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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Nachfolge Bismarcks

Opposition gegen die Politik des "neuen Kurses" nur allzu begreiflich, weil
"allzu menschlich". Wer daher seine Äußerungen aus jener Zeit mit unbe¬
fangenem Auge liest, wird sie für einseitiger halten müssen, als die früheren.
Daß Bismarck in der Politik die Kunst des Möglichen sah und darum schon
frühzeitig dem Prinzip der Prinziplosigkeit huldigte, indem er an Grundsätzen
nur festzuhalten wünschte, "solange sie nicht auf die Probe gestellt werden" --
schon diese Tatsache allein kennzeichnet hinlänglich die Fährnisse einer gedanken¬
losen Nachfolge des großen Kanzlers.

Gegen eine solche hat sich denn auch niemand mehr als Bismarck selbst
gewandt. Denn er wußte, daß es niemals zwei ganz gleiche Lagen gibt, und
daß "nichts in der Welt dauernd ist", daß man sich daher nicht einmal selbst
kopieren sollte. Jeder, der die "Gedanken und Erinnerungen" zu lesen versteht,
weiß, wie sehr er bei dem fortwährenden Wechsel der Situationen und Fragen,
mit denen er sich zu beschäftigen hatte, von der Vergänglichkeit politischer
Maxime überzeugt war und wie weit er davon entfernt blieb, mit seinen
Memoiren ein Dogma für Deutschlands künftige Politik festlegen zu wollen.
Vielmehr war seine damit befolgte Absicht keine andere, als durch das "Ver¬
ständnis der Vergangenheit" die Wege für die Zukunftspolitik erkennen zu
lehren. Denn er sah in der Geschichte in ihrer Totalität ein Mittel zur Be¬
kämpfung einer allzu doktrinären Betrachtung der Politik, die an Schlagwörter
gebunden ist. Über diese aber war er alle Zeit erhaben und darum warnte
er immer davor, seine Worte zu verallgemeinern und als Evangelium oder
nur als seine feststehende Meinung auf den Schild zu heben oder gar aus
gelegentlichen Äußerungen Schlüsse auf eine vermutetete Gesamtanschauung zu
ziehen. Das Erscheinen von Buschs Tagebuchblättern veranlaßte ihn gegen
jede derartige tendenziöse Zitatenausbeute einzuschreiten und seitdem hat er
sich offenbar auch mit dem biographischen Problem erst intensiver befaßt.

Aus der Fülle derartiger Gedanken mag eine Anzahl charakteristischer
Beispiele aus seinen Briefen und Gesprächen zur Illustration des Gesagten
dienen. Denn sie haben zum Teil die Schlagkraft von Aphorismen und
sind auch darum interessant, weil sie den Willensheros als bewußten Geistes-
menschen erscheinen lassen.

Schon die Braut machte Bismarck des öfteren aufmerksam, daß die
augenblickliche Stimmung, die einem Worte die charakteristische Färbung und
damit die beste Prägung der Wahrheit gibt, für die Auslegung entscheidend
sein muß, und daß dabei vor allem die Grundmelodie zu beachten ist, die
"nicht immer deutlich durch die Variationen der Oberfläche klingt"; daß das
geschriebene Wort dagegen etwas Schwerfälliges und Unzerstörbares an sich hat.
weil ihm der erklärende Ton fehlt, und daß es darum wieder leicht zu viel
sagt, weiter gedeutet oder mißverstanden werden kann,- daß ihm endlich nicht
anzusehen ist, "ob die Tinte, als sie naß war, ein neckendes Auge oder die
Falten bekümmerten Ernstes gespiegelt hat". Und an Leopold von Gerlach


Die Nachfolge Bismarcks

Opposition gegen die Politik des „neuen Kurses" nur allzu begreiflich, weil
„allzu menschlich". Wer daher seine Äußerungen aus jener Zeit mit unbe¬
fangenem Auge liest, wird sie für einseitiger halten müssen, als die früheren.
Daß Bismarck in der Politik die Kunst des Möglichen sah und darum schon
frühzeitig dem Prinzip der Prinziplosigkeit huldigte, indem er an Grundsätzen
nur festzuhalten wünschte, „solange sie nicht auf die Probe gestellt werden" —
schon diese Tatsache allein kennzeichnet hinlänglich die Fährnisse einer gedanken¬
losen Nachfolge des großen Kanzlers.

Gegen eine solche hat sich denn auch niemand mehr als Bismarck selbst
gewandt. Denn er wußte, daß es niemals zwei ganz gleiche Lagen gibt, und
daß „nichts in der Welt dauernd ist", daß man sich daher nicht einmal selbst
kopieren sollte. Jeder, der die „Gedanken und Erinnerungen" zu lesen versteht,
weiß, wie sehr er bei dem fortwährenden Wechsel der Situationen und Fragen,
mit denen er sich zu beschäftigen hatte, von der Vergänglichkeit politischer
Maxime überzeugt war und wie weit er davon entfernt blieb, mit seinen
Memoiren ein Dogma für Deutschlands künftige Politik festlegen zu wollen.
Vielmehr war seine damit befolgte Absicht keine andere, als durch das „Ver¬
ständnis der Vergangenheit" die Wege für die Zukunftspolitik erkennen zu
lehren. Denn er sah in der Geschichte in ihrer Totalität ein Mittel zur Be¬
kämpfung einer allzu doktrinären Betrachtung der Politik, die an Schlagwörter
gebunden ist. Über diese aber war er alle Zeit erhaben und darum warnte
er immer davor, seine Worte zu verallgemeinern und als Evangelium oder
nur als seine feststehende Meinung auf den Schild zu heben oder gar aus
gelegentlichen Äußerungen Schlüsse auf eine vermutetete Gesamtanschauung zu
ziehen. Das Erscheinen von Buschs Tagebuchblättern veranlaßte ihn gegen
jede derartige tendenziöse Zitatenausbeute einzuschreiten und seitdem hat er
sich offenbar auch mit dem biographischen Problem erst intensiver befaßt.

