Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.Das russische problein In Deutschland hat diese Auffassung im allgemeine" noch keinen Boden. Wir dürfen nämlich ein unsichtbar wirkendes Moment im Aufbau Rußlands Das europäische Rußland besteht wirtschaftsgeographisch aus drei völlig in Die Petersburger Negierung spekuliert dabei auf eine natürliche Habgier unge¬ Das russische problein In Deutschland hat diese Auffassung im allgemeine« noch keinen Boden. Wir dürfen nämlich ein unsichtbar wirkendes Moment im Aufbau Rußlands Das europäische Rußland besteht wirtschaftsgeographisch aus drei völlig in Die Petersburger Negierung spekuliert dabei auf eine natürliche Habgier unge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0302" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329530"/> <fw type="header" place="top"> Das russische problein</fw><lb/> <p xml:id="ID_1059"> In Deutschland hat diese Auffassung im allgemeine« noch keinen Boden.<lb/> Das große Publikum stellt sich, gestützt auf die Berichte der Presse über die<lb/> Deklamationen eines Blattes wie des Nowoje Wremja, das russische Volk in<lb/> einer gewaltigen nationalistischen Extase vor und übersieht, daß diese von<lb/> skrupelloser Drahtziehern angefacht, doch in erster Linie die innern Gründe für<lb/> den Kampf gegen alles Deutsche den Deutschen selbst verschleiern soll. Das<lb/> deutsche Publikum glaubt sich in Nußland einer gewaltigen nationalen Erhebung<lb/> der Moskowiter gegenüber und folgert daraus, daß von dieser Erhebung eine<lb/> entsprechende Gegenbewegung der unterjochten Völkerschaften ausgehen müsse,<lb/> und es werden allerhand äußere Gründe zur Erklärung dafür angeführt, daß<lb/> eine Erhebung nirgends erfolgte. In zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen wird<lb/> uns erzählt, die Finnländer, Polen, Ukrainer und Juden warteten nur auf die<lb/> Befreiung vom Joch der Moskowiter. In Wirklichkeit verhalten sich alle diese<lb/> Völker durchaus abwartend oder sie schließen sich, wie die meisten Polen,<lb/> offen der russischen Macht an. Das national-kulturelle Moment tritt für sie alle<lb/> zurück gegenüber dem wirtschaftspolitischen und sie werden sich durch Deutsch¬<lb/> land nur dann befreien lassen, wenn die wirtschaftliche Seite ihrer Zukunft zu<lb/> ihrer Zufriedenheit gelöst ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1060"> Wir dürfen nämlich ein unsichtbar wirkendes Moment im Aufbau Rußlands<lb/> Nicht unberücksichtigt lassen:</p><lb/> <p xml:id="ID_1061"> Das europäische Rußland besteht wirtschaftsgeographisch aus drei völlig in<lb/> sich abgeschlossenen und zu selbständiger Entwicklung befähigten Gebieten:<lb/> Moskowien (das Stromgebiet der Wolga), Südrußland (Ukraina, Strom¬<lb/> gebiet des Don, Dujepr und Dnjester) und das Nordwestgebiet (Polen, Litauen,<lb/> die baltischen Provinzen mit dem Anhängsel Finnland; die Stromgebiete der<lb/> Weichsel, des Njemen und der Dura). Diese drei Wirtschaftsgebiete werden<lb/> zusammengehalten durch eine großzügige, rücksichtslose Finanz- und Eisenbahn¬<lb/> politik, die, unter dem Namen des System Witte, von dem berühmten russischen<lb/> Finanzminister Wischnegradski ins Leben gerufen wurde, und die, alle natür-<lb/> lichen Elemente des Zusammenschlusses zerstörend, Hand in Hand geht mit<lb/> einer brutalen Unterdrückung der Selbstverwaltung, besonders in dem südlichen und<lb/> nordwestlichen Teil und die parallel 'geht mit einer an das Mittelalter erinnernden<lb/> Nationalitäten- und Glaubenspolitik gegen die den Süden und Nordwesten des<lb/> Reiches bewohnenden Deutschen, Juden, Ehlen, Letten, Finnen, Polen und Ukrainer.</p><lb/> <p xml:id="ID_1062"> Die Petersburger Negierung spekuliert dabei auf eine natürliche Habgier unge¬<lb/> bildeter Völker und hat sich darin nicht getäuscht: die national-kulturellen Elemente<lb/> sind neben den rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten so in den Hintergrund<lb/> getreten, daß die russische Negierung bei Kriegsausbruch eine nationale Erhebung<lb/> nirgends im Reich zu fürchten hatte, sich vielmehr höchstens vor sozialistischen<lb/> Angriffen hüten mußte. Wir hören infolgedessen wiederholt seit Beginn der<lb/> großen Mobilmachung in Rußland von Verhaftungen sozialistischer Politiker und<lb/> deren Verschickung ins Innere, nicht aber'rationalistischer.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0302]
Das russische problein
In Deutschland hat diese Auffassung im allgemeine« noch keinen Boden.
