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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die russische Armee als Gegner

Befehl unter den obwaltenden Umständen ausführbar ist oder nicht, wie bei der
Befehlserteilung etwaigen Reibungen vorzubeugen sei usw." Vermehrte Ver¬
wendung der Generalstabsoffiziere im Truppendienst wurde allgemein für not¬
wendig erachtet.

Aus dem Rechenschaftsbericht Kuropatkins geht mit unzweifelhafter Deutlich¬
keit hervor, daß eine Armee, die auf der Grundlage der allgemeinen Wehr¬
pflicht ruht, wenn sie im Kriege Großes vollbringen soll, getragen werden muß
von der allgemeinen Volksstimmung. Der General schreibt: "Beim Zusammen¬
stoß zweier Völker kommen die materiellen Machtmittel nicht in gleichem Maße
in Betracht wie die seelischen Kräfte. Wo der Geist in Volk und Heer sich
überlegen zeigt, wo die Vaterlandsliebe sich opfermutiger offenbart, dort ist die
größere Wahrscheinlichkeit des Sieges." Daß sie hier bei den Japanern war,
betont der rassische Feldherr an vielen Stellen seines Rechenschaftsberichts, wie
er nicht minder hervorhebt, warum der Krieg im Fernen Osten in Rußland
nicht volkstümlich sein konnte. Man sah ihn dort an, wie anderswo ein ver¬
fehltes koloniales Unternehmen. In Heer und Volk wurde das Mißgeschick der
russischen Waffen durchaus nicht mit jener brennenden Scham empfunden, wie
sie bei jedem echten Preußen noch heute der Tag von Jena, bei den Franzosen
der von Sedan hervorruft.

Ist in einer Wehrpflichtarmee die Übereinstimmung von Volk und Heer in
ihrem Empfinden unerläßlich, und gilt daher das von Kurovatlin Gesagte heute sür
alle Nationen, so kann man aus seinen Ausführungen und aus dem Verlauf
des Krieges doch den Schluß ziehen, daß Nußland für die allgemeine Wehr¬
pflicht nicht reif war, als der Krieg gegen Japan ausbrach, und berechtigte
Zweifel hegen, ob diese Einrichtung ihm jemals frommen wird. Die angestellten
geschichtlichen Betrachtungen ergaben, daß gar zu viele Bedingungen, die einst
die Tüchtigkeit russischer Truppen ausmachten, in der zweiten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts nicht mehr bestanden, nicht mehr bestehen konnten. Wohl
trat auch in Ostasien beim russischen Soldaten gelegentlich die Art seiner Väter
zutage, so im nächtlichen Gemetzel, das sich um den Besitz der Nowgorod- und
Putilow^ Kuppe entspann und das am Schlüsse der Schaho-Schlacht dem alt¬
berühmten russischen Bajonett noch einmal einen Erfolg brachte.

Im übrigen aber trifft zu, was ein fremder Beobachter übereinstimmend
mit Kurovatlin sagt: "Trotz mancher guter, passiver Eigenschaften ist der Russe
einstweilen für den modernen Jnfanteriekampf kein gutes Material, weil es ihm
an den vorbedingenden Charaktereigenschaften für die Entwicklung offensiven
Geistes und selbständiger Naturen fehlt. Ob sich diese Eigenschaften überhaupt
entwickeln lassen, muß die Zeit lehren."

Vorerst hat der Krieg in der Mandschurei bewiesen, daß alle großen
Worte, wie sie der Russe in seiner schönen, klangvollen und bilderreichen Sprache
anzuwenden liebt, nicht imstande sind, über die Tatsache hinwegzutäuschen, daß
der Offensivgeist der russischen Armee nicht eigentümlich ist. Es kann nicht


Die russische Armee als Gegner

Befehl unter den obwaltenden Umständen ausführbar ist oder nicht, wie bei der
Befehlserteilung etwaigen Reibungen vorzubeugen sei usw." Vermehrte Ver¬
wendung der Generalstabsoffiziere im Truppendienst wurde allgemein für not¬
wendig erachtet.

Aus dem Rechenschaftsbericht Kuropatkins geht mit unzweifelhafter Deutlich¬
keit hervor, daß eine Armee, die auf der Grundlage der allgemeinen Wehr¬
pflicht ruht, wenn sie im Kriege Großes vollbringen soll, getragen werden muß
von der allgemeinen Volksstimmung. Der General schreibt: „Beim Zusammen¬
stoß zweier Völker kommen die materiellen Machtmittel nicht in gleichem Maße
in Betracht wie die seelischen Kräfte. Wo der Geist in Volk und Heer sich
überlegen zeigt, wo die Vaterlandsliebe sich opfermutiger offenbart, dort ist die
größere Wahrscheinlichkeit des Sieges." Daß sie hier bei den Japanern war,
betont der rassische Feldherr an vielen Stellen seines Rechenschaftsberichts, wie
er nicht minder hervorhebt, warum der Krieg im Fernen Osten in Rußland
nicht volkstümlich sein konnte. Man sah ihn dort an, wie anderswo ein ver¬
fehltes koloniales Unternehmen. In Heer und Volk wurde das Mißgeschick der
russischen Waffen durchaus nicht mit jener brennenden Scham empfunden, wie
sie bei jedem echten Preußen noch heute der Tag von Jena, bei den Franzosen
der von Sedan hervorruft.

