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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die Begründung des Königreichs Belgien

Kriegsgefangenen nannte man "die infolge der zur Herstellung des Traktats
vom 15. November angewandten Zwangsmaßregeln Festgenommenen", aber
die Gefallenen waren wirklich tot. Am 23. Dezember kapitulierte die vollständig
zusammengeschossene Zitadelle, nur die Scheldeforts Lillo und Liefkenshoek
blieben in niederländischen Besitze.

Jahrelang blieb es nun bei dem vorläufigen Zustande, einer Art Waffen¬
stillstand. Belgien hatte ganz Luxemburg mit Ausnahme der Bundesfestung
im Besitze und vollständig mit seinem Staatswesen vereinigt. Die Niederlande
hielten die Scheideforts besetzt. Erst am 22. Januar 1839 ließen sich die
Niederlande zur Annahme der 24 Artikel herbei. Für Belgien war damit
das schmerzliche Opfer verbunden, daß es gegen die zwei Scheldeforts das
nunmehrige Großherzogtum Luxemburg räumen mußte und seine gegenwärtigen
Grenzen erhielt.

Die Auseinandersetzung mit den Niederlanden hatte aber doch gezeigt,
daß der neue Staat völlig außerstande war, sich auch nur gegenüber seinem
kleineren nördlichen Nachbar aus eigener Kraft zu behaupten. Wie England
und Frankreich den neuen Staat begründet, und wie sie ihm seine Dynastie
gegeben hatten, so sicherten sie ihm auch seine Unabhängigkeit. Während es aber
bei den beiden ersten Vorgängen wesentlich England war mit Frankreich im
Schlepptau, ließ England nunmehr, da es sich um militärische Opfer an Gut
und Blut handelte, edelmütig Frankreich vorangehen. Wenn der Staat Macht
ist unter den Mächten der Erde mit der Aufgabe, sich wenigstens gegen gleich
mächtigen Staaten selbständig zu behaupten, so war die neue Schöpfung der
Westmächte eine Parodie auf den Staatsbegriff.

In richtiger Erkenntnis dieser Tatsache hatten die Großmächte durch Vertrag
vom 15. November 1831 untereinander und mit Belgien, dem am
19. April 1839 auch die Niederlande beitraten, das neue Königreich für
dauernd neutral erklärt: "l.a LelZique kormers, un t^tat inäeoenäant et
peipetuellemsnt neutre. Like 8era thun ä'ot^erver cette meine neutralite
envers tous !e8 autre8 IZtats." Die Neutralität, deren Begriff im wesentlichen
erst seit dem Wiener Kongresse für die Schweiz und einige kleinere Gebietsteile
feststand, wurde damit auf einen zweiten europäischen Staat in seiner Gesamtheit
übertragen. In weiterer Folge dieser Neutralität wurden durch die Verträge
vom 15. November und 14. Dezember 1831 auch die belgischen Festungen be¬
stimmt, die geschleift werden sollten. Einst auf Grund der französischen Kriegskosten¬
entschädigung angelegt als Schutz gegen Frankreich, also doch auch im Interesse
Deutschlands, fielen sie schon bald wieder der Vernichtung anheim. Dem
französischen Interesse entsprach es natürlich durchaus, wenn die Festungen
jenseit seiner Grenze verschwanden. Den anderen Mächten wurde die Schleifung
einleuchtend gemacht durch die Tatsache, daß Belgien sie doch nicht verteidigen
könne, und sie deshalb ohne weiteres Frankreich anheimfallen würden. Den
Schutz des belgischen Gebietes sollte einzig die belgische Neutralität gewähren.


Die Begründung des Königreichs Belgien

Kriegsgefangenen nannte man „die infolge der zur Herstellung des Traktats
vom 15. November angewandten Zwangsmaßregeln Festgenommenen", aber
die Gefallenen waren wirklich tot. Am 23. Dezember kapitulierte die vollständig
zusammengeschossene Zitadelle, nur die Scheldeforts Lillo und Liefkenshoek
blieben in niederländischen Besitze.

Jahrelang blieb es nun bei dem vorläufigen Zustande, einer Art Waffen¬
stillstand. Belgien hatte ganz Luxemburg mit Ausnahme der Bundesfestung
im Besitze und vollständig mit seinem Staatswesen vereinigt. Die Niederlande
hielten die Scheideforts besetzt. Erst am 22. Januar 1839 ließen sich die
Niederlande zur Annahme der 24 Artikel herbei. Für Belgien war damit
das schmerzliche Opfer verbunden, daß es gegen die zwei Scheldeforts das
nunmehrige Großherzogtum Luxemburg räumen mußte und seine gegenwärtigen
Grenzen erhielt.

Die Auseinandersetzung mit den Niederlanden hatte aber doch gezeigt,
daß der neue Staat völlig außerstande war, sich auch nur gegenüber seinem
kleineren nördlichen Nachbar aus eigener Kraft zu behaupten. Wie England
und Frankreich den neuen Staat begründet, und wie sie ihm seine Dynastie
gegeben hatten, so sicherten sie ihm auch seine Unabhängigkeit. Während es aber
bei den beiden ersten Vorgängen wesentlich England war mit Frankreich im
Schlepptau, ließ England nunmehr, da es sich um militärische Opfer an Gut
und Blut handelte, edelmütig Frankreich vorangehen. Wenn der Staat Macht
ist unter den Mächten der Erde mit der Aufgabe, sich wenigstens gegen gleich
mächtigen Staaten selbständig zu behaupten, so war die neue Schöpfung der
Westmächte eine Parodie auf den Staatsbegriff.

