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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Napoleons Plan einer Invasion Englands <80Z--5805

ihm den Übergang frei gemacht hätten. So wurde denn beschlossen zu ver¬
suchen, ob man nicht infolge einer geschickten, durch die französische Flotte aus¬
zuführenden Täuschung auf kurze Zeit die Herrschaft über die Meerenge zu
gewinnen vermöchte; eine Verkettung glücklicher Umstände konnte den Plan
gelingen lassen. Dieser lief im einzelnen darauf hinaus, den Hauptteil der
britischen Geschwader durch einen Scheinangriff auf außereuropäische Besitzungen
Englands aus der Nähe des Mutterlandes wegzulocken, dann schnell eine starke
französische Flotte im Kanal zu sammeln und, durch diese gedeckt, die Flachboote
mit den Landungstruppen an Bord hinüberzuführen. Am 2. März gab der
Kaiser die bezüglichen Befehle. Ihnen zufolge sollte der, wie oben bemerkt, in
Brest kommandierende Ganteaume sich beim ersten Äquinoktialstürme, der die
Engländer die gefährliche Kanalküste zu meiden zwingen würde, der feindlichen
Blockade entwinden, nach Ferrol segeln, die vor dem Hafen liegenden englischen
Schiffe vertreiben und, verstärkt durch alle dort stationierten französischen und
spanischen Fahrzeuge, nach Westindien segeln. Gleichzeitig wurde das Boulogner
Geschwader unter Villeneuve beordert, nach Cadiz aufzubrechen, die daselbst
ankernden Schiffe an sich zu ziehen und dann ebenfalls seinen Kurs nach dem
Antillenmeere zu nehmen. Von dort sollte dann die gesamte Streitmacht so
schnell wie möglich nach Boulogne zurückkehren, um die Überfahrt der Landungs-
flotille zu decken. Man hoffte, der Admiral Nelson würde mit einem bedeutenden
Teile der britischen Schiffe der verbündeten Flotte folgen, diese sich ihm aber
in dem Labyrinthe des westindischen Jnselmeeres entziehen und vor ihm nach
Europa heimkehren können.

Die Ausführung des etwas komplizierten Operationsplanes ließ sich anfangs
günstig an: es glückte Villeneuve, die Wachsamkeit Nelsons, der bei Barcelona
kreuzte, zu täuschen, am 30. März aus Toulon zu entkommen, sich in Cadiz
mit Gravina zu vereinigen und das gesamte Geschwader nach Martinique zu
führen, der Stätte, wo er mit Ganteaume zusammentreffen sollte. Doch am
4. Juni bekam er die Nachricht, daß dieser nicht habe auslaufen können; das
Äquinoktium war -- seit Menschengedenken zum ersten Male -- ohne die
üblichen, die ganze Natur revolutionierenden Erscheinungen vorübergegangen.
Nelson aber hatte mittlerweile erkannt, wohin die Fahrt Villeneuves gegangen
war, und ebenfalls die Antillen aufgesucht, infolge dessen trat der Franzose
am 10. Juni die Heimreise an. Er gedachte, den Vorsprung an Zeit, der ihm
blieb, dazu zu verwenden, Ferrol, Rochefort und Brest zu deblockieren und sich mit
den in diesen Häfen stationierten Geschwadern zu vereinigen; dann vermochte er,
mit der enormen Zahl von 56 Schiffen im Kanal aufzutreten. Blieb die Heimkehr
Villeneuves verborgen, konnte der Plan in der Tat glücken, denn England hatte im
Augenblick schwerlich eine Seemacht zur Stelle, die stark genug war, der französisch¬
spanischen Flotte mit Erfolg zu begegnen. Aber Nelson, der bald von dem
Verschwinden seines Feindes hörte und dessen Absicht, Napoleon die Überfahrt
nach England zu ermöglichen, ahnte, schickte seiner nun ebenfalls die europäischen


