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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das slawische Rulturproblem

der Name des tschechischen Volkes sagt schon, daß es unternehmend ist. "Leck"
wird vom Zeitwort ce--ti, altslawisch certi, abgeleitet, kroatisch findet es sich
in Zusammensetzungen wie poLeti (beginnen), naceti (anschreiben . . . ); also
ein Volk, das beginnt, das vorschreitet, das Initiative hat. Wichtiger ist die
historische Begründung. Die Geschichte findet den tschechischen Stamm an der
Spitze aller slawischen Stämme, die sich nach dem Westen zu ansiedeln. Der
Tscheche war der erste, der den Kampf gegen Rom begann, der Tscheche verläßt
auch heute sein Vaterland und schlägt sich durch die Welt, er ist voll Unter¬
nehmungsgeist. Aber der Tscheche hat einen großen Fehler, er ist nicht beständig,
nicht ausdauernd. Er flammt leicht auf, aber erlischt rasch. Deshalb gelang
auch die tschechische Reformation nicht, weil es dem Tschechen an Ausdauer
gebrach; was er begonnen hatte, führte der Deutsche durch. Hus wurde von
Luther beerbt und zum Ziele geführt.

Die ganze Philosophie der Geschichte dreht sich bei den Tschechen um ihre
Reformation, sie ist der moralische Motor ihres gesamten geistigen Lebens.
Dies hat O. Josifek wunderschön ausgedrückt. Er hält die protestantischen
Völker für überlegen und bedauert, daß das tschechische Volk nicht mächtig
genug war, die Reformation durchzuführen und in den Katholizismus zurück¬
fiel. Die Reformation bedeutet ihm: Disziplin, Organisation, Verfassung,
Handeln nach Grundsätzen.

Bei uns Kroaten hat sich die Meinung eingenistet, daß die Tschechen von
Natur aus ein Handwerker- und Handelsvolk sind, daß der wirtschaftliche Sinn
bei ihnen von altersher entwickelt war. Dem ist aber nicht so. Die ganze
tschechische Betriebs- und Erwerbsamkeit ist aus dem Drang der Not und nicht
aus freier Wahl hervorgegangen; sie entstand aus Abwehr und nicht aus dem
Trieb nach "mehr". Aber diese Wehr wird durch unablässiges Anspornen der
Führer des Volkes erhalten. Fällt die nationale tschechische Idee, so wird auch
die tschechische Industrie und Handelstätigkeit, das ganze tschechische Wirtschafts¬
leben, werden Fleiß und Ehrgeiz sinken. So ist der Tscheche.

Einige Slawophilen schließen das tschechische Volk seiner Organisiertheit
und Produktivität halber aus der Reihe der echten Slawen aus. Einige russische
Ethnologen erkennen die Tschechen nicht als Slawen an. Ein Danilewski sieht
in den Tschechen ein entstelltes Volkstum, er nennt sie Deutsche, die tschechisch
sprechen. In Rußland stieß ich bei Fachleuten. Slawisten, die sich in Böhmen
mit slawistischen Studien befaßt hatten, oft auf diese Meinung. Einige Kroaten
teilen diese Auffassung. Stefan Radin stellte uns den Tschechen als wirtschaft¬
lichen Typus dar, während der geistige Typus ihm entging. Dem fernstehenden
Beobachter entgeht es, daß die Grundlage des böhmischen Reichtums gerade
in der Religion der böhmischen Brüder zu suchen ist. Die tschechischen
Protestanten wurden zur Zeit der katholischen Reaktion des Landbesitzes beraubt
und auf tschechischen Boden als Fremdlinge angesehen. Am Handel der Städte
durften sie sich nicht beteiligen, das brachte sie dazu, im Handwerk ihr Brot zu


Das slawische Rulturproblem

der Name des tschechischen Volkes sagt schon, daß es unternehmend ist. „Leck"
wird vom Zeitwort ce—ti, altslawisch certi, abgeleitet, kroatisch findet es sich
in Zusammensetzungen wie poLeti (beginnen), naceti (anschreiben . . . ); also
ein Volk, das beginnt, das vorschreitet, das Initiative hat. Wichtiger ist die
historische Begründung. Die Geschichte findet den tschechischen Stamm an der
Spitze aller slawischen Stämme, die sich nach dem Westen zu ansiedeln. Der
Tscheche war der erste, der den Kampf gegen Rom begann, der Tscheche verläßt
auch heute sein Vaterland und schlägt sich durch die Welt, er ist voll Unter¬
nehmungsgeist. Aber der Tscheche hat einen großen Fehler, er ist nicht beständig,
nicht ausdauernd. Er flammt leicht auf, aber erlischt rasch. Deshalb gelang
auch die tschechische Reformation nicht, weil es dem Tschechen an Ausdauer
gebrach; was er begonnen hatte, führte der Deutsche durch. Hus wurde von
Luther beerbt und zum Ziele geführt.

Die ganze Philosophie der Geschichte dreht sich bei den Tschechen um ihre
Reformation, sie ist der moralische Motor ihres gesamten geistigen Lebens.
Dies hat O. Josifek wunderschön ausgedrückt. Er hält die protestantischen
Völker für überlegen und bedauert, daß das tschechische Volk nicht mächtig
genug war, die Reformation durchzuführen und in den Katholizismus zurück¬
fiel. Die Reformation bedeutet ihm: Disziplin, Organisation, Verfassung,
Handeln nach Grundsätzen.

