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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophischc Probleme

Was unterscheidet Götter von Menschen?
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und Wir versinken.

Damit erhebt sich endlich noch ein letztes Problem, die Frage nach dem
Anteil des Schicksals oder der Freiheit in der Geschichte. Auch darauf gibt
es keine wissenschaftliche Antwort. Wo hört das Schicksal auf? Wo fängt die
Schuld des einzelnen oder die Schuld eines Volkes an? Alle historische Tragödie
beruht auf diesem Gegensatz; und da ist es doch merkwürdig, daß Schiller, den
wir den Dichter der Freiheit nennen, die größere Hälfte der Schuld aller seiner
Helden den unglückseligen Gestirnen zugewälzt hat. Allein er kannte eben
den richtigen Begriff der Freiheit, der kein Sein, sondern ein Imperativ ist: sei
frei und handle so, als ob du frei wärst! Aber fahren wir fort: dein Schicksal
nimm hin. als ob es von einer über dir stehenden Macht bestimmt würde!
So vereinigt sich Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl, menschliches Tun und
Ergebung in einen göttlichen Willen, Sittlichkeit und Religion. In diesem
Sinn ist die Geschichte die gewaltige Theodizee, in der sich die Gottheit offen¬
bart und rechtfertigt zugleich, und ist das Weltgericht, vor dem der Erfolg
entscheidet und sich das Gute, so oft es auch im einzelnen Fall unterliegen
mag. doch immer als das Tüchtigere und Stärkere und Siegreiche erweist und
durchsetzt,- denn das Gute sammelt und einigt, das Böse als das Egoistische
zerstört und löst auf: wir sehen es jetzt schon an den Engländern und
Franzosen und werden es hoffentlich bald noch deutlicher sehen. Der einzelne
aber kann sich der Geschichte gegenüber dabei beruhigen: fromme Ergebung in
das, was ihn trifft, und kühne Tat. die zum Siege treibt und führt, und die
Vereinigung von diesen beiden, der ehrfurchtsvolle Glaube an etwas, was im
Walten der Geschichte über uns ist, und das an diesem Glauben sich stärkende
Vertrauen auf uns selbst und die eigene Kraft und den eigenen Anteil am
geschichtlichen Werden -- das ist das. was unserem Volk, wenn es davon erfüllt
bleibt, den Sieg verbürgt, und das, ich sage nicht: das ist, aber das soll uns
der Sinn des großen Stückes Geschichte sein, das wir heute erleben!




Geschichtsphilosophischc Probleme

Was unterscheidet Götter von Menschen?
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und Wir versinken.

Damit erhebt sich endlich noch ein letztes Problem, die Frage nach dem
Anteil des Schicksals oder der Freiheit in der Geschichte. Auch darauf gibt
es keine wissenschaftliche Antwort. Wo hört das Schicksal auf? Wo fängt die
Schuld des einzelnen oder die Schuld eines Volkes an? Alle historische Tragödie
beruht auf diesem Gegensatz; und da ist es doch merkwürdig, daß Schiller, den
wir den Dichter der Freiheit nennen, die größere Hälfte der Schuld aller seiner
Helden den unglückseligen Gestirnen zugewälzt hat. Allein er kannte eben
den richtigen Begriff der Freiheit, der kein Sein, sondern ein Imperativ ist: sei
frei und handle so, als ob du frei wärst! Aber fahren wir fort: dein Schicksal
nimm hin. als ob es von einer über dir stehenden Macht bestimmt würde!
So vereinigt sich Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl, menschliches Tun und
Ergebung in einen göttlichen Willen, Sittlichkeit und Religion. In diesem
Sinn ist die Geschichte die gewaltige Theodizee, in der sich die Gottheit offen¬
bart und rechtfertigt zugleich, und ist das Weltgericht, vor dem der Erfolg
entscheidet und sich das Gute, so oft es auch im einzelnen Fall unterliegen
mag. doch immer als das Tüchtigere und Stärkere und Siegreiche erweist und
durchsetzt,- denn das Gute sammelt und einigt, das Böse als das Egoistische
zerstört und löst auf: wir sehen es jetzt schon an den Engländern und
Franzosen und werden es hoffentlich bald noch deutlicher sehen. Der einzelne
aber kann sich der Geschichte gegenüber dabei beruhigen: fromme Ergebung in
das, was ihn trifft, und kühne Tat. die zum Siege treibt und führt, und die
Vereinigung von diesen beiden, der ehrfurchtsvolle Glaube an etwas, was im
Walten der Geschichte über uns ist, und das an diesem Glauben sich stärkende
Vertrauen auf uns selbst und die eigene Kraft und den eigenen Anteil am
geschichtlichen Werden — das ist das. was unserem Volk, wenn es davon erfüllt
bleibt, den Sieg verbürgt, und das, ich sage nicht: das ist, aber das soll uns
der Sinn des großen Stückes Geschichte sein, das wir heute erleben!




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[0409] Geschichtsphilosophischc Probleme Was unterscheidet Götter von Menschen? Daß viele Wellen Vor jenen wandeln, Ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle, Verschlingt die Welle, Und Wir versinken. Damit erhebt sich endlich noch ein letztes Problem, die Frage nach dem Anteil des Schicksals oder der Freiheit in der Geschichte. Auch darauf gibt es keine wissenschaftliche Antwort. Wo hört das Schicksal auf? Wo fängt die Schuld des einzelnen oder die Schuld eines Volkes an? Alle historische Tragödie beruht auf diesem Gegensatz; und da ist es doch merkwürdig, daß Schiller, den wir den Dichter der Freiheit nennen, die größere Hälfte der Schuld aller seiner Helden den unglückseligen Gestirnen zugewälzt hat. Allein er kannte eben den richtigen Begriff der Freiheit, der kein Sein, sondern ein Imperativ ist: sei frei und handle so, als ob du frei wärst! Aber fahren wir fort: dein Schicksal nimm hin. als ob es von einer über dir stehenden Macht bestimmt würde! So vereinigt sich Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl, menschliches Tun und Ergebung in einen göttlichen Willen, Sittlichkeit und Religion. In diesem Sinn ist die Geschichte die gewaltige Theodizee, in der sich die Gottheit offen¬ bart und rechtfertigt zugleich, und ist das Weltgericht, vor dem der Erfolg entscheidet und sich das Gute, so oft es auch im einzelnen Fall unterliegen mag. doch immer als das Tüchtigere und Stärkere und Siegreiche erweist und durchsetzt,- denn das Gute sammelt und einigt, das Böse als das Egoistische zerstört und löst auf: wir sehen es jetzt schon an den Engländern und Franzosen und werden es hoffentlich bald noch deutlicher sehen. Der einzelne aber kann sich der Geschichte gegenüber dabei beruhigen: fromme Ergebung in das, was ihn trifft, und kühne Tat. die zum Siege treibt und führt, und die Vereinigung von diesen beiden, der ehrfurchtsvolle Glaube an etwas, was im Walten der Geschichte über uns ist, und das an diesem Glauben sich stärkende Vertrauen auf uns selbst und die eigene Kraft und den eigenen Anteil am geschichtlichen Werden — das ist das. was unserem Volk, wenn es davon erfüllt bleibt, den Sieg verbürgt, und das, ich sage nicht: das ist, aber das soll uns der Sinn des großen Stückes Geschichte sein, das wir heute erleben!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/409>, abgerufen am 19.10.2024.