Aus der Fülle derartiger Gedanken mag eine Anzahl charakteristischer
Beispiele aus seinen Briefen und Gesprächen zur Illustration des Gesagten
dienen. Denn sie haben zum Teil die Schlagkraft von Aphorismen und
sind auch darum interessant, weil sie den Willensheros als bewußten Geistes-
menschen erscheinen lassen.

Schon die Braut machte Bismarck des öfteren aufmerksam, daß die
augenblickliche Stimmung, die einem Worte die charakteristische Färbung und
damit die beste Prägung der Wahrheit gibt, für die Auslegung entscheidend
sein muß, und daß dabei vor allem die Grundmelodie zu beachten ist, die
„nicht immer deutlich durch die Variationen der Oberfläche klingt"; daß das
geschriebene Wort dagegen etwas Schwerfälliges und Unzerstörbares an sich hat.
weil ihm der erklärende Ton fehlt, und daß es darum wieder leicht zu viel
sagt, weiter gedeutet oder mißverstanden werden kann,- daß ihm endlich nicht
anzusehen ist, „ob die Tinte, als sie naß war, ein neckendes Auge oder die
Falten bekümmerten Ernstes gespiegelt hat". Und an Leopold von Gerlach


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[0180] Die Nachfolge Bismarcks Opposition gegen die Politik des „neuen Kurses" nur allzu begreiflich, weil „allzu menschlich". Wer daher seine Äußerungen aus jener Zeit mit unbe¬ fangenem Auge liest, wird sie für einseitiger halten müssen, als die früheren. Daß Bismarck in der Politik die Kunst des Möglichen sah und darum schon frühzeitig dem Prinzip der Prinziplosigkeit huldigte, indem er an Grundsätzen nur festzuhalten wünschte, „solange sie nicht auf die Probe gestellt werden" — schon diese Tatsache allein kennzeichnet hinlänglich die Fährnisse einer gedanken¬ losen Nachfolge des großen Kanzlers. Gegen eine solche hat sich denn auch niemand mehr als Bismarck selbst gewandt. Denn er wußte, daß es niemals zwei ganz gleiche Lagen gibt, und daß „nichts in der Welt dauernd ist", daß man sich daher nicht einmal selbst kopieren sollte. Jeder, der die „Gedanken und Erinnerungen" zu lesen versteht, weiß, wie sehr er bei dem fortwährenden Wechsel der Situationen und Fragen, mit denen er sich zu beschäftigen hatte, von der Vergänglichkeit politischer Maxime überzeugt war und wie weit er davon entfernt blieb, mit seinen Memoiren ein Dogma für Deutschlands künftige Politik festlegen zu wollen. Vielmehr war seine damit befolgte Absicht keine andere, als durch das „Ver¬ ständnis der Vergangenheit" die Wege für die Zukunftspolitik erkennen zu lehren. Denn er sah in der Geschichte in ihrer Totalität ein Mittel zur Be¬ kämpfung einer allzu doktrinären Betrachtung der Politik, die an Schlagwörter gebunden ist. Über diese aber war er alle Zeit erhaben und darum warnte er immer davor, seine Worte zu verallgemeinern und als Evangelium oder nur als seine feststehende Meinung auf den Schild zu heben oder gar aus gelegentlichen Äußerungen Schlüsse auf eine vermutetete Gesamtanschauung zu ziehen. Das Erscheinen von Buschs Tagebuchblättern veranlaßte ihn gegen jede derartige tendenziöse Zitatenausbeute einzuschreiten und seitdem hat er sich offenbar auch mit dem biographischen Problem erst intensiver befaßt. Aus der Fülle derartiger Gedanken mag eine Anzahl charakteristischer Beispiele aus seinen Briefen und Gesprächen zur Illustration des Gesagten dienen. Denn sie haben zum Teil die Schlagkraft von Aphorismen und sind auch darum interessant, weil sie den Willensheros als bewußten Geistes- menschen erscheinen lassen. Schon die Braut machte Bismarck des öfteren aufmerksam, daß die augenblickliche Stimmung, die einem Worte die charakteristische Färbung und damit die beste Prägung der Wahrheit gibt, für die Auslegung entscheidend sein muß, und daß dabei vor allem die Grundmelodie zu beachten ist, die „nicht immer deutlich durch die Variationen der Oberfläche klingt"; daß das geschriebene Wort dagegen etwas Schwerfälliges und Unzerstörbares an sich hat. weil ihm der erklärende Ton fehlt, und daß es darum wieder leicht zu viel sagt, weiter gedeutet oder mißverstanden werden kann,- daß ihm endlich nicht anzusehen ist, „ob die Tinte, als sie naß war, ein neckendes Auge oder die Falten bekümmerten Ernstes gespiegelt hat". Und an Leopold von Gerlach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/180>, abgerufen am 22.07.2024.