Bei uns Kroaten hat sich die Meinung eingenistet, daß die Tschechen von
Natur aus ein Handwerker- und Handelsvolk sind, daß der wirtschaftliche Sinn
bei ihnen von altersher entwickelt war. Dem ist aber nicht so. Die ganze
tschechische Betriebs- und Erwerbsamkeit ist aus dem Drang der Not und nicht
aus freier Wahl hervorgegangen; sie entstand aus Abwehr und nicht aus dem
Trieb nach „mehr". Aber diese Wehr wird durch unablässiges Anspornen der
Führer des Volkes erhalten. Fällt die nationale tschechische Idee, so wird auch
die tschechische Industrie und Handelstätigkeit, das ganze tschechische Wirtschafts¬
leben, werden Fleiß und Ehrgeiz sinken. So ist der Tscheche.

Einige Slawophilen schließen das tschechische Volk seiner Organisiertheit
und Produktivität halber aus der Reihe der echten Slawen aus. Einige russische
Ethnologen erkennen die Tschechen nicht als Slawen an. Ein Danilewski sieht
in den Tschechen ein entstelltes Volkstum, er nennt sie Deutsche, die tschechisch
sprechen. In Rußland stieß ich bei Fachleuten. Slawisten, die sich in Böhmen
mit slawistischen Studien befaßt hatten, oft auf diese Meinung. Einige Kroaten
teilen diese Auffassung. Stefan Radin stellte uns den Tschechen als wirtschaft¬
lichen Typus dar, während der geistige Typus ihm entging. Dem fernstehenden
Beobachter entgeht es, daß die Grundlage des böhmischen Reichtums gerade
in der Religion der böhmischen Brüder zu suchen ist. Die tschechischen
Protestanten wurden zur Zeit der katholischen Reaktion des Landbesitzes beraubt
und auf tschechischen Boden als Fremdlinge angesehen. Am Handel der Städte
durften sie sich nicht beteiligen, das brachte sie dazu, im Handwerk ihr Brot zu


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[0401] Das slawische Rulturproblem der Name des tschechischen Volkes sagt schon, daß es unternehmend ist. „Leck" wird vom Zeitwort ce—ti, altslawisch certi, abgeleitet, kroatisch findet es sich in Zusammensetzungen wie poLeti (beginnen), naceti (anschreiben . . . ); also ein Volk, das beginnt, das vorschreitet, das Initiative hat. Wichtiger ist die historische Begründung. Die Geschichte findet den tschechischen Stamm an der Spitze aller slawischen Stämme, die sich nach dem Westen zu ansiedeln. Der Tscheche war der erste, der den Kampf gegen Rom begann, der Tscheche verläßt auch heute sein Vaterland und schlägt sich durch die Welt, er ist voll Unter¬ nehmungsgeist. Aber der Tscheche hat einen großen Fehler, er ist nicht beständig, nicht ausdauernd. Er flammt leicht auf, aber erlischt rasch. Deshalb gelang auch die tschechische Reformation nicht, weil es dem Tschechen an Ausdauer gebrach; was er begonnen hatte, führte der Deutsche durch. Hus wurde von Luther beerbt und zum Ziele geführt. Die ganze Philosophie der Geschichte dreht sich bei den Tschechen um ihre Reformation, sie ist der moralische Motor ihres gesamten geistigen Lebens. Dies hat O. Josifek wunderschön ausgedrückt. Er hält die protestantischen Völker für überlegen und bedauert, daß das tschechische Volk nicht mächtig genug war, die Reformation durchzuführen und in den Katholizismus zurück¬ fiel. Die Reformation bedeutet ihm: Disziplin, Organisation, Verfassung, Handeln nach Grundsätzen. Bei uns Kroaten hat sich die Meinung eingenistet, daß die Tschechen von Natur aus ein Handwerker- und Handelsvolk sind, daß der wirtschaftliche Sinn bei ihnen von altersher entwickelt war. Dem ist aber nicht so. Die ganze tschechische Betriebs- und Erwerbsamkeit ist aus dem Drang der Not und nicht aus freier Wahl hervorgegangen; sie entstand aus Abwehr und nicht aus dem Trieb nach „mehr". Aber diese Wehr wird durch unablässiges Anspornen der Führer des Volkes erhalten. Fällt die nationale tschechische Idee, so wird auch die tschechische Industrie und Handelstätigkeit, das ganze tschechische Wirtschafts¬ leben, werden Fleiß und Ehrgeiz sinken. So ist der Tscheche. Einige Slawophilen schließen das tschechische Volk seiner Organisiertheit und Produktivität halber aus der Reihe der echten Slawen aus. Einige russische Ethnologen erkennen die Tschechen nicht als Slawen an. Ein Danilewski sieht in den Tschechen ein entstelltes Volkstum, er nennt sie Deutsche, die tschechisch sprechen. In Rußland stieß ich bei Fachleuten. Slawisten, die sich in Böhmen mit slawistischen Studien befaßt hatten, oft auf diese Meinung. Einige Kroaten teilen diese Auffassung. Stefan Radin stellte uns den Tschechen als wirtschaft¬ lichen Typus dar, während der geistige Typus ihm entging. Dem fernstehenden Beobachter entgeht es, daß die Grundlage des böhmischen Reichtums gerade in der Religion der böhmischen Brüder zu suchen ist. Die tschechischen Protestanten wurden zur Zeit der katholischen Reaktion des Landbesitzes beraubt und auf tschechischen Boden als Fremdlinge angesehen. Am Handel der Städte durften sie sich nicht beteiligen, das brachte sie dazu, im Handwerk ihr Brot zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/401>, abgerufen am 22.12.2024.