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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Rcissenverhältnissc und die Rasscnpolitik Englands in Uebcrsee

nennen, sind durch Abgründe an geistiger und körperlicher Bildung vonein¬
ander geschieden; und. was diese unüberbrückbare Kluft nur vergrößert, ein
zweites, unendlich verästeltes System von Scheidungen sozialer und religiöser
Natur unterbindet außerdem noch jede mögliche nähere Berührung der Nassen,
der Völker und der Einzelpersonen aufs sorgfältigste. -- In der Tat muß das
Kastenwesen Indiens das große unaufgelöste Rechenexempel der indischen Kultur-
problematik genannt werden; und solange hier auch nur annähernd eine rassen"
und sozialpolitische Lösung nicht erreicht ist, kann von einer Beherrschung und
Entwicklung des braunen Weltteiles im Sinne der Gesittung und Bildung
Europas im Ernste nicht gesprochen werden. -- Mehr als dreitausend und
einige hundert Kasten hat man schon gezählt, deren jede an ihren eigenen
Sitten, Lehren, Gewerben, Gesetzen, Rechten und Bräuchen hängt, die sich von¬
einander in Abstammung, Wohnung, in Speisegeboten und Heiratsgebräuchen,
in Kleidung, Nahrung und Ritual nicht minder unterscheiden als in Ansichten,
Lebensgewohnheiten und Sprachausdrücken. . . Allein schon die vornehmste
dieser Kastengruppen, die der Brahmanen. umfaßt gegen 1800 besondere
Gruppen und Untergruppen, deren jede eine getrennte Welt sich zu erbauen
bestrebt ist, die mit geheimen starken Mauern gegen alle fremde, besonders aber
weiße Kultur sich abzuschließen bemüht ist.

Und merkwürdig, -- während den Engländern die Herrschaft über die
Leiber der Braunen leicht geworden ist, -- über diese geistigen Mauern der Hindu-
Gesittung und 'Bildung sind auch sie nicht um eines Haares Breite hinübergekommen.
Im Gegenteil: wenn etwa der wohlhabende Engländer Bombays sich in seinem
vornehmen "Nacht Club" oder den noch vornehmeren "Byculla Club" wo, wie er
sich rühmt, kein Farbiger Mitglied werden kann, und sei er ein Parsimillionär
oder ein autonomer Rajah selbst, hermetisch ein- und abschließt, was tut er
denn eigentlich anderes, als dem Systeme der tausend Kasten Indiens ein neues
Glied hinzufügen, als dem Rassen- und Kastenstolz eben jener Brahmanischen
Hindus nachahmen, die ihrerseits mit dem weißen "Scchib" dasselbe Brot nicht
teilen wollen noch dürfen, ohne nicht dadurch sogleich ihre Kaste zu verlieren
und sich selbst und den Stammesgenossen auf ewig verächtlich zu werden.

In der Tat, so vielfältig die Kasten Indiens, so streng bemessen hier
Grade, und so launenhaft im einzelnen Falle ihre Abgrenzungen gegeneinander
sein mögen, -- kein Kastengeist ist strenger, keine Scheidewand schroffer, als jene,
die den britischen Herrn von seinem dunkelfarbigen Diener trennt. Hier liegt
ein Abgrund, eine Kluft der wechselseitigen Bewertung und des Glaubens nicht
minder als der Hautfarben, die keine Militärgewalt übersehen darf und keine
zivile Verwaltungspolitik überbrücken kann. Bezeichnenderweise und mit vollem
Recht gestehen deshalb auch einsichtige Politiker, daß, "so oft auch die persön¬
lichen Beziehungen zwischen den britischen Beamten und ihren indischen Hilfs¬
kräften ausgezeichnet fein mögen, -- Beziehungen gegenseitiger Achtung und
Freundschaft, -- dennoch alle Versuche, diese Beziehungen aus dem offiziellen


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nennen, sind durch Abgründe an geistiger und körperlicher Bildung vonein¬
ander geschieden; und. was diese unüberbrückbare Kluft nur vergrößert, ein
zweites, unendlich verästeltes System von Scheidungen sozialer und religiöser
Natur unterbindet außerdem noch jede mögliche nähere Berührung der Nassen,
der Völker und der Einzelpersonen aufs sorgfältigste. — In der Tat muß das
Kastenwesen Indiens das große unaufgelöste Rechenexempel der indischen Kultur-
problematik genannt werden; und solange hier auch nur annähernd eine rassen»
und sozialpolitische Lösung nicht erreicht ist, kann von einer Beherrschung und
Entwicklung des braunen Weltteiles im Sinne der Gesittung und Bildung
Europas im Ernste nicht gesprochen werden. — Mehr als dreitausend und
einige hundert Kasten hat man schon gezählt, deren jede an ihren eigenen
Sitten, Lehren, Gewerben, Gesetzen, Rechten und Bräuchen hängt, die sich von¬
einander in Abstammung, Wohnung, in Speisegeboten und Heiratsgebräuchen,
in Kleidung, Nahrung und Ritual nicht minder unterscheiden als in Ansichten,
Lebensgewohnheiten und Sprachausdrücken. . . Allein schon die vornehmste
dieser Kastengruppen, die der Brahmanen. umfaßt gegen 1800 besondere
Gruppen und Untergruppen, deren jede eine getrennte Welt sich zu erbauen
bestrebt ist, die mit geheimen starken Mauern gegen alle fremde, besonders aber
weiße Kultur sich abzuschließen bemüht ist.

