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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Franz Liszt

die Stelle epischer Erzählung vertreten (Hirtenspiel, Seesturm, Anbetung der
drei Heiligen im "Christus", Kreuzrittermarsch, Trauermustk, Sturm in der
"Heiligen Elisabeth"). Auf eine Hauptstütze des protestantischen Oratoriums,
auf den Choral, mußte Liszt, der Katholik, natürlich verzichten, dafür lehnt er
sich an die Formen des Ritus seiner Kirche an. Allerdings stellen die alter¬
tümlichen Melodien der katholischen Liturgie, die besonders im "Christus" stark
verwendet sind, eine gewaltige Anforderung an die Aufnahmefähigkeit des
Hörers, zumal sie neben ganz modernen Teilen zu stehen kommen, und darum
wird das populärste seiner kirchlichen Gesangwerke die "Heilige Elisabeth"
bleiben, deren farbenreiche Musik dem Empfinden weiterer Kreise ohne Zweifel
nähersteht, als der Christus mit seinen fremdartig berührenden gregorianischen
Melodien. Indes, auch hier finden sich Sätze, die selbst den der kirchlichen
Kunst Fernerstehenden ergreifen müssen, wie die "Seligpreisungen" und "die
Gründung der Kirche" mit dem rührend-schönen zweiten Teil "Linon ^oannis,
(ZillZCZ ins?". Wer unbefangen von dogmatischen Meinungen urteilt, wird
in diesem Oratorium das würdigste Seitenstück zu Bachs "Matthäuspasston"
erkennen, eine erhabene Verkörperung der Christusidee, erhebend für jeden, ob
Protestant oder Katholik, sofern er überhaupt religiöser Erhebung fähig ist.

Das Streben nach Wahrheit des musikalischen Ausdrucks, dem wir in Liszts
Schaffen überall begegnen, finden wir auch in seinen Liedern, in denen die
Grundlinien der modernen Liedkomposition mit schärfster Deutlichkeit gezogen
sind: völliges Aufgehen der Musik in der Dichtung, wodurch der Klavier¬
begleitung von selbst eine ganz andere Aufgabe zuteil wird. Wenn Liszts Lieder
so wenig verbreitet sind, so liegt das nicht sowohl an seinem Kosmopolitentum*),
denn die Lieder sind größtenteils deutsche Gedichte und von deutschmusikalischem
Gefühlsinhalt erfüllt, als vielmehr an dem erstaunlichen Mangel an Abwechslungs¬
bedürfnis seitens des musikalischen Publikums, das "singende Deutschland" erst
recht mit eingerechnet; freilich kommen dabei die unleugbaren Schwierigkeiten
des Vortrags auch in Frage. Bezüglich seiner Orchesterwerke hat Liszt einmal
stolz-bescheiden gesagt: "Ich kann warten!" -- um, vielleicht kommt auch für
feine Lieder einmal die Zeit.

Am Schlüsse einer Darstellung, die, wenn auch nur in flüchtiger Skizze,
ein Bild von dem Leben und Schaffen unseres Meisters entwerfen sollte, muß
der Vollständigkeit halber auch seiner reichen schriftstellerischen Tätigkeit gedacht
werden. Die auffallende Erscheinung, daß Musiker über ihre Kunst zu schreiben
beginnen, ist eins der besonderen Kennzeichen des Zeitalters der Romantik und
hängt aufs engste zusammen mit der Beziehung, in die Tonkunst und Dichtung
mit Beginn dieser Periode zueinander treten**): E. Th. A. Hoffmann und
C. M. von Weber sind die ersten musikalischen Literaten, namentlich Hoffmann




-) Wie Lamprecht zu meinen scheint. ("Deutsche Geschichte", Erster Ergänzungsband,
Seite 37.)
*-) Näheres darüber siehe Lamprecht, "Deutsche Geschichte" X.
Franz Liszt

die Stelle epischer Erzählung vertreten (Hirtenspiel, Seesturm, Anbetung der
drei Heiligen im „Christus", Kreuzrittermarsch, Trauermustk, Sturm in der
„Heiligen Elisabeth"). Auf eine Hauptstütze des protestantischen Oratoriums,
auf den Choral, mußte Liszt, der Katholik, natürlich verzichten, dafür lehnt er
sich an die Formen des Ritus seiner Kirche an. Allerdings stellen die alter¬
tümlichen Melodien der katholischen Liturgie, die besonders im „Christus" stark
verwendet sind, eine gewaltige Anforderung an die Aufnahmefähigkeit des
Hörers, zumal sie neben ganz modernen Teilen zu stehen kommen, und darum
wird das populärste seiner kirchlichen Gesangwerke die „Heilige Elisabeth"
bleiben, deren farbenreiche Musik dem Empfinden weiterer Kreise ohne Zweifel
nähersteht, als der Christus mit seinen fremdartig berührenden gregorianischen
Melodien. Indes, auch hier finden sich Sätze, die selbst den der kirchlichen
Kunst Fernerstehenden ergreifen müssen, wie die „Seligpreisungen" und „die
Gründung der Kirche" mit dem rührend-schönen zweiten Teil „Linon ^oannis,
(ZillZCZ ins?". Wer unbefangen von dogmatischen Meinungen urteilt, wird
in diesem Oratorium das würdigste Seitenstück zu Bachs „Matthäuspasston"
erkennen, eine erhabene Verkörperung der Christusidee, erhebend für jeden, ob
Protestant oder Katholik, sofern er überhaupt religiöser Erhebung fähig ist.

Das Streben nach Wahrheit des musikalischen Ausdrucks, dem wir in Liszts
Schaffen überall begegnen, finden wir auch in seinen Liedern, in denen die
Grundlinien der modernen Liedkomposition mit schärfster Deutlichkeit gezogen
sind: völliges Aufgehen der Musik in der Dichtung, wodurch der Klavier¬
begleitung von selbst eine ganz andere Aufgabe zuteil wird. Wenn Liszts Lieder
so wenig verbreitet sind, so liegt das nicht sowohl an seinem Kosmopolitentum*),
denn die Lieder sind größtenteils deutsche Gedichte und von deutschmusikalischem
Gefühlsinhalt erfüllt, als vielmehr an dem erstaunlichen Mangel an Abwechslungs¬
bedürfnis seitens des musikalischen Publikums, das „singende Deutschland" erst
recht mit eingerechnet; freilich kommen dabei die unleugbaren Schwierigkeiten
des Vortrags auch in Frage. Bezüglich seiner Orchesterwerke hat Liszt einmal
stolz-bescheiden gesagt: „Ich kann warten!" — um, vielleicht kommt auch für
feine Lieder einmal die Zeit.

Am Schlüsse einer Darstellung, die, wenn auch nur in flüchtiger Skizze,
ein Bild von dem Leben und Schaffen unseres Meisters entwerfen sollte, muß
der Vollständigkeit halber auch seiner reichen schriftstellerischen Tätigkeit gedacht
werden. Die auffallende Erscheinung, daß Musiker über ihre Kunst zu schreiben
beginnen, ist eins der besonderen Kennzeichen des Zeitalters der Romantik und
hängt aufs engste zusammen mit der Beziehung, in die Tonkunst und Dichtung
mit Beginn dieser Periode zueinander treten**): E. Th. A. Hoffmann und
C. M. von Weber sind die ersten musikalischen Literaten, namentlich Hoffmann




-) Wie Lamprecht zu meinen scheint. („Deutsche Geschichte", Erster Ergänzungsband,
Seite 37.)
*-) Näheres darüber siehe Lamprecht, „Deutsche Geschichte" X.
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[0042] Franz Liszt die Stelle epischer Erzählung vertreten (Hirtenspiel, Seesturm, Anbetung der drei Heiligen im „Christus", Kreuzrittermarsch, Trauermustk, Sturm in der „Heiligen Elisabeth"). Auf eine Hauptstütze des protestantischen Oratoriums, auf den Choral, mußte Liszt, der Katholik, natürlich verzichten, dafür lehnt er sich an die Formen des Ritus seiner Kirche an. Allerdings stellen die alter¬ tümlichen Melodien der katholischen Liturgie, die besonders im „Christus" stark verwendet sind, eine gewaltige Anforderung an die Aufnahmefähigkeit des Hörers, zumal sie neben ganz modernen Teilen zu stehen kommen, und darum wird das populärste seiner kirchlichen Gesangwerke die „Heilige Elisabeth" bleiben, deren farbenreiche Musik dem Empfinden weiterer Kreise ohne Zweifel nähersteht, als der Christus mit seinen fremdartig berührenden gregorianischen Melodien. Indes, auch hier finden sich Sätze, die selbst den der kirchlichen Kunst Fernerstehenden ergreifen müssen, wie die „Seligpreisungen" und „die Gründung der Kirche" mit dem rührend-schönen zweiten Teil „Linon ^oannis, (ZillZCZ ins?". Wer unbefangen von dogmatischen Meinungen urteilt, wird in diesem Oratorium das würdigste Seitenstück zu Bachs „Matthäuspasston" erkennen, eine erhabene Verkörperung der Christusidee, erhebend für jeden, ob Protestant oder Katholik, sofern er überhaupt religiöser Erhebung fähig ist. Das Streben nach Wahrheit des musikalischen Ausdrucks, dem wir in Liszts Schaffen überall begegnen, finden wir auch in seinen Liedern, in denen die Grundlinien der modernen Liedkomposition mit schärfster Deutlichkeit gezogen sind: völliges Aufgehen der Musik in der Dichtung, wodurch der Klavier¬ begleitung von selbst eine ganz andere Aufgabe zuteil wird. Wenn Liszts Lieder so wenig verbreitet sind, so liegt das nicht sowohl an seinem Kosmopolitentum*), denn die Lieder sind größtenteils deutsche Gedichte und von deutschmusikalischem Gefühlsinhalt erfüllt, als vielmehr an dem erstaunlichen Mangel an Abwechslungs¬ bedürfnis seitens des musikalischen Publikums, das „singende Deutschland" erst recht mit eingerechnet; freilich kommen dabei die unleugbaren Schwierigkeiten des Vortrags auch in Frage. Bezüglich seiner Orchesterwerke hat Liszt einmal stolz-bescheiden gesagt: „Ich kann warten!" — um, vielleicht kommt auch für feine Lieder einmal die Zeit. Am Schlüsse einer Darstellung, die, wenn auch nur in flüchtiger Skizze, ein Bild von dem Leben und Schaffen unseres Meisters entwerfen sollte, muß der Vollständigkeit halber auch seiner reichen schriftstellerischen Tätigkeit gedacht werden. Die auffallende Erscheinung, daß Musiker über ihre Kunst zu schreiben beginnen, ist eins der besonderen Kennzeichen des Zeitalters der Romantik und hängt aufs engste zusammen mit der Beziehung, in die Tonkunst und Dichtung mit Beginn dieser Periode zueinander treten**): E. Th. A. Hoffmann und C. M. von Weber sind die ersten musikalischen Literaten, namentlich Hoffmann -) Wie Lamprecht zu meinen scheint. („Deutsche Geschichte", Erster Ergänzungsband, Seite 37.) *-) Näheres darüber siehe Lamprecht, „Deutsche Geschichte" X.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/42>, abgerufen am 22.12.2024.