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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Lin "Europäischer Staatenbund"?

von einer ziemlich detaillierten Schilderung dessen, wie sich die Rechtsprechung,
-ausübung und -befolgung darin abwickeln soll. Besonders ein Punkt ist mir
dabei unklar, und damit komme ich auf eine dritte und letzte Voraussetzung
friedlichen menschlichen Zusammenlebens, deren Erfüllung in bezug auf den
"Europäischen Staatenbund" mir die größten Schwierigkeiten entgegenzustehen
scheinen.

Dieser Bund soll, wie es im zweiten Satze des Ausrufs heißt, "auf
Grundlage der Gleichberechtigung und inneren Selbständigkeit aller Teilstaaten"
gebildet werden. Ja, ist denn eine solche Gleichberechtigung denkbar, da sie
doch ihrerseits auf einer Gleichwertigkeit beruhen müßte? Ist, gemäß der
respektiven Bevölkerung, Rußland etwa ebenso viel wert wie England, Frankreich
und Deutschland zusammengenommen? Ich glaube nicht, daß es in Holland
oder irgendeinem anderen neutralen Lande jemanden gibt, der so "neutral"
wäre, daß er diese Frage bejahen würde. Oder: stellt irgendein Holländer
sein Vaterland auf etwa die gleiche Stufe wie das heutige Serbien und
Montenegro zusammen? Meinem Gefühl nach würde es, sagen wir, zehnmal
soviel wert sein und demgemäß im "Europäischen Staatenbund" etwa zehnmal
soviel Rechte erhalten müssen. Aber wie sollen solche Rechtsfragen erledigt
werden? -- Oder nehmen wir die Frage der Handelskonkurrenz zwischen
England und Deutschland. Soll das Ausland um des lieben Friedens willen
gezwungen werden, jenen beiden Staaten von allen Waren gleich viel abzu¬
kaufen, oder, gemäß der respektiven Bevölkerung, etwa 40 Prozent beziehungsweise
60 Prozent der Waren? Soll eine internationale Kommission die Güte der
englischen und deutschen Waren prüfen und danach die zu befolgenden Regeln
festsetzen, -- oder sollen die Deutschen sich verpflichten, etwas schlechtere Waren
herzustellen, damit die Engländer ihre Konkurrenz nicht mehr zu fürchten
brauchen? -- Soll ferner Nußland durch Zureden oder Zwang dahin gebracht
werden. Polen, Finnland, die Oftseeprovtnzen, Bessarabien, die Ukraine und
Kaukasien aufzugeben, weil doch die "innere Selbständigkeit" aller dieser Teil¬
staaten für sie selbst sowie für einige andere Staaten ebenso "wünschenswert"
wäre, wie sie für Rußland unerwünscht wäre? -- Vielleicht noch verwickelter
scheint mir die Frage der Kolonien zu sein. Ist deren "innere Selbständigkeit"
nicht auch wünschenswert? Und sind die Inder, Neger und Tataren nicht
auch "gleichberechtigt" mit den Engländern, Franzosen und Russen, da diese
sie doch zu Hilfe rufen und mit ihnen vereint kämpfen? -- Aber wenn diese
Fragen bejaht werden, so ergeben sich höchst sonderbare Konsequenzen, noch
sonderbarere, als wenn sie verneint werden.

Nehmen wir jedoch an, daß es dem Europäischen Staatenbund gelänge,
alle solche Fragen so zu erledigen, daß jeder Staat das ihm zukommende
"Recht" erhält. Dann gilt dies doch nur für einige Zeit. Nach hundert,
oder fünfzig oder noch weniger Jahren kann und wird sich das kulturelle und
politische Niveau einiger Staaten derart verändert haben, daß nun, was dem


Lin „Europäischer Staatenbund"?

von einer ziemlich detaillierten Schilderung dessen, wie sich die Rechtsprechung,
-ausübung und -befolgung darin abwickeln soll. Besonders ein Punkt ist mir
dabei unklar, und damit komme ich auf eine dritte und letzte Voraussetzung
friedlichen menschlichen Zusammenlebens, deren Erfüllung in bezug auf den
„Europäischen Staatenbund" mir die größten Schwierigkeiten entgegenzustehen
scheinen.