Und merkwürdig, — während den Engländern die Herrschaft über die
Leiber der Braunen leicht geworden ist, — über diese geistigen Mauern der Hindu-
Gesittung und 'Bildung sind auch sie nicht um eines Haares Breite hinübergekommen.
Im Gegenteil: wenn etwa der wohlhabende Engländer Bombays sich in seinem
vornehmen „Nacht Club" oder den noch vornehmeren „Byculla Club" wo, wie er
sich rühmt, kein Farbiger Mitglied werden kann, und sei er ein Parsimillionär
oder ein autonomer Rajah selbst, hermetisch ein- und abschließt, was tut er
denn eigentlich anderes, als dem Systeme der tausend Kasten Indiens ein neues
Glied hinzufügen, als dem Rassen- und Kastenstolz eben jener Brahmanischen
Hindus nachahmen, die ihrerseits mit dem weißen „Scchib" dasselbe Brot nicht
teilen wollen noch dürfen, ohne nicht dadurch sogleich ihre Kaste zu verlieren
und sich selbst und den Stammesgenossen auf ewig verächtlich zu werden.

In der Tat, so vielfältig die Kasten Indiens, so streng bemessen hier
Grade, und so launenhaft im einzelnen Falle ihre Abgrenzungen gegeneinander
sein mögen, — kein Kastengeist ist strenger, keine Scheidewand schroffer, als jene,
die den britischen Herrn von seinem dunkelfarbigen Diener trennt. Hier liegt
ein Abgrund, eine Kluft der wechselseitigen Bewertung und des Glaubens nicht
minder als der Hautfarben, die keine Militärgewalt übersehen darf und keine
zivile Verwaltungspolitik überbrücken kann. Bezeichnenderweise und mit vollem
Recht gestehen deshalb auch einsichtige Politiker, daß, „so oft auch die persön¬
lichen Beziehungen zwischen den britischen Beamten und ihren indischen Hilfs¬
kräften ausgezeichnet fein mögen, — Beziehungen gegenseitiger Achtung und
Freundschaft, — dennoch alle Versuche, diese Beziehungen aus dem offiziellen


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[0102] Rcissenverhältnissc und die Rasscnpolitik Englands in Uebcrsee nennen, sind durch Abgründe an geistiger und körperlicher Bildung vonein¬ ander geschieden; und. was diese unüberbrückbare Kluft nur vergrößert, ein zweites, unendlich verästeltes System von Scheidungen sozialer und religiöser Natur unterbindet außerdem noch jede mögliche nähere Berührung der Nassen, der Völker und der Einzelpersonen aufs sorgfältigste. — In der Tat muß das Kastenwesen Indiens das große unaufgelöste Rechenexempel der indischen Kultur- problematik genannt werden; und solange hier auch nur annähernd eine rassen» und sozialpolitische Lösung nicht erreicht ist, kann von einer Beherrschung und Entwicklung des braunen Weltteiles im Sinne der Gesittung und Bildung Europas im Ernste nicht gesprochen werden. — Mehr als dreitausend und einige hundert Kasten hat man schon gezählt, deren jede an ihren eigenen Sitten, Lehren, Gewerben, Gesetzen, Rechten und Bräuchen hängt, die sich von¬ einander in Abstammung, Wohnung, in Speisegeboten und Heiratsgebräuchen, in Kleidung, Nahrung und Ritual nicht minder unterscheiden als in Ansichten, Lebensgewohnheiten und Sprachausdrücken. . . Allein schon die vornehmste dieser Kastengruppen, die der Brahmanen. umfaßt gegen 1800 besondere Gruppen und Untergruppen, deren jede eine getrennte Welt sich zu erbauen bestrebt ist, die mit geheimen starken Mauern gegen alle fremde, besonders aber weiße Kultur sich abzuschließen bemüht ist. Und merkwürdig, — während den Engländern die Herrschaft über die Leiber der Braunen leicht geworden ist, — über diese geistigen Mauern der Hindu- Gesittung und 'Bildung sind auch sie nicht um eines Haares Breite hinübergekommen. Im Gegenteil: wenn etwa der wohlhabende Engländer Bombays sich in seinem vornehmen „Nacht Club" oder den noch vornehmeren „Byculla Club" wo, wie er sich rühmt, kein Farbiger Mitglied werden kann, und sei er ein Parsimillionär oder ein autonomer Rajah selbst, hermetisch ein- und abschließt, was tut er denn eigentlich anderes, als dem Systeme der tausend Kasten Indiens ein neues Glied hinzufügen, als dem Rassen- und Kastenstolz eben jener Brahmanischen Hindus nachahmen, die ihrerseits mit dem weißen „Scchib" dasselbe Brot nicht teilen wollen noch dürfen, ohne nicht dadurch sogleich ihre Kaste zu verlieren und sich selbst und den Stammesgenossen auf ewig verächtlich zu werden. In der Tat, so vielfältig die Kasten Indiens, so streng bemessen hier Grade, und so launenhaft im einzelnen Falle ihre Abgrenzungen gegeneinander sein mögen, — kein Kastengeist ist strenger, keine Scheidewand schroffer, als jene, die den britischen Herrn von seinem dunkelfarbigen Diener trennt. Hier liegt ein Abgrund, eine Kluft der wechselseitigen Bewertung und des Glaubens nicht minder als der Hautfarben, die keine Militärgewalt übersehen darf und keine zivile Verwaltungspolitik überbrücken kann. Bezeichnenderweise und mit vollem Recht gestehen deshalb auch einsichtige Politiker, daß, „so oft auch die persön¬ lichen Beziehungen zwischen den britischen Beamten und ihren indischen Hilfs¬ kräften ausgezeichnet fein mögen, — Beziehungen gegenseitiger Achtung und Freundschaft, — dennoch alle Versuche, diese Beziehungen aus dem offiziellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/102>, abgerufen am 20.10.2024.