Das große Publikum stellt sich, gestützt auf die Berichte der Presse über die
Deklamationen eines Blattes wie des Nowoje Wremja, das russische Volk in
einer gewaltigen nationalistischen Extase vor und übersieht, daß diese von
skrupelloser Drahtziehern angefacht, doch in erster Linie die innern Gründe für
den Kampf gegen alles Deutsche den Deutschen selbst verschleiern soll. Das
deutsche Publikum glaubt sich in Nußland einer gewaltigen nationalen Erhebung
der Moskowiter gegenüber und folgert daraus, daß von dieser Erhebung eine
entsprechende Gegenbewegung der unterjochten Völkerschaften ausgehen müsse,
und es werden allerhand äußere Gründe zur Erklärung dafür angeführt, daß
eine Erhebung nirgends erfolgte. In zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen wird
uns erzählt, die Finnländer, Polen, Ukrainer und Juden warteten nur auf die
Befreiung vom Joch der Moskowiter. In Wirklichkeit verhalten sich alle diese
Völker durchaus abwartend oder sie schließen sich, wie die meisten Polen,
offen der russischen Macht an. Das national-kulturelle Moment tritt für sie alle
zurück gegenüber dem wirtschaftspolitischen und sie werden sich durch Deutsch¬
land nur dann befreien lassen, wenn die wirtschaftliche Seite ihrer Zukunft zu
ihrer Zufriedenheit gelöst ist.
Wir dürfen nämlich ein unsichtbar wirkendes Moment im Aufbau Rußlands
Nicht unberücksichtigt lassen:
Das europäische Rußland besteht wirtschaftsgeographisch aus drei völlig in
sich abgeschlossenen und zu selbständiger Entwicklung befähigten Gebieten:
Moskowien (das Stromgebiet der Wolga), Südrußland (Ukraina, Strom¬
gebiet des Don, Dujepr und Dnjester) und das Nordwestgebiet (Polen, Litauen,
die baltischen Provinzen mit dem Anhängsel Finnland; die Stromgebiete der
Weichsel, des Njemen und der Dura). Diese drei Wirtschaftsgebiete werden
zusammengehalten durch eine großzügige, rücksichtslose Finanz- und Eisenbahn¬
politik, die, unter dem Namen des System Witte, von dem berühmten russischen
Finanzminister Wischnegradski ins Leben gerufen wurde, und die, alle natür-
lichen Elemente des Zusammenschlusses zerstörend, Hand in Hand geht mit
einer brutalen Unterdrückung der Selbstverwaltung, besonders in dem südlichen und
nordwestlichen Teil und die parallel 'geht mit einer an das Mittelalter erinnernden
Nationalitäten- und Glaubenspolitik gegen die den Süden und Nordwesten des
Reiches bewohnenden Deutschen, Juden, Ehlen, Letten, Finnen, Polen und Ukrainer.
Die Petersburger Negierung spekuliert dabei auf eine natürliche Habgier unge¬
bildeter Völker und hat sich darin nicht getäuscht: die national-kulturellen Elemente
sind neben den rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten so in den Hintergrund
getreten, daß die russische Negierung bei Kriegsausbruch eine nationale Erhebung
nirgends im Reich zu fürchten hatte, sich vielmehr höchstens vor sozialistischen
Angriffen hüten mußte. Wir hören infolgedessen wiederholt seit Beginn der
großen Mobilmachung in Rußland von Verhaftungen sozialistischer Politiker und
deren Verschickung ins Innere, nicht aber'rationalistischer.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |