zu eng sein. Es ist von vornherein klar, daß die Kriegswirtschafts-
lehre sich nicht erschöpfen kann in eine» wirtschaftlichen Schlußbilanz der Aktiva
und Passiva des Kriegserfolges, das heißt in einer Betrachtung des wirtschaftlich
geschäftlichen Erfolges und Mißerfolges, den das Kriegsunternehmen für
die beteiligten kriegführenden Völker hat. Im Hinblick auf ihre spezifische
Aufgabe, den gesamten Komplex von Erscheinungen, Tatsachen und Kausal¬
zusammenhängen, wie sie durch den Krieg hervorgebracht werden, systematisch
zu untersuchen, müßte sie eine besondere Nationalökonomie des Krieges werden,
der als Forschungsgebiet die Gesamtheit der mit dem Kriege zusammenhängenden
wirtschaftlichen Tatbestände zufiele. Geht man so daran, die Kriegswirtschasts¬
lehre in dem Sinne zu betreiben, daß höheren Ansprüchen in bezug auf
systematische und theoretische Durchdringung genügt wird, dürfte sich allerdings
bald herausstellen, daß das Untersuchungsgebiet begrifflich nur sehr roh ab¬
zugrenzen ist. Manches, was bei schärferer Analyse zu eliminieren wäre, wird
vorläufig einbezogen werden; auch wird der Versuch, ein System zu schaffen,
von vornherein mit erheblichen Mängeln behaftet sein. Immerhin kann man
ganz allgemein sagen, daß die Kriegswirtschastslehre als eine spezielle National¬
ökonomie des Krieges in der nämlichen Weise aufgebaut werden müßte wie
die Wirtschaftswissenschaft überhaupt: zerfallend in eine theoretische und eine
praktische Kriegswirtschastslehre würde sie sich als eine Gesamtlehre von den
eigenartigen wirtschaftlichen Zuständen und Erscheinungen darstellen, die der
Krieg hervorbringt, von den Vorbereitungen auf den Krieg bis zu den nachher
verbleibenden wirtschaftlichen Folgewirkungen.

Die augenblickliche Situation ist für die Entfaltung der neuen wissenschaft¬
lichen Disziplin überaus günstig. Nicht nur ist der Sinn für allgemeinere
theoretische Zusammenfassungen gewachsen, gerade unsere Zeit hat auch überaus
bedeutsames empirisches Material geliefert und liefert es in unerschöpflicher


Grenzboten II 1915 12
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[0189] Ariegswirtschaftslehre gewaltigen eigenartigen Erscheinungen des Wirtschaftslebens, die der gegenwärtige Weltkrieg veranlaßt hat und noch veranlassen wird, dürfte sich für die Wirt¬ schaftswissenschaft insofern ein neues Forschungsgebiet eröffnen, als ihre Träger angeregt werden, nicht nur dem Krieg und den mit ihm zusammenhängenden Erscheinungen größere Aufmerksamkeit zu widmen, sondern auch markante Gruppen von Fragen schärfer zu präzisteren und deren inneren Zusammenhang aufzuzeigen. Auf die Notwendigkeit einer solchen systematischen Untersuchung des gesamten spezifischen Komplexes von Erscheinungen und Tatsachen, die der Krieg hervorruft, hat ganz kurz vor dem Ausbruch des gegenwärtigen Welt¬ krieges der österreichische Nationalökonom Otto Neurath hingewiesen, der im Jahre 1913 in der Tübinger Zeitschrift sür die gesamte Staatswissenschaft über „Probleme der Kriegswirtschaftslehre" und im Weltwirtschaftlichen Archiv über „Die Kriegswirtschastslehre als Sonderdisziplin" Aufsätze veröffentlichte. Neurath versteht unter dem Begriff Kriegswirtschastslehre die systematische Erörterung der Vor- und Nachteile des Krieges. Diese Begriffsbestimmung dürfte indessen erheblich zu eng sein. Es ist von vornherein klar, daß die Kriegswirtschafts- lehre sich nicht erschöpfen kann in eine» wirtschaftlichen Schlußbilanz der Aktiva und Passiva des Kriegserfolges, das heißt in einer Betrachtung des wirtschaftlich geschäftlichen Erfolges und Mißerfolges, den das Kriegsunternehmen für die beteiligten kriegführenden Völker hat. Im Hinblick auf ihre spezifische Aufgabe, den gesamten Komplex von Erscheinungen, Tatsachen und Kausal¬ zusammenhängen, wie sie durch den Krieg hervorgebracht werden, systematisch zu untersuchen, müßte sie eine besondere Nationalökonomie des Krieges werden, der als Forschungsgebiet die Gesamtheit der mit dem Kriege zusammenhängenden wirtschaftlichen Tatbestände zufiele. Geht man so daran, die Kriegswirtschasts¬ lehre in dem Sinne zu betreiben, daß höheren Ansprüchen in bezug auf systematische und theoretische Durchdringung genügt wird, dürfte sich allerdings bald herausstellen, daß das Untersuchungsgebiet begrifflich nur sehr roh ab¬ zugrenzen ist. Manches, was bei schärferer Analyse zu eliminieren wäre, wird vorläufig einbezogen werden; auch wird der Versuch, ein System zu schaffen, von vornherein mit erheblichen Mängeln behaftet sein. Immerhin kann man ganz allgemein sagen, daß die Kriegswirtschastslehre als eine spezielle National¬ ökonomie des Krieges in der nämlichen Weise aufgebaut werden müßte wie die Wirtschaftswissenschaft überhaupt: zerfallend in eine theoretische und eine praktische Kriegswirtschastslehre würde sie sich als eine Gesamtlehre von den eigenartigen wirtschaftlichen Zuständen und Erscheinungen darstellen, die der Krieg hervorbringt, von den Vorbereitungen auf den Krieg bis zu den nachher verbleibenden wirtschaftlichen Folgewirkungen. Die augenblickliche Situation ist für die Entfaltung der neuen wissenschaft¬ lichen Disziplin überaus günstig. Nicht nur ist der Sinn für allgemeinere theoretische Zusammenfassungen gewachsen, gerade unsere Zeit hat auch überaus bedeutsames empirisches Material geliefert und liefert es in unerschöpflicher Grenzboten II 1915 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/189>, abgerufen am 22.07.2024.