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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das "baltische" Rußland

gebiete ein. Vier Gebiete (Moskau, Uralgebirge, das südliche Bergindustriegebiet
und das Weichselgebiet) nennt er "azonalische Gebiete", d. h. solche, deren
Bevölkerung in dem Charakter ihrer ökonomischen Tätigkeit vom Boden und
Klima unabhängig geworden ist. Die übrigen acht Gebiete nennt er "Zonalische",
d. h. solche, in denen die Zweige des Handels und der Industrie vorherrschen,
die vom Boden und Klima unmittelbar abhängig sind.

Das baltische Rußland umfaßt zunächst das zonale nordwestliche Acker¬
baugebiet, das wieder in verschiedene Regionen zerfällt. Dazu gehören die
Flachs- und Waldregionen von Livland, Pskow und Witebsk. die Ackerbau-
und Waldregion von Wilna, die Gewerbcregionen von Riga-Kurland, Estland,
sowie das Holzgewerbe am Peipussee. Von dem zonalen poljessischen Gebiet
entfällt die Ackerbau- und Waldregion des nördlichen Poljessien in das "baltische
Rußland". Das azonale Weichselgcbiet gehört vollständig dazu mit den Zucker¬
regionen des südöstlichen und nordwestlichen Polen, den Ackerbau- und Wald¬
regionen des nördlichen und nordöstlichen Polen sowie der Gegend von Brest-
Litowsk und schließlich der Bergbau- und Textilregion des gewerbfleißigen Süd¬
polen. Diese wirtschaftlichen Gebiete des "baltischen Rußland" werden vom
inneren Reiche mehr oder weniger scharf getrennt durch die Holzgewerberegion
der Poljesfie, die Flachsregionen um Smolensk und an der oberen Wolga und
die Handels- und Industriegebiete um Nowgorod und Se. Petersburg.

Würde man nun die Frage aufwerfen, ob das "baltische Rußland" ein
einheitliches Wirtschaftsgebiet darstellt, das vom übrigen Reiche abgesondert sich
selbständig gut weiter entwickeln könnte, so dürfte man sie wohl bejahen können.
Das "baltische Nußland" ist in vieler Beziehung wirtschaftlich viel fort¬
geschrittener als das Innere. Der Handel der Ostseeprovinzen und die blühende
Landwirtschaft des nördlichen Polen, die Bergbau- und Textilindustrie Süd¬
polens liefern dem Großrufsentum einen erheblichen Überschuß.

Man ersieht schon aus diesen wenigen Angaben, daß diese Grenzgebiete
des russischen Reiches auch wirtschaftlich eine Sonderstellung gegenüber dem
Inneren einnehmen, wie das ja auch kürzlich an dieser Stelle (Heft 47) in den
"Bemerkungen zur osteuropäischen Frage" zum Ausdruck kam. Wenn also das
russische Riesenreich einmal doch an den Schwierigkeiten seiner Verwaltung
und der großen Zahl der in ihm zusammengefaßten Nationalitäten zugrunde
gehen sollte, so wird neben den peripheren Gebieten Kaukasiers, der Ukraina
(vgl. G. Cleinow in Heft 45 der Grenzboten) und Finnland auch das "baltische
Rußland" als ein wirtschafts-geographisch zusammengehöriges Gebiet seine
besondere Berücksichtigung finden müssen.




Das „baltische" Rußland

gebiete ein. Vier Gebiete (Moskau, Uralgebirge, das südliche Bergindustriegebiet
und das Weichselgebiet) nennt er „azonalische Gebiete", d. h. solche, deren
Bevölkerung in dem Charakter ihrer ökonomischen Tätigkeit vom Boden und
Klima unabhängig geworden ist. Die übrigen acht Gebiete nennt er „Zonalische",
d. h. solche, in denen die Zweige des Handels und der Industrie vorherrschen,
die vom Boden und Klima unmittelbar abhängig sind.

Das baltische Rußland umfaßt zunächst das zonale nordwestliche Acker¬
baugebiet, das wieder in verschiedene Regionen zerfällt. Dazu gehören die
Flachs- und Waldregionen von Livland, Pskow und Witebsk. die Ackerbau-
und Waldregion von Wilna, die Gewerbcregionen von Riga-Kurland, Estland,
sowie das Holzgewerbe am Peipussee. Von dem zonalen poljessischen Gebiet
entfällt die Ackerbau- und Waldregion des nördlichen Poljessien in das „baltische
Rußland". Das azonale Weichselgcbiet gehört vollständig dazu mit den Zucker¬
regionen des südöstlichen und nordwestlichen Polen, den Ackerbau- und Wald¬
regionen des nördlichen und nordöstlichen Polen sowie der Gegend von Brest-
Litowsk und schließlich der Bergbau- und Textilregion des gewerbfleißigen Süd¬
polen. Diese wirtschaftlichen Gebiete des „baltischen Rußland" werden vom
inneren Reiche mehr oder weniger scharf getrennt durch die Holzgewerberegion
der Poljesfie, die Flachsregionen um Smolensk und an der oberen Wolga und
die Handels- und Industriegebiete um Nowgorod und Se. Petersburg.