Dieser Bund soll, wie es im zweiten Satze des Ausrufs heißt, „auf
Grundlage der Gleichberechtigung und inneren Selbständigkeit aller Teilstaaten"
gebildet werden. Ja, ist denn eine solche Gleichberechtigung denkbar, da sie
doch ihrerseits auf einer Gleichwertigkeit beruhen müßte? Ist, gemäß der
respektiven Bevölkerung, Rußland etwa ebenso viel wert wie England, Frankreich
und Deutschland zusammengenommen? Ich glaube nicht, daß es in Holland
oder irgendeinem anderen neutralen Lande jemanden gibt, der so „neutral"
wäre, daß er diese Frage bejahen würde. Oder: stellt irgendein Holländer
sein Vaterland auf etwa die gleiche Stufe wie das heutige Serbien und
Montenegro zusammen? Meinem Gefühl nach würde es, sagen wir, zehnmal
soviel wert sein und demgemäß im „Europäischen Staatenbund" etwa zehnmal
soviel Rechte erhalten müssen. Aber wie sollen solche Rechtsfragen erledigt
werden? — Oder nehmen wir die Frage der Handelskonkurrenz zwischen
England und Deutschland. Soll das Ausland um des lieben Friedens willen
gezwungen werden, jenen beiden Staaten von allen Waren gleich viel abzu¬
kaufen, oder, gemäß der respektiven Bevölkerung, etwa 40 Prozent beziehungsweise
60 Prozent der Waren? Soll eine internationale Kommission die Güte der
englischen und deutschen Waren prüfen und danach die zu befolgenden Regeln
festsetzen, — oder sollen die Deutschen sich verpflichten, etwas schlechtere Waren
herzustellen, damit die Engländer ihre Konkurrenz nicht mehr zu fürchten
brauchen? — Soll ferner Nußland durch Zureden oder Zwang dahin gebracht
werden. Polen, Finnland, die Oftseeprovtnzen, Bessarabien, die Ukraine und
Kaukasien aufzugeben, weil doch die „innere Selbständigkeit" aller dieser Teil¬
staaten für sie selbst sowie für einige andere Staaten ebenso „wünschenswert"
wäre, wie sie für Rußland unerwünscht wäre? — Vielleicht noch verwickelter
scheint mir die Frage der Kolonien zu sein. Ist deren „innere Selbständigkeit"
nicht auch wünschenswert? Und sind die Inder, Neger und Tataren nicht
auch „gleichberechtigt" mit den Engländern, Franzosen und Russen, da diese
sie doch zu Hilfe rufen und mit ihnen vereint kämpfen? — Aber wenn diese
Fragen bejaht werden, so ergeben sich höchst sonderbare Konsequenzen, noch
sonderbarere, als wenn sie verneint werden.

Nehmen wir jedoch an, daß es dem Europäischen Staatenbund gelänge,
alle solche Fragen so zu erledigen, daß jeder Staat das ihm zukommende
„Recht" erhält. Dann gilt dies doch nur für einige Zeit. Nach hundert,
oder fünfzig oder noch weniger Jahren kann und wird sich das kulturelle und
politische Niveau einiger Staaten derart verändert haben, daß nun, was dem


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[0282] Lin „Europäischer Staatenbund"? von einer ziemlich detaillierten Schilderung dessen, wie sich die Rechtsprechung, -ausübung und -befolgung darin abwickeln soll. Besonders ein Punkt ist mir dabei unklar, und damit komme ich auf eine dritte und letzte Voraussetzung friedlichen menschlichen Zusammenlebens, deren Erfüllung in bezug auf den „Europäischen Staatenbund" mir die größten Schwierigkeiten entgegenzustehen scheinen. Dieser Bund soll, wie es im zweiten Satze des Ausrufs heißt, „auf Grundlage der Gleichberechtigung und inneren Selbständigkeit aller Teilstaaten" gebildet werden. Ja, ist denn eine solche Gleichberechtigung denkbar, da sie doch ihrerseits auf einer Gleichwertigkeit beruhen müßte? Ist, gemäß der respektiven Bevölkerung, Rußland etwa ebenso viel wert wie England, Frankreich und Deutschland zusammengenommen? Ich glaube nicht, daß es in Holland oder irgendeinem anderen neutralen Lande jemanden gibt, der so „neutral" wäre, daß er diese Frage bejahen würde. Oder: stellt irgendein Holländer sein Vaterland auf etwa die gleiche Stufe wie das heutige Serbien und Montenegro zusammen? Meinem Gefühl nach würde es, sagen wir, zehnmal soviel wert sein und demgemäß im „Europäischen Staatenbund" etwa zehnmal soviel Rechte erhalten müssen. Aber wie sollen solche Rechtsfragen erledigt werden? — Oder nehmen wir die Frage der Handelskonkurrenz zwischen England und Deutschland. Soll das Ausland um des lieben Friedens willen gezwungen werden, jenen beiden Staaten von allen Waren gleich viel abzu¬ kaufen, oder, gemäß der respektiven Bevölkerung, etwa 40 Prozent beziehungsweise 60 Prozent der Waren? Soll eine internationale Kommission die Güte der englischen und deutschen Waren prüfen und danach die zu befolgenden Regeln festsetzen, — oder sollen die Deutschen sich verpflichten, etwas schlechtere Waren herzustellen, damit die Engländer ihre Konkurrenz nicht mehr zu fürchten brauchen? — Soll ferner Nußland durch Zureden oder Zwang dahin gebracht werden. Polen, Finnland, die Oftseeprovtnzen, Bessarabien, die Ukraine und Kaukasien aufzugeben, weil doch die „innere Selbständigkeit" aller dieser Teil¬ staaten für sie selbst sowie für einige andere Staaten ebenso „wünschenswert" wäre, wie sie für Rußland unerwünscht wäre? — Vielleicht noch verwickelter scheint mir die Frage der Kolonien zu sein. Ist deren „innere Selbständigkeit" nicht auch wünschenswert? Und sind die Inder, Neger und Tataren nicht auch „gleichberechtigt" mit den Engländern, Franzosen und Russen, da diese sie doch zu Hilfe rufen und mit ihnen vereint kämpfen? — Aber wenn diese Fragen bejaht werden, so ergeben sich höchst sonderbare Konsequenzen, noch sonderbarere, als wenn sie verneint werden. Nehmen wir jedoch an, daß es dem Europäischen Staatenbund gelänge, alle solche Fragen so zu erledigen, daß jeder Staat das ihm zukommende „Recht" erhält. Dann gilt dies doch nur für einige Zeit. Nach hundert, oder fünfzig oder noch weniger Jahren kann und wird sich das kulturelle und politische Niveau einiger Staaten derart verändert haben, daß nun, was dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/282>, abgerufen am 20.10.2024.