Grenzboten II 1916 10
Napoleons Plan einer Invasion Englands <80Z—5805

ihm den Übergang frei gemacht hätten. So wurde denn beschlossen zu ver¬
suchen, ob man nicht infolge einer geschickten, durch die französische Flotte aus¬
zuführenden Täuschung auf kurze Zeit die Herrschaft über die Meerenge zu
gewinnen vermöchte; eine Verkettung glücklicher Umstände konnte den Plan
gelingen lassen. Dieser lief im einzelnen darauf hinaus, den Hauptteil der
britischen Geschwader durch einen Scheinangriff auf außereuropäische Besitzungen
Englands aus der Nähe des Mutterlandes wegzulocken, dann schnell eine starke
französische Flotte im Kanal zu sammeln und, durch diese gedeckt, die Flachboote
mit den Landungstruppen an Bord hinüberzuführen. Am 2. März gab der
Kaiser die bezüglichen Befehle. Ihnen zufolge sollte der, wie oben bemerkt, in
Brest kommandierende Ganteaume sich beim ersten Äquinoktialstürme, der die
Engländer die gefährliche Kanalküste zu meiden zwingen würde, der feindlichen
Blockade entwinden, nach Ferrol segeln, die vor dem Hafen liegenden englischen
Schiffe vertreiben und, verstärkt durch alle dort stationierten französischen und
spanischen Fahrzeuge, nach Westindien segeln. Gleichzeitig wurde das Boulogner
Geschwader unter Villeneuve beordert, nach Cadiz aufzubrechen, die daselbst
ankernden Schiffe an sich zu ziehen und dann ebenfalls seinen Kurs nach dem
Antillenmeere zu nehmen. Von dort sollte dann die gesamte Streitmacht so
schnell wie möglich nach Boulogne zurückkehren, um die Überfahrt der Landungs-
flotille zu decken. Man hoffte, der Admiral Nelson würde mit einem bedeutenden
Teile der britischen Schiffe der verbündeten Flotte folgen, diese sich ihm aber
in dem Labyrinthe des westindischen Jnselmeeres entziehen und vor ihm nach
Europa heimkehren können.

Die Ausführung des etwas komplizierten Operationsplanes ließ sich anfangs
günstig an: es glückte Villeneuve, die Wachsamkeit Nelsons, der bei Barcelona
kreuzte, zu täuschen, am 30. März aus Toulon zu entkommen, sich in Cadiz
mit Gravina zu vereinigen und das gesamte Geschwader nach Martinique zu
führen, der Stätte, wo er mit Ganteaume zusammentreffen sollte. Doch am
4. Juni bekam er die Nachricht, daß dieser nicht habe auslaufen können; das
Äquinoktium war — seit Menschengedenken zum ersten Male — ohne die
üblichen, die ganze Natur revolutionierenden Erscheinungen vorübergegangen.
Nelson aber hatte mittlerweile erkannt, wohin die Fahrt Villeneuves gegangen
war, und ebenfalls die Antillen aufgesucht, infolge dessen trat der Franzose
am 10. Juni die Heimreise an. Er gedachte, den Vorsprung an Zeit, der ihm
blieb, dazu zu verwenden, Ferrol, Rochefort und Brest zu deblockieren und sich mit
den in diesen Häfen stationierten Geschwadern zu vereinigen; dann vermochte er,
mit der enormen Zahl von 56 Schiffen im Kanal aufzutreten. Blieb die Heimkehr
Villeneuves verborgen, konnte der Plan in der Tat glücken, denn England hatte im
Augenblick schwerlich eine Seemacht zur Stelle, die stark genug war, der französisch¬
spanischen Flotte mit Erfolg zu begegnen. Aber Nelson, der bald von dem
Verschwinden seines Feindes hörte und dessen Absicht, Napoleon die Überfahrt
nach England zu ermöglichen, ahnte, schickte seiner nun ebenfalls die europäischen