Würde man nun die Frage aufwerfen, ob das „baltische Rußland" ein
einheitliches Wirtschaftsgebiet darstellt, das vom übrigen Reiche abgesondert sich
selbständig gut weiter entwickeln könnte, so dürfte man sie wohl bejahen können.
Das „baltische Nußland" ist in vieler Beziehung wirtschaftlich viel fort¬
geschrittener als das Innere. Der Handel der Ostseeprovinzen und die blühende
Landwirtschaft des nördlichen Polen, die Bergbau- und Textilindustrie Süd¬
polens liefern dem Großrufsentum einen erheblichen Überschuß.

Man ersieht schon aus diesen wenigen Angaben, daß diese Grenzgebiete
des russischen Reiches auch wirtschaftlich eine Sonderstellung gegenüber dem
Inneren einnehmen, wie das ja auch kürzlich an dieser Stelle (Heft 47) in den
„Bemerkungen zur osteuropäischen Frage" zum Ausdruck kam. Wenn also das
russische Riesenreich einmal doch an den Schwierigkeiten seiner Verwaltung
und der großen Zahl der in ihm zusammengefaßten Nationalitäten zugrunde
gehen sollte, so wird neben den peripheren Gebieten Kaukasiers, der Ukraina
(vgl. G. Cleinow in Heft 45 der Grenzboten) und Finnland auch das „baltische
Rußland" als ein wirtschafts-geographisch zusammengehöriges Gebiet seine
besondere Berücksichtigung finden müssen.




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[0348] Das „baltische" Rußland gebiete ein. Vier Gebiete (Moskau, Uralgebirge, das südliche Bergindustriegebiet und das Weichselgebiet) nennt er „azonalische Gebiete", d. h. solche, deren Bevölkerung in dem Charakter ihrer ökonomischen Tätigkeit vom Boden und Klima unabhängig geworden ist. Die übrigen acht Gebiete nennt er „Zonalische", d. h. solche, in denen die Zweige des Handels und der Industrie vorherrschen, die vom Boden und Klima unmittelbar abhängig sind. Das baltische Rußland umfaßt zunächst das zonale nordwestliche Acker¬ baugebiet, das wieder in verschiedene Regionen zerfällt. Dazu gehören die Flachs- und Waldregionen von Livland, Pskow und Witebsk. die Ackerbau- und Waldregion von Wilna, die Gewerbcregionen von Riga-Kurland, Estland, sowie das Holzgewerbe am Peipussee. Von dem zonalen poljessischen Gebiet entfällt die Ackerbau- und Waldregion des nördlichen Poljessien in das „baltische Rußland". Das azonale Weichselgcbiet gehört vollständig dazu mit den Zucker¬ regionen des südöstlichen und nordwestlichen Polen, den Ackerbau- und Wald¬ regionen des nördlichen und nordöstlichen Polen sowie der Gegend von Brest- Litowsk und schließlich der Bergbau- und Textilregion des gewerbfleißigen Süd¬ polen. Diese wirtschaftlichen Gebiete des „baltischen Rußland" werden vom inneren Reiche mehr oder weniger scharf getrennt durch die Holzgewerberegion der Poljesfie, die Flachsregionen um Smolensk und an der oberen Wolga und die Handels- und Industriegebiete um Nowgorod und Se. Petersburg. Würde man nun die Frage aufwerfen, ob das „baltische Rußland" ein einheitliches Wirtschaftsgebiet darstellt, das vom übrigen Reiche abgesondert sich selbständig gut weiter entwickeln könnte, so dürfte man sie wohl bejahen können. Das „baltische Nußland" ist in vieler Beziehung wirtschaftlich viel fort¬ geschrittener als das Innere. Der Handel der Ostseeprovinzen und die blühende Landwirtschaft des nördlichen Polen, die Bergbau- und Textilindustrie Süd¬ polens liefern dem Großrufsentum einen erheblichen Überschuß. Man ersieht schon aus diesen wenigen Angaben, daß diese Grenzgebiete des russischen Reiches auch wirtschaftlich eine Sonderstellung gegenüber dem Inneren einnehmen, wie das ja auch kürzlich an dieser Stelle (Heft 47) in den „Bemerkungen zur osteuropäischen Frage" zum Ausdruck kam. Wenn also das russische Riesenreich einmal doch an den Schwierigkeiten seiner Verwaltung und der großen Zahl der in ihm zusammengefaßten Nationalitäten zugrunde gehen sollte, so wird neben den peripheren Gebieten Kaukasiers, der Ukraina (vgl. G. Cleinow in Heft 45 der Grenzboten) und Finnland auch das „baltische Rußland" als ein wirtschafts-geographisch zusammengehöriges Gebiet seine besondere Berücksichtigung finden müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/348>, abgerufen am 22.07.2024.