In richtiger Erkenntnis dieser Tatsache hatten die Großmächte durch Vertrag
vom 15. November 1831 untereinander und mit Belgien, dem am
19. April 1839 auch die Niederlande beitraten, das neue Königreich für
dauernd neutral erklärt: „l.a LelZique kormers, un t^tat inäeoenäant et
peipetuellemsnt neutre. Like 8era thun ä'ot^erver cette meine neutralite
envers tous !e8 autre8 IZtats." Die Neutralität, deren Begriff im wesentlichen
erst seit dem Wiener Kongresse für die Schweiz und einige kleinere Gebietsteile
feststand, wurde damit auf einen zweiten europäischen Staat in seiner Gesamtheit
übertragen. In weiterer Folge dieser Neutralität wurden durch die Verträge
vom 15. November und 14. Dezember 1831 auch die belgischen Festungen be¬
stimmt, die geschleift werden sollten. Einst auf Grund der französischen Kriegskosten¬
entschädigung angelegt als Schutz gegen Frankreich, also doch auch im Interesse
Deutschlands, fielen sie schon bald wieder der Vernichtung anheim. Dem
französischen Interesse entsprach es natürlich durchaus, wenn die Festungen
jenseit seiner Grenze verschwanden. Den anderen Mächten wurde die Schleifung
einleuchtend gemacht durch die Tatsache, daß Belgien sie doch nicht verteidigen
könne, und sie deshalb ohne weiteres Frankreich anheimfallen würden. Den
Schutz des belgischen Gebietes sollte einzig die belgische Neutralität gewähren.


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[0376] Die Begründung des Königreichs Belgien Kriegsgefangenen nannte man „die infolge der zur Herstellung des Traktats vom 15. November angewandten Zwangsmaßregeln Festgenommenen", aber die Gefallenen waren wirklich tot. Am 23. Dezember kapitulierte die vollständig zusammengeschossene Zitadelle, nur die Scheldeforts Lillo und Liefkenshoek blieben in niederländischen Besitze. Jahrelang blieb es nun bei dem vorläufigen Zustande, einer Art Waffen¬ stillstand. Belgien hatte ganz Luxemburg mit Ausnahme der Bundesfestung im Besitze und vollständig mit seinem Staatswesen vereinigt. Die Niederlande hielten die Scheideforts besetzt. Erst am 22. Januar 1839 ließen sich die Niederlande zur Annahme der 24 Artikel herbei. Für Belgien war damit das schmerzliche Opfer verbunden, daß es gegen die zwei Scheldeforts das nunmehrige Großherzogtum Luxemburg räumen mußte und seine gegenwärtigen Grenzen erhielt. Die Auseinandersetzung mit den Niederlanden hatte aber doch gezeigt, daß der neue Staat völlig außerstande war, sich auch nur gegenüber seinem kleineren nördlichen Nachbar aus eigener Kraft zu behaupten. Wie England und Frankreich den neuen Staat begründet, und wie sie ihm seine Dynastie gegeben hatten, so sicherten sie ihm auch seine Unabhängigkeit. Während es aber bei den beiden ersten Vorgängen wesentlich England war mit Frankreich im Schlepptau, ließ England nunmehr, da es sich um militärische Opfer an Gut und Blut handelte, edelmütig Frankreich vorangehen. Wenn der Staat Macht ist unter den Mächten der Erde mit der Aufgabe, sich wenigstens gegen gleich mächtigen Staaten selbständig zu behaupten, so war die neue Schöpfung der Westmächte eine Parodie auf den Staatsbegriff. In richtiger Erkenntnis dieser Tatsache hatten die Großmächte durch Vertrag vom 15. November 1831 untereinander und mit Belgien, dem am 19. April 1839 auch die Niederlande beitraten, das neue Königreich für dauernd neutral erklärt: „l.a LelZique kormers, un t^tat inäeoenäant et peipetuellemsnt neutre. Like 8era thun ä'ot^erver cette meine neutralite envers tous !e8 autre8 IZtats." Die Neutralität, deren Begriff im wesentlichen erst seit dem Wiener Kongresse für die Schweiz und einige kleinere Gebietsteile feststand, wurde damit auf einen zweiten europäischen Staat in seiner Gesamtheit übertragen. In weiterer Folge dieser Neutralität wurden durch die Verträge vom 15. November und 14. Dezember 1831 auch die belgischen Festungen be¬ stimmt, die geschleift werden sollten. Einst auf Grund der französischen Kriegskosten¬ entschädigung angelegt als Schutz gegen Frankreich, also doch auch im Interesse Deutschlands, fielen sie schon bald wieder der Vernichtung anheim. Dem französischen Interesse entsprach es natürlich durchaus, wenn die Festungen jenseit seiner Grenze verschwanden. Den anderen Mächten wurde die Schleifung einleuchtend gemacht durch die Tatsache, daß Belgien sie doch nicht verteidigen könne, und sie deshalb ohne weiteres Frankreich anheimfallen würden. Den Schutz des belgischen Gebietes sollte einzig die belgische Neutralität gewähren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/376>, abgerufen am 20.10.2024.