Grenzboten II 1916 10
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[0157] Napoleons Plan einer Invasion Englands <80Z—5805 ihm den Übergang frei gemacht hätten. So wurde denn beschlossen zu ver¬ suchen, ob man nicht infolge einer geschickten, durch die französische Flotte aus¬ zuführenden Täuschung auf kurze Zeit die Herrschaft über die Meerenge zu gewinnen vermöchte; eine Verkettung glücklicher Umstände konnte den Plan gelingen lassen. Dieser lief im einzelnen darauf hinaus, den Hauptteil der britischen Geschwader durch einen Scheinangriff auf außereuropäische Besitzungen Englands aus der Nähe des Mutterlandes wegzulocken, dann schnell eine starke französische Flotte im Kanal zu sammeln und, durch diese gedeckt, die Flachboote mit den Landungstruppen an Bord hinüberzuführen. Am 2. März gab der Kaiser die bezüglichen Befehle. Ihnen zufolge sollte der, wie oben bemerkt, in Brest kommandierende Ganteaume sich beim ersten Äquinoktialstürme, der die Engländer die gefährliche Kanalküste zu meiden zwingen würde, der feindlichen Blockade entwinden, nach Ferrol segeln, die vor dem Hafen liegenden englischen Schiffe vertreiben und, verstärkt durch alle dort stationierten französischen und spanischen Fahrzeuge, nach Westindien segeln. Gleichzeitig wurde das Boulogner Geschwader unter Villeneuve beordert, nach Cadiz aufzubrechen, die daselbst ankernden Schiffe an sich zu ziehen und dann ebenfalls seinen Kurs nach dem Antillenmeere zu nehmen. Von dort sollte dann die gesamte Streitmacht so schnell wie möglich nach Boulogne zurückkehren, um die Überfahrt der Landungs- flotille zu decken. Man hoffte, der Admiral Nelson würde mit einem bedeutenden Teile der britischen Schiffe der verbündeten Flotte folgen, diese sich ihm aber in dem Labyrinthe des westindischen Jnselmeeres entziehen und vor ihm nach Europa heimkehren können. Die Ausführung des etwas komplizierten Operationsplanes ließ sich anfangs günstig an: es glückte Villeneuve, die Wachsamkeit Nelsons, der bei Barcelona kreuzte, zu täuschen, am 30. März aus Toulon zu entkommen, sich in Cadiz mit Gravina zu vereinigen und das gesamte Geschwader nach Martinique zu führen, der Stätte, wo er mit Ganteaume zusammentreffen sollte. Doch am 4. Juni bekam er die Nachricht, daß dieser nicht habe auslaufen können; das Äquinoktium war — seit Menschengedenken zum ersten Male — ohne die üblichen, die ganze Natur revolutionierenden Erscheinungen vorübergegangen. Nelson aber hatte mittlerweile erkannt, wohin die Fahrt Villeneuves gegangen war, und ebenfalls die Antillen aufgesucht, infolge dessen trat der Franzose am 10. Juni die Heimreise an. Er gedachte, den Vorsprung an Zeit, der ihm blieb, dazu zu verwenden, Ferrol, Rochefort und Brest zu deblockieren und sich mit den in diesen Häfen stationierten Geschwadern zu vereinigen; dann vermochte er, mit der enormen Zahl von 56 Schiffen im Kanal aufzutreten. Blieb die Heimkehr Villeneuves verborgen, konnte der Plan in der Tat glücken, denn England hatte im Augenblick schwerlich eine Seemacht zur Stelle, die stark genug war, der französisch¬ spanischen Flotte mit Erfolg zu begegnen. Aber Nelson, der bald von dem Verschwinden seines Feindes hörte und dessen Absicht, Napoleon die Überfahrt nach England zu ermöglichen, ahnte, schickte seiner nun ebenfalls die europäischen Grenzboten II 1916 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/157>, abgerufen am 22.07.2024.