Ist in einer Wehrpflichtarmee die Übereinstimmung von Volk und Heer in
ihrem Empfinden unerläßlich, und gilt daher das von Kurovatlin Gesagte heute sür
alle Nationen, so kann man aus seinen Ausführungen und aus dem Verlauf
des Krieges doch den Schluß ziehen, daß Nußland für die allgemeine Wehr¬
pflicht nicht reif war, als der Krieg gegen Japan ausbrach, und berechtigte
Zweifel hegen, ob diese Einrichtung ihm jemals frommen wird. Die angestellten
geschichtlichen Betrachtungen ergaben, daß gar zu viele Bedingungen, die einst
die Tüchtigkeit russischer Truppen ausmachten, in der zweiten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts nicht mehr bestanden, nicht mehr bestehen konnten. Wohl
trat auch in Ostasien beim russischen Soldaten gelegentlich die Art seiner Väter
zutage, so im nächtlichen Gemetzel, das sich um den Besitz der Nowgorod- und
Putilow^ Kuppe entspann und das am Schlüsse der Schaho-Schlacht dem alt¬
berühmten russischen Bajonett noch einmal einen Erfolg brachte.

Im übrigen aber trifft zu, was ein fremder Beobachter übereinstimmend
mit Kurovatlin sagt: „Trotz mancher guter, passiver Eigenschaften ist der Russe
einstweilen für den modernen Jnfanteriekampf kein gutes Material, weil es ihm
an den vorbedingenden Charaktereigenschaften für die Entwicklung offensiven
Geistes und selbständiger Naturen fehlt. Ob sich diese Eigenschaften überhaupt
entwickeln lassen, muß die Zeit lehren."

Vorerst hat der Krieg in der Mandschurei bewiesen, daß alle großen
Worte, wie sie der Russe in seiner schönen, klangvollen und bilderreichen Sprache
anzuwenden liebt, nicht imstande sind, über die Tatsache hinwegzutäuschen, daß
der Offensivgeist der russischen Armee nicht eigentümlich ist. Es kann nicht


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[0318] Die russische Armee als Gegner Befehl unter den obwaltenden Umständen ausführbar ist oder nicht, wie bei der Befehlserteilung etwaigen Reibungen vorzubeugen sei usw." Vermehrte Ver¬ wendung der Generalstabsoffiziere im Truppendienst wurde allgemein für not¬ wendig erachtet. Aus dem Rechenschaftsbericht Kuropatkins geht mit unzweifelhafter Deutlich¬ keit hervor, daß eine Armee, die auf der Grundlage der allgemeinen Wehr¬ pflicht ruht, wenn sie im Kriege Großes vollbringen soll, getragen werden muß von der allgemeinen Volksstimmung. Der General schreibt: „Beim Zusammen¬ stoß zweier Völker kommen die materiellen Machtmittel nicht in gleichem Maße in Betracht wie die seelischen Kräfte. Wo der Geist in Volk und Heer sich überlegen zeigt, wo die Vaterlandsliebe sich opfermutiger offenbart, dort ist die größere Wahrscheinlichkeit des Sieges." Daß sie hier bei den Japanern war, betont der rassische Feldherr an vielen Stellen seines Rechenschaftsberichts, wie er nicht minder hervorhebt, warum der Krieg im Fernen Osten in Rußland nicht volkstümlich sein konnte. Man sah ihn dort an, wie anderswo ein ver¬ fehltes koloniales Unternehmen. In Heer und Volk wurde das Mißgeschick der russischen Waffen durchaus nicht mit jener brennenden Scham empfunden, wie sie bei jedem echten Preußen noch heute der Tag von Jena, bei den Franzosen der von Sedan hervorruft. Ist in einer Wehrpflichtarmee die Übereinstimmung von Volk und Heer in ihrem Empfinden unerläßlich, und gilt daher das von Kurovatlin Gesagte heute sür alle Nationen, so kann man aus seinen Ausführungen und aus dem Verlauf des Krieges doch den Schluß ziehen, daß Nußland für die allgemeine Wehr¬ pflicht nicht reif war, als der Krieg gegen Japan ausbrach, und berechtigte Zweifel hegen, ob diese Einrichtung ihm jemals frommen wird. Die angestellten geschichtlichen Betrachtungen ergaben, daß gar zu viele Bedingungen, die einst die Tüchtigkeit russischer Truppen ausmachten, in der zweiten Hälfte des neun¬ zehnten Jahrhunderts nicht mehr bestanden, nicht mehr bestehen konnten. Wohl trat auch in Ostasien beim russischen Soldaten gelegentlich die Art seiner Väter zutage, so im nächtlichen Gemetzel, das sich um den Besitz der Nowgorod- und Putilow^ Kuppe entspann und das am Schlüsse der Schaho-Schlacht dem alt¬ berühmten russischen Bajonett noch einmal einen Erfolg brachte. Im übrigen aber trifft zu, was ein fremder Beobachter übereinstimmend mit Kurovatlin sagt: „Trotz mancher guter, passiver Eigenschaften ist der Russe einstweilen für den modernen Jnfanteriekampf kein gutes Material, weil es ihm an den vorbedingenden Charaktereigenschaften für die Entwicklung offensiven Geistes und selbständiger Naturen fehlt. Ob sich diese Eigenschaften überhaupt entwickeln lassen, muß die Zeit lehren." Vorerst hat der Krieg in der Mandschurei bewiesen, daß alle großen Worte, wie sie der Russe in seiner schönen, klangvollen und bilderreichen Sprache anzuwenden liebt, nicht imstande sind, über die Tatsache hinwegzutäuschen, daß der Offensivgeist der russischen Armee nicht eigentümlich ist. Es kann nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/318>, abgerufen am 27.07.2024.